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Full text of "Sämtliche Romane und Novellen;"

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АУТ Ее Nomame und Novellen 
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Schuld und Sühne 


Ein Roman in ſechs Teilen 
mit einem Nachwort 


von 


F. M. Doſtojewſki 


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11.9.9 


Zweiter Band 


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Im Inſel⸗Verlag zu Leipzig 


Vierter Teil 
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tt das wirklich noch eine Fortſetzung des Traumes?“ dachte 
Raſkolnikow noch einmal. 

Mißtrauiſch und argwoͤhniſch betrachtete er den unerwarteten 

Beſucher. 

„Swidrigailow? So ein Unſinn! Das iſt ja gar nicht möglich !* 
ſagte er endlich laut in verſtaͤndnisloſem Staunen. 

Der Beſucher ſchien ſich uͤber dieſen Ausruf gar nicht weiter 
zu wundern. 

„Zwei Veranlaſſungen führen mich zu Ihnen; erſtens wuͤnſchte 
ich Ihre perſoͤnliche Bekanntſchaft zu machen, da ich ſchon {ей 
laͤngerer Zeit uͤber Sie viel Intereſſantes und ſehr Empfehlen— 
des gehoͤrt habe; und zweitens gebe ich mich der Hoffnung hin, 
daß Sie vielleicht nicht abgeneigt ſein duͤrften, mir bei einem 


7 


Vorhaben behilflich zu fein, das in erfter Linie das Intereſſe 


Ihrer Schweſter Awdotja Romanowna beruͤhrt. Wenn ich allein, 
ohne Empfehlung, zu ihr ginge, ſo wuͤrde ſie infolge der vor— 
gefaßten Meinung, die ſie uͤber mich hegt, mich vielleicht uͤber— 
haupt nicht empfangen; mit Ihrer Hilfe dagegen rechne ich 
darauf ...“ 

„Da rechnen Sie falſch,“ unterbrach ihn Raſkolnikow. 

„Geſtatten Sie die Frage: die Damen ſind erſt geſtern an— 
gekommen?“ 

Raſkolnikow antwortete nicht. 

„Ich weiß es, daß ſie geſtern gekommen ſind; ich ſelbſt bin ſeit 
vorgeſtern hier. Nun, was ſoll ich mit Ihnen uͤber das Vor— 
gefallene lange reden, Rodion Romanowitſch; mich zu recht— 
fertigen, halte ich für überflüffig; erlauben Sie mir nur die Bes 
merkung: was habe ich denn eigentlich bei der ganzen Sache ſo 


> 


Vierter Teil 429 


beſonders Schlimmes verbrochen, wenn man es vorurteilsfrei 
und vernuͤnftig uͤberlegt?“ 

Raſkolnikow fuhr fort, ihn ſchweigend anzubliden. 

„Daß ich in meinem Hauſe ein ſchutzloſes Maͤdchen verfolgt 
und fie ‚mit ehrloſen Antraͤgen beleidigt‘ habe, nicht wahr? Sie 
ſehen, ich komme Ihnen entgegen und formuliere den Vorwurf 
ſelbſt. Aber ziehen Sie doch nur in Betracht, daß auch ich ein 
Menſch bin, et nihil humanum . . „ kurz, daß auch ich für Reize 
nicht unempfindlich bin, daß ich imſtande bin, mich zu verlieben 
(was ſich ja doch gewiß ohne unſern Willen vollzieht); dann er— 
klaͤrt ſich alles auf ganz natürliche Weiſe. Die ganze Frage lautet 
ſo: Bin ich ein Scheuſal, oder bin ich ſelbſt ein Opfer? Nun, und 
wie, wenn ich ſelbſt ein Opfer waͤre? Indem ich der Dame, die 
den Gegenſtand meiner Leidenſchaft bildete, den Vorſchlag 
machte, mit mir nach Amerika oder der Schweiz zu fliehen, hegte 
ich doch wohl dabei die allerehrerbietigſten Gefuͤhle und dachte 
unſer beiderſeitiges Gluͤck zu ſchaffen! ... Die Vernunft iſt ja eine 
Sklavin der Leidenſchaft, und ich habe mir ſelbſt mehr geſchadet 
als ſonſt jemandem; das ſollten Sie doch bedenken!“ 

„Darum handelt es ſich gar nicht,“ unterbrach ihn Raſkolnikow 
mit unverhohlenem Abſcheu. „Sie ſind mir einfach widerwaͤrtig, 
moͤgen Sie nun ſchuldig oder unſchuldig ſein. Darum will ich 
mit Ihnen nichts zu tun haben und weiſe Ihnen die Tuͤr, und 
nun machen Sie, daß Sie hinauskommen!“ 

Swidrigailow lachte auf. 

„Nein, aber Sie find einer .. . Sie kann man nicht uͤber— 
rumpeln!“ ſagte er herzlich lachend. „Ich hatte es recht ſchlau 
anfangen wollen; aber nein, Sie haben gleich von vornherein 
den richtigen Standpunkt eingenommen!“ 

„Sie ſetzen ja auch noch in dieſem Augenblicke Ihr ſchlaues 
Verfahren fort.“ 


430 Schuld und Suͤhne 


„Warum auch nicht? Warum auch nicht?“ erwiderte Swidri— 
gailow, ungeniert lachend. „Das iſt ja, was man bonne guerre 
nennt, und eine durchaus erlaubte Schlauheit! ... Aber Sie 
haben mich unterbrochen: wie dem auch immer war, ich kann 
nur wiederholen: es wären keinerlei Unannehmlichkeiten ent: 
ſtanden, wenn nicht die Szene im Garten paſſiert waͤre. Marfa 
Petrowna ...“ 

„Marfa Petrowna haben Sie, wie es heißt, auch umgebracht?“ 
unterbrach ihn Raſkolnikow in grobem Tone. 

„Auch davon haben Sie gehoͤrt? Wie ſollten Sie es uͤbrigens 
auch nicht gehört haben ... Nun, was dieſe Ihre Frage ап: 
langt, ſo weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen erwidern ſoll, 
obwohl mein eigenes Gewiſſen in dieſer Beziehung abſolut ruhig 
iſt. Das heißt, Sie brauchen nicht etwa zu denken, daß ich da 
noch irgendwelche aͤußeren Unannehmlichkeiten zu befürchten 
haͤtte; es iſt alles durchaus ordnungsmaͤßig und mit peinlicher 
Genauigkeit erledigt worden; die aͤrztliche Unterſuchung kon— 
ſtatierte einen Schlagfluß, herbeigefuͤhrt durch das Baden un— 
mittelbar nach einem reichlichen Mittageſſen, bei dem ſie faſt 
eine ganze Flaſche Wein ausgetrunken hatte; weiter konnte die 
Unterſuchung nichts konſtatieren ... Nein, aber es hat mich da 
ein anderer Gedanke eine Weile beſchaͤftigt, beſonders jetzt unter⸗ 
wegs, als ich auf der Eiſenbahn ſaß: ob ich nicht zu dieſem ... Un: 
fall dadurch mit beigetragen habe, daß ich ihr eine ſeeliſche Auf— 
regung bereitete, oder ſonſtwie in dieſer Art. Aber ich bin zu dem 
Reſultate gekommen, daß auch dies ſchlechterdings unmoͤglich iſt.“ 

Raſkolnikow lachte. „Wunderliche Skrupel!“ ſagte er. 

„Woruͤber lachen Sie denn? Überlegen Sie ſich das einmal: 
ich habe ihr nur zwei Schlaͤge mit der Reitpeitſche verſetzt, und 
es waren nicht einmal Spuren davon zu ſehen ... Bitte, halten 
Sie mich nicht fuͤr einen rohen Patron; ich weiß ſehr wohl, wie 


* 


3 


Vierter Teil 431 


ſchaͤndlich das von meiner Seite war, na und ſo weiter; aber ich 
weiß auch ganz beſtimmt, daß Marfa Petrowna gewiſſermaßen 
ſogar froh daruͤber war, daß ich mich ſozuſagen einmal gehen 
ließ. Die Geſchichte mit Ihrer Schweſter hatte ſie derart kol— 
portiert, daß das Intereſſe des Publikums daran voͤllig erſchoͤpft 
war. Nun mußte Marfa Petrowna ſchon ſeit zwei Tagen zu 
Hauſe ſitzen; ſie hatte nichts, womit ſie in dem Staͤdtchen haͤtte 
auftreten koͤnnen; mit ihrem Briefe (daß ſie den Brief uͤberall 
vorgeleſen hat, haben Sie wohl gehoͤrt?) war ſie da allen ſchon 
zum Ekel geworden. Da kamen ihr dieſe zwei Peitſchenhiebe wie 
ein Geſchenk des Himmels! Das erſte, was ſie tat, war, daß ſie 
den Wagen anſpannen ließ . . . Ich will gar nicht einmal davon 
reden, daß bei den Frauen Faͤlle vorkommen, wo es ihnen hoͤchſt 
angenehm iſt, beleidigt zu ſein, trotz aller aͤußerlichen Entruͤſtung. 
Derartige Faͤlle kommen uͤbrigens bei allen Menſchen vor; der 
Menſch liebt es uͤberhaupt ſehr, beleidigt zu ſein; haben Sie das 
nicht auch ſchon beobachtet? Aber bei den Frauen iſt das be— 
ſonders haͤufig. Man kann geradezu ſagen, es iſt fuͤr ſie eine Art 
Zeitvertreib.“ 

Eine Zeitlang hatte Raſkolnikow ſchon die Abſicht gehabt, auf: 
zuſtehen und hinauszugehen und dadurch dieſem Beſuche ein 
Ende zu machen. Aber eine gewiſſe Neugier und ſogar etwas 
wie Berechnung hielt ihn davon zuruͤck. 

„Es macht Ihnen wohl Vergnuͤgen, jemand zu pruͤgeln?“ fragte 
er ihn zerſtreut. 

„Beſonderes Vergnuͤgen gerade nicht,“ antwortete Swidrigai— 
low ruhig. „Und meine Frau habe ich faſt nie gepruͤgelt. Wir 
lebten ſehr eintraͤchtig, und ſie war mit mir immer zufrieden. 
Die Peitſche habe ich während unſerer ganzen fiebenjährigen Ehe 
nur zweimal in Gebrauch genommen (wenn ich einen dritten 

Fall nicht mitrechne, bei dem eine ſehr verſchiedene Auffaſſung 


432 Schuld und Suͤhne 


moͤglich iſt), das erſtemal zwei Monate nach unſerer Hochzeit, 
gleich nach unſerer Ankunft auf dem Gute, und dann dieſer jetzige, 
letzte Fall. Und Sie hatten wohl ſchon gedacht, ich waͤre ſo ein 
Ungeheuer, ein Reaktionaͤr, ein Verteidiger der Leibeigenſchaft? 
Ha⸗ ha⸗ha! ... Apropos: erinnern Sie ſich nicht, Nodion No: 
manowitſch, wie vor einigen Jahren bei uns uͤber einen Edel— 
mann, — ich habe ſeinen Namen vergeſſen, — der eine Deutſche 
im Eiſenbahncoupe geprügelt hatte, in der geſamten Preſſe aufs 
aͤrgſte geſchimpft wurde? Erinnern Sie ſich? Na, meine Mei— 
nung daruͤber iſt die: fuͤr den Herrn, der dieſe Deutſche durch— 
gehauen hat, hege ich keine tiefe Sympathie; denn das war ja 
in der Tat ... wie kann man da mit ihm ſympathiſieren! Aber 
dabei kann ich doch eine Bemerkung nicht unterdruͤcken: es kom— 
men manchmal deutſche Frauenzimmer vor, die einem ſo die 
Galle erregen, daß meiner Anſicht nach ſelbſt ein Vertreter der 
modernen Ideen fuͤr ſeine Selbſtbeherrſchung nicht einſtehen 
kann. Von dieſem Standpunkte aus hat damals niemand die 
Sache betrachtet, und dabei iſt dies doch der wahrhaft humane 
Standpunkt, ganz zweifellos!“ 

Nach dieſen Worten lachte Swidrigailow von neuem auf. Raſ— 
kolnikow war ſich ganz klar daruͤber, daß er da einen Menſchen 
vor ſich hatte, der irgendein Ziel feſt ins Auge gefaßt hatte und 
nun mit aller Energie darauf losging. 

„Sie haben ſich gewiß ſeit mehreren Tagen mit niemand unter— 
halten?“ fragte er. 

„Das ſtimmt ſo ungefaͤhr. Wieſo? Sie wundern ſich wohl, daß 
ich ſo viel rede?“ 

„Nein, ich wundere mich daruͤber, daß Sie zu viel reden.“ 

„Sie meinen, ich ſollte mich durch Ihre unhoͤflichen Bemer— 
kungen gekraͤnkt fuͤhlen und das Geſpraͤch abbrechen, nicht wahr? 
За... warum ſollte ich mich gekraͤnkt fühlen? Wir dienen uns 


Vierter Teil 433 


ja wechſelſeitig mit gleicher Münze!” fügte er mit erſtaunlich 
gutherziger Miene hinzu. „Ich habe eigentlich ſo gut wie nichts, 
was mein Intereſſe beſonders in Anſpruch naͤhme, wahrhaftig,“ 
fuhr er wie in Gedanken fort; „namentlich jetzt habe ich gar 
keine Beſchaͤftigung ... Übrigens mögen Sie meinetwegen ruhig 
denken, daß ich mich in beſtimmter Abſicht bei Ihnen ein— 
ſchmeicheln moͤchte, um ſo mehr, da ich ein Anliegen an Ihre 
Schweſter habe, wie ich Ihnen ſchon ſelbſt erklaͤrte. Aber ich 
ſage Ihnen ganz aufrichtig: ich langweile mich graͤßlich, nament— 
lich dieſe letzten drei Tage, ſo daß ich mich ordentlich auf Ihre 
Bekanntſchaft gefreut Бабе... Nehmen Sie es mir nicht übel, 
Rodion Romanowitſch, aber Sie felbft kommen mir außerordent— 
lich ſonderbar vor, ohne daß ich mir uͤber dieſen Eindruck Rechen— 
ſchaft geben koͤnnte. Mit Ihrer Erlaubnis, aber Sie haben irgend 
etwas, und zwar gerade jetzt; ich meine nicht ſpeziell in dieſem 
Augenblicke, ſondern in weiterem Sinne jetzt ... Nun, nun, ich 
bin ja ſchon ſtill, bin ja ſchon ſtill, machen Sie nur nicht gleich 
ein ſo finſteres Geſicht! Ich bin ja gar nicht ſo ein ungebildeter 
Baͤr, wie Sie denken.“ 

Raſkolnikow ſah ihn finſter an. 

„Ein ungebildeter Bär find Sie wohl überhaupt nicht,“ ers 
widerte er. „Es ſcheint mir ſogar, daß Sie zur guten Geſellſchaft 
gehoͤren oder wenigſtens verſtehen, gelegentlich auch einmal ein 
ordentlicher Menſch zu ſein.“ 

„Ich kuͤmmere mich herzlich wenig um anderer Leute Meinung 
über mich," antwortete Swidrigailow trocken und ſogar mit einem 
Beiklange von Hochmut. „Warum ſoll man nicht auch manchmal 
gemein ſein, da doch die Gemeinheit ein fuͤr unſer Klima ſo vor— 
trefflich geeignetes Koſtuͤm Ш, und ... und namentlich, wenn 
man uͤberdies eine natuͤrliche Neigung dazu beſitzt,“ fuͤgte er 
hinzu und lachte wieder. 

XIX. ав. 


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434 Schuld und Suͤhne 


„Ich habe aber doch gehoͤrt, daß Sie hier viele Bekannte haben, 
was man fo ‚gute Konnexionen' nennt. Warum ſuchen Sie denn 
unter dieſen Umſtaͤnden mich auf, wenn Sie nicht etwa beſtimmte 
Abſichten haben?“ 

„Sie haben ganz recht, ich habe hier allerdings Bekannte,“ 
antwortete Swidrigailow, ohne auf den Hauptpunkt einzugehen, 
„ich bin auch ſchon manchem begegnet; ich treibe mich ja ſchon 
ſeit vorgeſtern hier umher; ich ſelbſt erkenne ſie wieder, und ſie 
mich wohl auch. Natuͤrlich, ich bin eben anſtaͤndig gekleidet und 
gelte als wohlſituierter Mann; uns hat ja die Aufhebung der 
Leibeigenſchaft nicht ſchwer betroffen: wir haben viel Wald und 
Überſchwemmungswieſen, dieſe Einnahmen gehen uns nicht ver— 
loren. Aber ich mache meinen ehemaligen Bekannten keine Зе: 
ſuche; ich war auch ſchon fruͤher ihrer uͤberdruͤſſig geworden; ich 
gehe nun ſchon den dritten Tag ſo umher und gebe mich keinem 
zu erkennen . .. Und was iſt das hier für eine Stadt! Ich meine, 
wie hat ſie ſich entwickelt, nun ſagen Sie bloß! Eine Stadt der 
Bureaus und aller nur denkbaren Bildungsanſtalten! Wahr: 
haftig, ich habe vieles hier fruͤher nicht beachtet, als ich mich vor 
acht Jahren in der Stadt umhertrieb .. . Jetzt hoffe ich nur 
noch auf die Anatomie, weiß Gott!“ 

„Wieſo auf die Anatomie?“ 

„Aber was dieſe Klubs und dieſe franzoͤſiſchen Reſtaurants 
und die ganze moderne Richtung anlangt,“ fuhr er, wieder ohne 
die Frage zu beachten, fort, „ſo koͤnnen mir die geſtohlen werden. 
Und Falſchſpieler zu ſein, da iſt auch nicht viel Spaß dabei!“ 

„Sind Sie denn auch Falſchſpieler geweſen?“ 

„Gewiß, das war ein Ding der Notwendigkeit. Wir waren 
eine ganze Geſellſchaft vor acht Jahren, eine hoͤchſt anſtaͤndige 
Geſellſchaft; damit fuͤllten wir unſere Zeit aus; und wiſſen Sie, 
es waren ſaͤmtlich Leute mit guten Manieren, auch Dichter waren 


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Vierter Teil 435 


darunter und Kapitaliften. Überhaupt findet man bei uns, in 
der ruſſiſchen Geſellſchaft, die beſten Manieren bei denen, die 
ſchon manchmal Pruͤgel bekommen haben, — haben Sie das nicht 
auch beobachtet? Ich bin ja nun auf dem Lande jetzt etwas ver— 
wildert. Und doch hatte ich damals ſchon ins Schuldgefaͤngnis 
wandern muͤſſen; ein ſchaͤbiges Subjekt aus Njeſchin, ein Grieche, 
hatte mich einſperren laſſen. Da erſchien plotzlich Marfa Фе: 
trowna als rettender Engel, handelte mit dem Glaͤubiger hin 
und her und kaufte mich fuͤr dreißigtauſend Rubel los (im ganzen 
war ich ſiebzigtauſend ſchuldig). Ich ging mit ihr eine geſetzliche 
Ehe ein, und ſie nahm mich ſogleich mit ſich fort auf ihr Gut, 
wie einen erbeuteten Schatz. Sie war ja fuͤnf Jahre aͤlter als 
ich und furchtbar in mich verliebt. Sieben Jahre lang bin ich 
nicht vom Dorfe weggekommen. Und denken Sie ſich, die ganze 
Zeit uͤber hielt ſie einen Schuldſchein uͤber die dreißigtauſend 
Rubel, den ich ihr auf einen fremden Namen hatte ausſtellen 
muͤſſen, als Waffe gegen mich im Hintergrunde bereit; damit 
hielt fie mich in ihrer Gewalt, fo daß, wenn ich mir hätte bei: 
kommen laſſen, gegen ſie in irgendeiner Hinſicht zu revoltieren, 
ſie mich ſofort einſperren laſſen konnte! Und ſie haͤtte es getan! 
Bei den Weibern wohnen Liebe und Haß dicht beieinander.“ 

„Wenn der Schuldſchein nicht geweſen waͤre, haͤtten Sie ſich 
wohl laͤngſt davongemacht?“ 

„Das iſt eine ſchwer zu beantwortende Frage. Dieſer Schuld— 
ſchein genierte mich ſo gut wie gar nicht. Es zog mich eigentlich 
nirgends hin; Marfa Petrowna regte mich ſelbſt ein paarmal 
dazu an, ins Ausland zu reiſen, weil ſie ſah, daß ich mich lang— 
weilte. Aber was ſollte ich da? Im Auslande war ich auch fruͤher 
ſchon geweſen; aber ich hatte mich da nie recht wohlfuͤhlen koͤnnen. 
Na ja, es iſt ja ganz ſchoͤn; aber ſehen Sie, da erſcheint die Abend: 
roͤte, und da iſt der Golf von Neapel und das Meer, man ſieht 


436 Schuld und Suͤhne 


das an, und es ſtimmt einen bloß ſchwermuͤtig und traurig. Und 
ſolche Schwermuͤtigkeit und Traurigkeit iſt das Allerwider— 
waͤrtigſte! Nein, in der Heimat iſt es doch beſſer: hier kann man 
wenigſtens bei allem, was einem mißfaͤllt, andern die Schuld 
beimeſſen und ſich ſelbſt von Schuld freiſprechen. Ich braͤchte es 
jetzt vielleicht fertig, mich an einer Nordpolexpedition zu be— 
teiligen; denn j'ai le vin mauvais, und das Trinken iſt mir zu: 
wider; aber die Spirituoſen ſind das einzige, was mir jetzt noch 
uͤbrigbleibt. Einen Verſuch habe ich ja auch mit dem Trinken 
gemacht. Aber wie iſt das? Ich hoͤre, der Luftſchiffer Berg wuͤrde 
naͤchſten Sonntag im Juſupow-Garten mit einem rieſigen Ballon 
aufſteigen und lade zur Teilnahme an der Fahrt gegen eine be— 
ſtimmte Bezahlung ein; iſt das richtig?“ 

„Wollen Sie etwa mitfahren?“ 

„Ich? Nein, ... ich frage nur ſo ...“ murmelte Swidrigailow; 
er ſchien ſich wirklich ſeinen Gedanken hinzugeben. 

„Was hat denn der Menſch nur eigentlich?“ dachte Raskolnikow. 

„Nein, der Schuldſchein genierte mich nicht,“ fuhr Swidrigai— 
low wie in Gedanken fort. „Es war mein eigener Wille, daß 
ich auf dem Gute blieb. Auch iſt es jetzt etwa ein Jahr her, daß 
Marfa Petrowna mir an meinem Namenstage dieſen Schuld: 
ſchein zuruͤckgab und mir noch obendrein eine erkleckliche Summe 
ſchenkte. Sie beſaß ein bedeutendes Vermoͤgen., Sie ſehen, wie 
ich Ihnen vertraue, Arkadi Iwanowitſch,“ fo ſagte fie dabei, 
wahrhaftig. Sie glauben wohl nicht, daß ſie das geſagt hat? 
Aber, wiſſen Sie, ich bin da auf dem Gute ein ganz tuͤchtiger 
Landwirt geworden; in der ganzen Nachbarſchaft bin ich dafuͤr 
bekannt. Ich ließ mir auch Buͤcher kommen. Anfangs war Marfa 
Petrowna ſehr damit einverſtanden; aber ſpaͤter fuͤrchtete ſie 
immer, ich koͤnnte mir durch das viele Studieren ſchaden.“ 

„Sie graͤmen ſich wohl ſehr um Marfa Petrowna?“ 


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Vierter Teil 437 


„Ich? Kann fein. Wirklich, kann fein. Apropos, glauben Sie 
an Geiſter?“ 

„An was fuͤr Geiſter?“ 

„An gewoͤhnliche Geiſter; was iſt da zu fragen?“ 

„Glauben Sie denn daran?“ 

„Ra, meinetwegen will ich nein ſagen, pour vous plaire . 
Aber eigentlich tu ich's doch ...“ 

„Erſcheinen Ihnen denn Geiſter?“ 

Swidrigailow ſah ihn mit ſonderbarem Blicke an. 

„Marfa Petrowna beſucht mich,“ erwiderte er und verzog den 
Mund zu einem eigentuͤmlichen Laͤcheln. 

„Wie meinen Sie das mit dem Beſuchen?“ 

„Nun, ſie iſt ſchon dreimal zu mir gekommen. Das erſtemal 
ſah ich ſie am Begraͤbnistage ſelbſt, eine Stunde nach meiner 
Ruͤckkehr vom Kirchhofe. Das war am Tage vor meiner Abreiſe 
hierher. Das zweite mal vorgeſtern, unterwegs, in der Morgen: 
daͤmmerung, auf der Station Malaja Wiſchera; und das dritte— 
mal vor zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich logiere, im 
Zimmer; ich war allein darin.“ 

„Waren Sie denn wach?“ 

„Voͤllig wach. Alle drei Mal war ich wach. Sie kommt, ſpricht 
ein kleines Weilchen mit mir und geht dann durch die Tuͤr hinaus; 
immer durch die Tuͤr. Es kommt mir ſogar vor, als ob ich es 
hoͤrte.“ 

„Woher ich bloß von vornherein gleich auf den Gedanken ge— 
kommen bin, daß mit Ihnen ſicher etwas in dieſer Art los ſein 
muͤſſe!“ ſagte Raſkolnikow plotzlich und wunderte ſich in dem: 
ſelben Augenblicke daruͤber, daß er es geſagt hatte. Er war in 


heftiger Aufregung. 


„Nun ſehen Sie mal an! Alſo Sie haben ſich das gedacht?“ 
fragte Swidrigailow erſtaunt. „Iſt es moͤglich? Na, habe ich 


438 Schuld und Sühne 


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nicht gleich geſagt, daß eine gewiſſe ſeeliſche Verwandtſchaft 
zwiſchen uns beſteht?“ 

„Das haben Sie niemals geſagt!“ entgegnete Raſkolnikow in 
ſcharfem, zornigem Tone. 

„Habe ich es nicht geſagt?“ 

„Nein!“ 

„Es war mir doch ſo, als haͤtte ich es geſagt. Als ich vorhin 
hereinkam und ſah, daß Sie mit geſchloſſenen Augen dalagen 
und ſich ſchlafend ſtellten, da ſagte ich mir: Das iſt der Richtige!“ 

„Wieſo: der Richtige? Inwiefern?“ rief Raſkolnikow. 

„Inwiefern? Ja, inwiefern, das weiß ich wahrhaftig nicht...“, 
murmelte Swidrigailow offenherzig und anſcheinend in wirk— 
licher Verlegenheit. 

Eine Weile ſchwiegen ſie; beide blickten einander ſcharf an. 

„Das iſt ja alles dummes Zeug!“ rief Raſkolnikow aͤrgerlich. 
„Was ſagt ſie denn zu Ihnen, wenn ſie zu Ihnen kommt?“ 

„Was fie ſagt? Denken Sie ſich nur: fie ſpricht von ganz ип: 
bedeutenden Lappalien, und ſo wunderlich iſt der Menſch: ge— 
rade das aͤrgert mich ordentlich. Das erſtemal kam ſie herein 
(ich war müde, wiſſen Sie: der Leichengottesdienſt und ‚Ruh 
in Frieden“ und die Litanei und der Imbiß; endlich war ich in 
meinem Zimmer allein, ſteckte mir eine Zigarre an und uͤber— 
ließ mich meinen Gedanken), da kam ſie alſo zur Tuͤr herein und 
ſagte: ‚Arkadi Iwanowitſch, in all der Unruhe haben Sie heute 
vergeſſen, im Eßzimmer die Uhr aufzuziehen. Naͤmlich dieſe Uhr 
hatte ich wirklich die ganzen ſieben Jahre hindurch alle Woche 
ſelbſt aufgezogen, und wenn ich es einmal vergaß, dann hatte 
ſie mich immer daran erinnert. Am andern Tage war ich ſchon 
auf der Fahrt hierher. Ich ging im Morgengrauen auf einer 
Station in die Bahnhofsreſtauration — ich hatte in der Nacht 
wenig geſchlafen, war wie zerſchlagen, und die Augen fielen 


Vierter Teil 439 


mir immer поф zu — und ließ mir Kaffee geben; auf einmal 
ſehe ich, wie Marfa Petrowna mit einem Spiel Karten in der 
Hand ſich neben mich ſetzt; ‚foll ich Ihnen für die Reiſe Karten 
legen, Arkadi Iwanowitſch?' fragte fie mich. Nämlich das Karten: 
legen verſtand ſie meiſterhaft. Na, ich kann es mir noch heute 
nicht verzeihen, daß ich mir nicht von ihr damals Karten legen 
ließ. Ich lief ganz erſchrocken hinaus, und da wurde auch ſchon 
zum Einſteigen gelaͤutet. Heute ſitze ich nach einem ganz jaͤmmer— 
lichen Mittageſſen, das ich mir aus einer Garkuͤche hatte holen 
laſſen, mit ſchwerem Magen auf meinem Zimmer; ich ſitze da 
und rauche, da kommt wieder Marfa Petrowna herein, ſehr ge— 
putzt, in einem neuen gruͤnen Seidenkleide mit ſehr langer 
Schleppe. ‚Guten Tag, Arkadi Iwanowitſch! Wie gefällt Ihnen 
mein Kleid? So gut kann es Aniſka nicht machen‘ (Aniſka ift 
eine Schneiderin bei uns auf dem Dorfe, eine fruͤhere Leib— 
eigene; ſie hat das Schneidern in Moskau gelernt, ein huͤbſches 
Maͤdchen). Sie ſtand da und drehte ſich vor mir hin und her. 
Ich beſah das Kleid, ſah ihr dann ſehr ſcharf ins Geſicht und 
fagte: ‚Was fällt Ihnen denn ein, Marfa Petrowna, wegen einer 
fo gleichguͤltigen Sache zu mir zu kommen und mich zu beläftigen !° 
„Ach, mein Gott, antwortete fie, ‚nicht einmal einen Augenblick 
ftören darf man Sie!“ Um fie zu neden, ſagte ich zu ihr: Ich 
will mich wieder verheiraten, Marfa Petrowna.“ ‚Das ſieht 
Ihnen aͤhnlich, Arkadi Iwanowitſch, erwiderte fie. ‚Große Ehre 
macht es Ihnen aber nicht, daß Sie jetzt, wo Sie kaum Ihre 
Frau begraben haben, wegreiſen, um eine andere zu heiraten. 
Und wenn Sie noch eine gute Wahl getroffen haͤtten; ſo aber 
wird es weder Ihnen noch ihr zum Segen ſein, und nur die 
lieben Nachbarn werden ihr Amuͤſement daruͤber haben.“ Und 
damit ging ſie hinaus, und es war mir ordentlich, als ob ſie mit 
der Schleppe rauſchte. Iſt das ein Unſinn; nicht wahr?“ 


440 Schuld und Suͤhne 


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„Das find wohl lauter Luͤgen von Ihnen?“ erwiderte Raſkol— 
nikow. 

„Ich luͤge nur ſelten,“ antwortete Swidrigailow nachdenklich; 
die Grobheit der Frage ſchien er gar nicht zu bemerken. 

„Und fruͤher, vor dieſer Zeit, haben Sie niemals Geiſter ge— 
ſehen?“ 

„Hm, doch, ein einziges Mal in meinem Leben, vor ſechs Jah— 
ren . . . Ich hatte einen Diener, namens Philipp; kurz nach 
feiner Beerdigung rief ich einmal in Gedanken: ‚Philipp, die 


Pfeife!“ Da kam er herein und ging gerade auf das Regal zu, | 


wo meine Pfeifen ſtanden. Ich ſaß da und dachte bei mir: Jetzt 
will er ſich gewiß an mir rächen,‘ denn unmittelbar vor feinem 
Tode hatten wir einen heftigen Streit miteinander gehabt. ‚Wie 
kannſt du dich unterſtehen, rief ich ihm zu, ‚mit einem Loch am 
Ellbogen zu mir hereinzukommen! Mach, daß du hinauskommſt, 
du Taugenichts!“ Er wandte ſich um, ging hinaus und iſt nicht 
mehr wiedergekommen. Ich habe Marfa Petrowna damals nichts 
davon erzaͤhlt. Ich wollte ſchon eine Seelenmeſſe fuͤr ihn halten 
laſſen, genierte mich denn aber doch ein bißchen.“ 

„Gehen Sie zu einem Arzte.“ 

„Daß ich nicht geſund bin, weiß ich, auch ohne daß Sie es mir 
ſagen; wiewohl ich wirklich nicht weiß, was mir eigentlich fehlt; 
meiner Anſicht nach bin ich gewiß fuͤnfmal ſo geſund wie Sie. 
Aber ich habe Sie nicht danach gefragt, ob Sie glauben, daß 
einem Geiſter erſcheinen. Ich habe Sie gefragt: Glauben Sie, 
daß es Geiſter gibt?“ 

„Nein, das glaube ich entſchieden nicht!“ rief Raſkolnikow mit 
einer Art von Ingrimm. 

„Wie ſagt man doch gewoͤhnlich?“ murmelte Swidrigailow, 
wie wenn er fuͤr ſich ſpraͤche; er blickte zur Seite und hielt den 
Kopf ein wenig geneigt. „Man ſagt: Du biſt krank; folglich iſt 


Rare» 
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Vierter Teil 441 


das, was dir erſcheint, lediglich ein unwirkliches Wahngebilde.“ 
Darin liegt aber doch keine ſtrenge Logik. Ich gebe zu, daß Geiſter 
nur Kranken erſcheinen; aber daraus folgt doch nur, daß die Gei— 
ſter eben nur Kranken erſcheinen können, aber nicht, daß es uͤber— 
haupt keine gibt.“ 

„Es gibt beſtimmt keine!“ entgegnete Raſkolnikow hartnaͤckig 
in gereiztem Tone. 

„Nein? Glauben Sie das?“ fuhr Swidrigailow langſam fort 
und blickte ihn dabei an. „Na, aber was meinen Sie dazu, wenn 
man ſich die Sache ſo zurechtlegt (helfen Sie mir nur dabei 
ein bißchen): die Geiſter, das ſind ſozuſagen Teilchen, Fragmente 
andrer Welten, der Anfang andrer Welten. Ein geſunder Menſch 
hat ſelbſtverſtaͤndlich keine Veranlaſſung, fie zu ſehen; denn der 
geſunde Menſch iſt ein durchaus irdiſcher Menſch und ſoll daher 
lediglich ein irdiſches Daſein fuͤhren; das iſt ganz in der Ord— 
nung. Na, ſowie er nun aber erkrankt und die normale irdiſche 
Ordnung des Organismus geſtoͤrt wird, dann tritt ihm ſofort 
die Moͤglichkeit der Exiſtenz einer andern Welt entgegen, und 
je kraͤnker er wird, um ſo mehr nehmen ſeine Beziehungen zu 
der andern Welt zu, ſo daß, wenn er nun wirklich ſtirbt, er ein— 
fach ſelbſt in die andere Welt hinuͤbergeht. Ich habe daruͤber ſchon 
ſeit langer Zeit mir meine Gedanken gemacht. Wenn Sie an 
ein zukuͤnftiges Leben glauben, dann koͤnnen Sie auch dieſer 
Anſchauung beipflichten.“ 

„Ich glaube nicht an ein zukuͤnftiges Leben,“ erwiderte Raſkol— 
nikow. 

Swidrigailow ſaß in Gedanken verſunken da. 

„Aber wie waͤre das, wenn es in der andern Welt nur Spinnen 
oder ſo etwas Ahnliches gaͤbe?“ 

„Der Kerl iſt irrſinnig,“ dachte Raſkolnikow. 

„Die Ewigkeit erſcheint uns immer als ein Begriff, den man 


442 Schuld und Suͤhne 


gar nicht faſſen kann, als etwas Rieſenhaftes, ungeheuer Großes! 
Aber warum ſoll ſie denn abſolut ſo ungeheuer groß ſein? Auf 
einmal (ſtellen Sie ſich das mal vor) kommt es ſo heraus, daß 
da ftatt all deſſen nur ein einziges kleines Zimmerchen ift, jo in 
der Art wie eine Badeſtube auf dem Lande, ganz verraͤuchert, 
und in allen Ecken Spinnen, und das iſt dann die ganze Ewig— 
keit. Wiſſen Sie, mir ſchwant manchmal ſo etwas in der 
Art.“ 

„Stellen Sie ſich wirklich, wirklich nichts Troͤſtlicheres und Ge: 
rechteres unter der Ewigkeit vor als dies?“ rief Raſkolnikow in 
heftiger Erregung. 

„Etwas Gerechteres? Woher ſoll mans wiſſen, vielleicht iſt 
das ſo, wie ich mir das ausmale, ganz gerecht; und wiſſen Sie, 
wenns von mir abhinge, ich wuͤrde die Ewigkeit jedenfalls ab— 
ſichtlich ſo einrichten,“ erwiderte Swidrigailow mit einem nicht 
recht verſtaͤndlichen Laͤcheln. 

Ein Gefuͤhl der Kaͤlte uͤberkam auf einmal Raſkolnikow bei 
dieſer widerwaͤrtigen Antwort. Swidrigailow hob den Kopf in 
die Hoͤhe, blickte ihn unverwandt an und brach ploͤtzlich in ein 
Gelaͤchter aus. 

„Nein,“ rief er, „überlegen Sie bloß mal: vor einer halben 
Stunde hatten wir einander noch nicht geſehen, wir halten uns 
fuͤr Feinde, es liegt noch ein unerledigtes Geſchaͤft zwiſchen uns, 
— und nun haben wir Geſchaͤft Geſchaͤft fein laſſen und find tief 
in ſolche metaphyſiſchen Fragen hineingeraten! Nun, habe ich 
nicht die Wahrheit gefagt, daß wir Geiſtes verwandte find?" 

„Haben Sie die Güte," erwiderte Raſkolnikow gereizt, „mir 
moͤglichſt ſchnell mitzuteilen, warum Sie mich der Ehre Ihres 
Beſuches gewuͤrdigt haben, ... und ... und . .. ich bin eilig, 
ich habe keine Zeit, ich möchte fortgehen ...“ 

„Ganz wie Sie wuͤnſchen, ganz wie Sie wuͤnſchen! Ihre 


Vierter Teil 443 


Schweſter, Awdotja Romanowna, heiratet Herrn Peter Petro— 
witſch Luſchin?“ 

„Ich moͤchte Sie bitten, jede Frage, die meine Schweſter be— 
trifft, zu vermeiden und ihren Namen uͤberhaupt nicht zu er— 
waͤhnen. Es iſt mir geradezu unverſtaͤndlich, wie Sie ſich er— 
dreiſten koͤnnen, in meiner Gegenwart ihren Namen auszu— 
ſprechen, wenn Sie wirklich Swidrigailow ſind.“ 

„Ich bin ja aber gerade deshalb hergekommen, um uͤber ſie 
zu ſprechen; wie ſoll ich es denn da machen, ihren Namen nicht 
auszuſprechen?“ 

„Nun gut; dann reden Sie, aber recht ſchnell!“ 

„Ich bin uͤberzeugt, daß Sie ſich uͤber dieſen Herrn Luſchin, 
einen Verwandten meiner Frau, bereits ein Urteil gebildet haben, 
wenn Sie ihn auch nur eine halbe Stunde geſehen oder etwas 
Zuverlaͤſſiges und Genaueres uͤber ihn gehoͤrt haben. Er iſt 
kein Mann fuͤr Awdotja Romanowna. Meiner Anſicht nach bringt 
ſich Awdotja Romanowna dabei in hoͤchſt großmuͤtiger und un— 
eigennuͤtziger Weiſe zum Opfer Ни... für ihre Familie. Nach 
allem, was ich uͤber Sie gehoͤrt habe, glaubte ich, Sie wuͤrden 
Ihrerſeits recht zufrieden ſein, wenn dieſe Heirat unterbliebe, 
ohne daß die Intereſſen der Familie dabei zu Schaden kaͤmen. 
Und jetzt, nachdem ich Sie perfönlich kennen gelernt habe, bin 
ich davon ſogar feſt uͤberzeugt.“ 

„Alles ſehr naiv von Ihnen; Pardon, ich wollte ſagen: ſehr 
unverſchaͤmt,“ erwiderte Raſkolnikow. 

„Sie wollen wohl damit ſagen, daß ich egoiſtiſche Abſichten 
verfolge. Aber ſeien Sie unbeſorgt, Rodion Romanowitſch; wenn 
ich mein eigenes Intereſſe im Auge haͤtte, dann wuͤrde ich nicht 
ſo offen reden; ſo dumm bin ich denn ſchließlich doch auch nicht. 
In dieſer Hinſicht moͤchte ich Ihnen eine pſychologiſch merk— 
wuͤrdige Mitteilung machen. Als ich vorhin meine Liebe zu Aw— 


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444 Schuld und Suͤhne 


dotja Romanowna rechtfertigte, fagte ich, daß ich ſelbſt dabei ein 
Opfer geweſen ſei. Nun, ſo will ich Ihnen nicht verhehlen, daß 
ich jetzt keine Liebe zu ihr empfinde, aber auch gar keine, ſo daß 
mir das ſelbſt ſonderbar vorkommt, weil ich doch tatſaͤchlich etwas 
Derartiges empfunden hatte ...“ 

„Das kam von Ihrem Muͤßiggange und Ihrer Sittenloſigkeit 
her,“ unterbrach ihn Raſkolnikow. 

„Ein Muͤßiggaͤnger und unſittlicher Menſch bin ich freilich. In— 
deſſen beſitzt andrerſeits Ihre Schweſter ſo viele Vorzuͤge, daß 
auch ich einfach nicht imſtande war, mich eines gewiſſen Ein— 
drucks zu erwehren. Aber das alles iſt dummes Zeug, wie ich 
jetzt ſelbſt einſehe.“ 

„Sind Sie ſchon lange zu dieſer Einſicht gelangt?“ 

„Die erſten Anfaͤnge dieſer Erkenntnis liegen ſchon weiter zu— 
ruͤck; endguͤltig habe ich mich davon vorgeſtern uͤberzeugt, faſt 
genau in dem Augenblicke, als ich in Petersburg ankam. Noch 
in Moskau hatte ich die Vorſtellung, daß ich dieſe Reiſe machte, 
um mich um Awdotja Romanownas Hand zu bewerben und mit 
Herrn Luſchin zu rivaliſieren.“ | 

„Entſchuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche; aber haben Sie 
die Güte, ſich kurz zu faſſen und ohne Umſchweife auf den Zweck 
Ihres Beſuches zu kommen. Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...“ 

„Mit dem groͤßten Vergnuͤgen! Da ich hierher nach Peters— 
burg gekommen bin und jetzt eine ... eine größere Reiſe anzu⸗ 
treten beabſichtige, ſo moͤchte ich gern vorher einige notwendige 
Anordnungen treffen. Meine Kinder ſind bei ihrer Tante ge— 
blieben; ſie ſind reich; mich perſoͤnlich haben ſie in keiner Weiſe 
noͤtig. Ich bin ja auch ein ſchlechter Vater. Fuͤr mich habe ich 
nur das genommen, was mir Marfa Petrowna vor einem Jahre 
geſchenkt hat. Daran habe ich genug. Entſchuldigen Sie, ich 
komme ſofort zur Sache. Vor meiner Reiſe, die vielleicht bald 


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Vierter Teil 445 


zur Ausfuͤhrung gelangt, moͤchte ich auch die Angelegenheit mit 
Herrn Luſchin erledigen. Nicht eigentlich, daß er mir unausſteh— 
lich waͤre; aber um ſeinetwillen kam es zwiſchen mir und Marfa 
Petrowna zu dieſem unangenehmen Streite, als ich erfuhr, daß 
ſie dieſe Heirat in die Wege geleitet hatte. Ich moͤchte nun jetzt 
durch Ihre Vermittlung eine Zuſammenkunft mit Awdotja Ro— 
manowna haben und ihr — meinetwegen in Ihrer eigenen 
Gegenwart — erſtens klarmachen, daß ſie von Herrn Luſchin 
nicht nur nicht den geringſten Vorteil, ſondern ſogar mit Sicher— 
heit einen entſchiedenen Schaden zu erwarten hat. Dann moͤchte 
ich fie wegen all der Unannehmlichkeiten, die fie unlaͤngſt durch 
meine Schuld zu erleiden gehabt hat, um Verzeihung bitten und 
um die Erlaubnis nachſuchen, ihr zehntauſend Rubel anzubieten 
und ihr auf dieſe Weiſe die Aufloͤſung ihrer Verlobung mit Herrn 
Luſchin zu erleichtern; dieſer Aufloͤſung wuͤrde ſie nach meiner 
Überzeugung ſelbſt nicht abgeneigt ſein, wenn ſich eine aͤußere 
Moͤglichkeit dazu darboͤte.“ 

„Aber Sie ſind faktiſch verruͤckt!“ rief Raſkolnikow, weniger 
zornig als erſtaunt. „Wie koͤnnen Sie ſich unterſtehen, ſo etwas 
zu ſagen!“ 

„Das hatte ich mir vorher gedacht, daß Sie ein Geſchrei er— 
heben wuͤrden; aber erſtens habe ich, obwohl ich nicht gerade 
ein reicher Mann bin, dieſe zehntaufend Rubel übrig, das heißt, 
ich habe fie gar nicht nötig, abſolut nicht nötig. Wenn Awdotja 
Romanowna fie nicht nimmt, fo gebe ich fie vielleicht auf noch 
törichtere Weiſe aus. Das ift das eine. Und zweitens: mein Ge: 
wiſſen iſt vollkommen ruhig; ich biete ihr das Geld ohne alle 


egoiſtiſchen Abſichten an. Moͤgen Sie es jetzt glauben oder nicht, 


aber ſpaͤter werden Sie und Awdotja Romanowna es einſehen. 
Der Beweggrund fuͤr meine Handlungsweiſe iſt einzig und allein 
dieſer: da ich Ihrer hochverehrten Schweſter tatſaͤchlich mancherlei 


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446 Schuld und Sühne 


Unruhe und Unannehmlichkeiten verurſacht habe, fo hege ich im 
Gefuͤhle aufrichtiger Reue den herzlichen Wunſch, nicht etwa 
mich durch Geld von der Verſchuldung zu befreien oder ihr die 
Unannehmlichkeiten zu bezahlen, ſondern ganz einfach etwas zu 
tun, was ihr Vorteil bringt; es ſteht ja nirgends geſchrieben, 
daß ich immer nur Schlechtes tun muß. Wenn in meinem An— 
erbieten auch nur die geringſte Spur von egoiſtiſchen Abſichten 
ſteckte, ſo wuͤrde ich ihr doch das Geld nicht ſo offen anbieten, 
und ich wuͤrde ihr auch nicht bloß zehntauſend anbieten, da ich 
ihr ja vor kaum fuͤnf Wochen eine weit groͤßere Summe ange— 
boten habe. Außerdem werde ich vielleicht in naͤchſter, aller— 
naͤchſter Zeit ein junges Maͤdchen heiraten, ſo daß auch ſchon da— 
durch jeder Verdacht, als haͤtte ich irgendwelche boͤſen Anſchlaͤge 
gegen Awdotja Romanowna vor, ſchwinden muß. Zum Schluſſe 
moͤchte ich nur noch hinzufuͤgen, daß Awdotja Romanowna, 


wenn ſie Herrn Luſchin heiratet, ja dasſelbe Geld annimmt, nur 


von anderer Seite ... Argern Sie ſich nicht, Rodion Romano: 
witſch, ſondern uͤberlegen Sie die Sache ruhig und kaltbluͤtig.“ 

Swidrigailow ſelbſt war, waͤhrend er dies ſagte, außerordent⸗ 
lich kaltbluͤtig und ruhig. 

„Ich bitte Sie, nun damit aufzuhoͤren,“ ſagte Raſkolnikow. 
„Jedenfalls iſt Ihr Anerbieten von einer unverzeihlichen Dreiſtig— 
keit.“ 

„Ganz und gar nicht. Sonſt koͤnnte ja auf dieſer Welt ein 
Menſch einem andern nur Boͤſes antun und haͤtte um leerer 
konventioneller Formen willen kein Recht, ihm auch einmal ein 
klein bißchen Gutes zukommen zu laſſen. Das waͤre ja ſinnlos. 
Wenn ich zum Beiſpiel geſtorben waͤre und Ihrer Schweſter 
dieſe Summe teſtamentariſch hinterlaſſen haͤtte, wuͤrde ſie ſich 
etwa auch dann weigern, ſie anzunehmen?“ 

„Sehr moͤglich.“ 


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Vierter Teil 447 


„Na, das wuͤrde ſie nun wohl doch nicht tun. Will ſie es 
uͤbrigens von mir nicht nehmen, nun, dann mag ſie es ablehnen; 
dann unterbleibt es eben. Nur ſind zehntauſend Rubel keine 
uͤble Sache; die koͤnnen einem bei Gelegenheit gut zuſtatten 
kommen. Jedenfalls bitte ich Sie, von meinem Anerbieten Ihrer 
Schweſter Mitteilung zu machen.“ 

„Nein, das werde ich nicht tun.“ 

„Dann, Rodion Romanowitſch, werde ich ſelbſt genoͤtigt ſein, 
mich um eine perſoͤnliche Zuſammenkunft zu bemuͤhen und ſo 
Ihre Schweſter zu belaͤſtigen.“ 

„Und wenn ich es ihr mitteile, dann werden Sie ſich nicht um 
eine perſoͤnliche Zuſammenkunft bemuͤhen?“ 

„Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf antworten ſoll. 
Ich moͤchte ſie doch gar zu gern noch einmal wiederſehen.“ 

„Dieſe Hoffnung geben Sie nur auf!“ 

„Schade! Aber Sie kennen mich noch nicht. Vielleicht treten 
wir einander doch noch naͤher.“ 

„Halten Sie das für möglich?" 

„Aber warum denn nicht?“ antwortete Swidrigailow laͤchelnd, 
ſtand auf und griff nach ſeinem Hute. „Nicht als ob ich die Ab— 
ſicht haͤtte, Sie in Zukunft haͤufig zu belaͤſtigen. Auch habe ich, 
als ich hierherging, mir ganz und gar keine großen Hoffnungen 
auf eine Verſtaͤndigung gemacht, obwohl mich Ihre Phyſiogno— 
mie ſchon heute vormittag uͤberraſcht und intereſſiert hatte ...“ 

„Wo haben Sie mich denn heute vormittag geſehen?“ fragte 
Raſkolnikow beunruhigt. 

„Nur ganz zufaͤllig .. . Ich habe immer die Empfindung, als 
ob Sie mir einigermaßen geiſtesverwandt waͤren ... Aber ſeien 
Sie ganz unbeſorgt; ich verſtehe mit Menſchen umzugehen und 
bin immer recht wohl gelitten geweſen; ich habe mit Falſch— 
ſpielern ganz angenehm zuſammengelebt, und mit dem Fuͤrſten 


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448 Schuld und Suͤhne 


»Swirbei, einem entfernten Verwandten von mir und hohen 
Wuͤrdentraͤger, habe ich mich gut zu ſtellen gewußt, und ich habe 
Witz genug gehabt, der ſchoͤngeiſtigen Frau Prilukowa etwas 
Huͤbſches über die Raffaelſche Madonna ins Album zu ſchreiben, 
und ich habe mit Marfa Petrowna ſieben Jahre lang ſtill und 
haͤuslich auf dem Gute gelebt, und ich habe in fruͤheren Zeiten 
manchmal im Nachtaſyl am Heumarkt geſchlafen, und nun werde 
ich vielleicht mit Berg eine Fahrt mit dem Luftballon unter— 
nehmen.“ 

„Gut, gut. Geſtatten Sie eine Frage: Treten Sie Ihre Reife 
bald an?“ 

„Bas für eine Reife?" 

„Nun, Sie ſprachen doch vorhin von einer Reife.“ 

„Von einer Reiſe? Ach ja! ... Richtig, ich ſagte Ihnen da— 
von . . . Nun, das iſt eine vielumfaffende Frage ... Wenn 
Sie aber wuͤßten, wonach Sie ſich da erkundigt haben!“ fuͤgte 
er hinzu und brach in ein lautes, kurzes Gelaͤchter aus. „Aber 
vielleicht verheirate ich mich auch, ſtatt wegzureiſen; ich ſtehe 
ſchon durch eine Vermittlerin wegen eines jungen Maͤdchens in 
Verhandlung.“ 

„Hier?“ 

Ja. 5 

„Wie haben Sie denn das ſchon fertiggebracht?“ 

„Aber mit Awdotja Romanowna moͤchte ich doch zu gern noch 
einmal ſprechen. Ich bitte Sie in vollem Ernſte, mir dazu be: 
hilflich zu ſein. Nun, auf Wiederſehen! ... Ach ja! Das hätte 
ich ja beinahe vergeſſen! Teilen Sie doch Ihrer Schweſter mit, 
Rodion Romanowitſch, daß ſie in Marfa Petrownas Teſtamente 
mit dreitauſend Rubeln bedacht iſt. Sie kann ſich beſtimmt dar⸗ 
auf verlaſſen. Marfa Petrowna hat, eine Woche ehe ſie ſtarb, 
ihre Anordnungen fuͤr den Todesfall getroffen, und das geſchah 


1 


— 


Vierter Teil 449 


in meiner Gegenwart. In zwei bis drei Wochen wird Awdotja 
Romanowna das Geld erhalten koͤnnen.“ 

„Sagen Sie die Wahrheit?“ 

„Gewiß. Teilen Sie es ihr nur n.it. Nun, ich empfehle mich. 
Ich wohne gar nicht weit von Ihnen.“ 

Beim Hinausgehen ſtieß Swidrigailow in der Tuͤr mit Raſu— 
michin zuſammen. 


II 


Es war ſchon faſt acht Uhr; beide machten ſich eilig nach dem 
Bakalejewſchen Hotel garni auf, um noch vor Luſchin dort ein— 
zutreffen. 

„Nun, wer war denn das?“ fragte Raſumichin, als ſie auf die 
Straße traten. 

„Das war Swidrigailow, eben jener Gutsbeſitzer, in deſſen 
Hauſe meine Schweſter Gouvernante war und ſchwer gekraͤnkt 
wurde. Infolge der Liebesantraͤge, mit denen er ihr zuſetzte, 
verließ ſie ihre Stellung; ſie wurde naͤmlich von ſeiner Frau, 
Marfa Petrowna, aus dem Hauſe gejagt. Dieſe Marfa Petrowna 
hat dann ſpaͤter den wahren Sachverhalt erfahren und Awdotja 
um Verzeihung gebeten; jetzt iſt ſie ganz ploͤtzlich geſtorben. 
Meine Mutter und meine Schweſter ſprachen heute morgen von 
ihr. Ich weiß nicht recht, warum, aber ich fuͤrchte mich ſehr vor 
dieſem Menſchen. Gleich nach der Beerdigung ſeiner Frau iſt er 
hierhergereiſt. Er hat ein ganz ſonderbares Weſen und verfolgt 
energiſch irgendein beſtimmtes Ziel . .. Es macht den Eindruck, 
als wüßte er irgend etwas ... Awdotja muß vor ihm beſchuͤtzt 
werden, . .. das wollte ich auch dir ſagen, hoͤrſt du?“ 

„Beſchuͤtzen! Was kann er ihr denn tun? Na, aber ich danke 
dir, Rodion, daß du fo zu mir ſprichſt .. . Wir wollen fie ſchon 
beſchuͤtzen; das wollen wir! ... Wo wohnt er denn?“ 

XIX. 20. 


450 Schuld und Sühne 


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„Das weiß ich nicht.“ 

„Warum haſt du ihn nicht gefragt? Schade! Aber das werde 
ich bald herausbekommen!“ 

„Haſt du ihn geſehen?“ fragte Raskolnikow nach einem kurzen 
Stillſchweigen. 

„Jawohl, ich habe ihn mir gemerkt, ordentlich gemerkt.“ 

„Haſt du ihn auch genau geſehen, deutlich geſehen?“ fragte 
Raſkolnikow nochmals. 

„Aber ja! Ich habe ihn ganz deutlich in der Erinnerung; aus 
tauſend Menſchen will ich ihn herauserkennen; ich habe fuͤr 
Phyſiognomien ein gutes Gedaͤchtnis.“ 

Wieder ſchwiegen ſie ein Weilchen. 

„Hm! . . . Na ja . . ., murmelte Raſkolnikow. „Sonſt, weißt 
du, . . . ich dachte ſchon, ... es ſcheint mir immer, . .. daß 
das vielleicht nur fo eine Sinnestaͤuſchung von mir iſt.“ 

„Was willſt du damit ſagen? Ich verſtehe dich nicht recht.“ 

„Ihr ſagt doch alle,“ fuhr Raſkolnikow fort und verzog den 
Mund zu einem Lächeln, „ich wäre verruͤckt; jetzt eben hatte ich 
nun auch die Empfindung, daß ich vielleicht wirklich verruͤckt waͤre 
und nur eine Viſion gehabt haͤtte.“ 

„Aber was redeſt du da?“ 

„Ja, wer weiß? Vielleicht bin ich tatſaͤchlich verruͤckt, und alle 
Ereigniſſe dieſer letzten Tage haben ſich nur in meiner Ein⸗ 
bildung zugetragen ...“ 

„Ach, Rodion! Das Geſpraͤch mit dem Menſchen hat dich 
wieder aufgeregt! ... Was hat er denn geſagt? Warum iſt er 
zu dir gekommen?“ | 

Raſkolnikow antwortete nicht; Raſumichin überlegte eine Mi⸗ 
nute lang; dann begann er: 

„Nun, dann höre mal meinen Bericht an. Ich bin ſchon ein: 
mal bei dir geweſen, aber da ſchliefſt du. Darauf aßen wir zu 


Vierter Teil 451 


Mittag, und dann ging ich zu Porfiri. Sametow war immer 
noch bei ihm. Ich wollte ein Geſpraͤch uͤber die Sache anfangen, 
aber es gelang mir nicht recht; ich konnte es immer nicht in der 
richtigen Weiſe in Gang bringen. Es ſah aus, als ob ſie mich 
nicht verftänden und nicht verſtehen koͤnnten, aber gar nicht ver= 
legen waͤren. Ich nahm mir Porfiri beiſeite ans Fenſter und fing 
an zu ſprechen; aber ich weiß nicht, es wurde wieder nichts 
Rechtes: er ſah zur Seite, und ich ſah zur Seite. Schließlich hielt 
ich ihm die Fauſt vors Geſicht und ſagte, ich wuͤrde ihn zer— 
malmen, ſo in verwandtſchaftlicher Weiſe. Aber er ſah mich bloß 
an. Ich ſpuckte aus und ging weg, und damit war die Sache zu 
Ende. Dumm, ſehr dumm! Mit Sametow habe ich kein Wort 
geſprochen. Aber nun ſieh mal: ich dachte zuerſt, ich hätte die 
Sache noch mehr verdorben; indeſſen als ich die Treppe hinunter— 
ſtieg, kam mir ein Gedanke oder vielmehr eine Art Erleuchtung: 
warum machen wir beide, du und ich, uns eigentlich ſo viel 
Sorge und Muͤhe? Ja, wenn fuͤr dich eine Gefahr beſtaͤnde, 
na, dann natuͤrlich! Aber was geht es dich an? Du haſt ja 
mit der Geſchichte nichts zu tun, alſo ſcher dich nicht um die 
Kerle! Wir werden nachher noch weidlich uͤber ſie lachen, und 
ich wuͤrde ſie an deiner Stelle noch abſichtlich irrefuͤhren. Wie 
ſie ſich nachher ſchaͤmen werden! Scher dich nicht um ſie; nach— 
her koͤnnen wir ſie auch durchpruͤgeln, aber jetzt wollen wir uͤber 
ſie lachen!“ 

„Gewiß, ſelbſtverſtaͤndlich!“ antwortete Raſkolnikow. 

„Aber was wirſt du morgen ſagen?“ dachte er bei ſich. Sonder— 
barerweiſe war ihm bisher noch nie der Gedanke in den Sinn 
gekommen: „Was wird Raſumichin dazu ſagen, wenn er es er— 
faͤhrt?“ Bei dieſem Gedanken blickte Raſkolnikow ihn pruͤfend 
an. Fuͤr Raſumichins jetzigen Bericht uͤber ſeinen Beſuch bei 
Porfiri intereſſierte er ſich nur ſehr wenig: ſo vieles war in der 


452 Schuld und Suͤhne 52 


Zwiſchenzeit in den Hintergrund getreten, und anderes hatte an 
Wichtigkeit gewonnen! ... 

Im Korridor trafen ſie mit Luſchin zuſammen: er war puͤnkt— 
lich um acht Uhr gekommen und ſuchte nun die Zimmernummer, 
ſo daß ſie alle drei gleichzeitig eintraten, aber ohne einander an— 
zuſehen und zu begruͤßen. Die beiden jungen Maͤnner gingen 
voran; Peter Petrowitſch dagegen, der immer den Anſtand 
wahrte, verweilte noch einen Augenblick im Vorzimmer und 
legte dort ſeinen Überzieher ab. Pulcheria Alexandrowna ging 
ſogleich hinaus, um ihn an der Schwelle zu empfangen. Ar: 
dotja begruͤßte ihren Bruder. 

Peter Petrowitſch trat ein und verbeugte ſich vor den Damen 
ſehr artig, aber mit ganz beſonders gemeſſenem Weſen. Es 
machte den Eindruck, als ob er einigermaßen uͤberraſcht waͤre 
und ſich noch nicht gefaßt hätte. Pulcheria Alexandrowna, die 
gleichfalls verlegen ſchien, forderte eilfertig alle auf, an dem 
runden Tiſche, auf dem der Samowar ſummte, Platz zu nehmen. 
Awdotja und Luſchin ſetzten fich einander gegenüber; Raſumichin 
und Raſkolnikow kamen Pulcheria Alexandrowna gegenüber zu 
ſitzen, und zwar Raſumichin naͤher an Luſchin, Raſkolnikow neben 
ſeiner Schweſter. 

Einen Augenblick ſchwiegen alle. Peter Petrowitſch zog lang— 
ſam ſein batiſtnes, parfuͤmiertes Taſchentuch heraus und benutzte 
es mit der Miene eines edlen, tugendhaften Menſchen, der ſich 
in feiner Würde etwas gekränkt fühlt und [ей entſchloſſen iſt, 
eine Erklaͤrung zu verlangen. Als er noch im Vorzimmer war, 
war ihm der Gedanke gekommen, ob es nicht das beſte ſei, den 
Überzieher gar nicht auszuziehen, ſondern wieder fortzugehen 
und dadurch die beiden Damen in ſtrenger, nachdruͤcklicher Weiſe 
zu beſtrafen, damit ſie gleich mit einem Male ſeinen ganzen Un⸗ | 
willen zu fühlen bekaͤmen. Aber er hatte ſich doch nicht dazu 


Vierter Teil 453 


— 


entſchließen koͤnnen. Außerdem war er kein Freund unklarer 
Situationen, und hier mußte etwas klargeſtellt werden: wenn 
ſein Befehl ſo offenkundig mißachtet war, ſo ſteckte gewiß etwas 
Beſonderes dahinter; mithin war es das beſte, dies zunaͤchſt in 
Erfahrung zu bringen; zur Beſtrafung wuͤrde immer noch Zeit 
ſein; das hatte er ja in der Hand. 

„Ich hoffe, Ihre Reiſe iſt gluͤcklich vonſtatten gegangen?“ 
wandte er ſich in foͤrmlichem Tone an Pulcheria Alexandrowna. 

„Ja, Gott ſei Dank, Peter Petrowitſch.“ 

„Das freut mich ſehr. Und Sie ſind auch nicht zu ſehr davon 
angegriffen, Awdotja Romanowna?“ 

„Ich bin jung und kraͤftig; mich greift ſo etwas nicht an; aber 
meiner Mama iſt es recht ſchwer geworden,“ antwortete Awdotja. 

„Was iſt da zu machen? Die Entfernungen bei uns zulande 
ſind eben gar zu groß. Groß iſt unſer ſogenanntes Muͤtterchen 
Rußland. Ich konnte es beim beſten Willen geſtern leider nicht 
ermoͤglichen, Sie auf dem Bahnhofe in Empfang zu nehmen. 
Ich hoffe indes, daß ſich alles ohne beſondre Schwierigkeiten ge— 
macht hat?“ 

„Ach nein, Peter Petrowitſch, wir waren ſehr mutlos,“ be— 
eilte ſich Pulcheria Alexandrowna mit beſondrer Betonung zu 
erwidern, „und wenn uns nicht Gott ſelbſt, moͤchte ich meinen, 
in Dmitri Prokofjitſch einen Helfer geſandt hätte, [о wären wir 
ganz verloren geweſen. Hier: Dmitri Prokofjitſch Raſumichin,“ 
ſtellte ſie ihn Herrn Luſchin vor. 

„Jawohl, ich hatte bereits das Vergnügen, . . . ſchon geſtern,“ 
murmelte Luſchin, indem er jenem einen ſchraͤgen, feindſeligen 
Blick zuwarf; dann machte er ein finſteres Geſicht und ſchwieg. 

Überhaupt gehoͤrte Peter Petrowitſch allem Anſcheine nach 
zu den Leuten, die ſich in Geſellſchaft aͤußerſt liebenswuͤrdig Ве: 
nehmen und auch als ſehr liebenswuͤrdig anerkannt zu werden 


454 Schuld und Suͤhne 


beanſpruchen, die aber, ſobald nur etwas nicht nach ihrem Wunſche 
iſt, ſogleich alle ihre geſellſchaftlichen Faͤhigkeiten verlieren und 
dann eher Mehlſaͤcken gleichen als gewandten Kavalieren, die 
eine Geſellſchaft zu beleben verſtehen. Alle waren wieder ſtumm: 
Raſkolnikow ſchwieg hartnaͤckig; auch Awdotja wollte nicht vor 
der Zeit das Schweigen unterbrechen; Raſumichin hatte keinen 
Anlaß zu ſprechen; fo wurde denn Pulcheria Alexandrowna 
wieder unruhig. | 

„Marfa Petrowna iſt geftorben; haben Sie davon gehört?" 
begann ſie, indem ſie wieder zu ihrem beſten Geſpraͤchsthema 
ihre Zuflucht nahm. 

„Gewiß habe ich es erfahren. Ich wurde ſofort davon benach— 
richtigt und bin ſogar jetzt hierhergekommen, um Ihnen mit— 
zuteilen, daß Arkadi Iwanowitſch Swidrigailow unmittelbar 
nach der Beerdigung ſeiner Gemahlin eiligſt nach Petersburg 
gereiſt iſt. Wenigſtens beſagen das die ſehr genauen Nachrichten, 
die ich erhalten habe.“ 

„Nach Petersburg? Hierher?“ fragte Awdotja beunruhigt und 
wechſelte einen Blick mit ihrer Mutter. 

„Ganz richtig, und ſelbſtverſtaͤndlich nicht ohne beſondre Ab— 
ſichten, wie man ſich das leicht denken kann, wenn man die Eil⸗ 
fertigkeit ſeiner Abreiſe und uͤberhaupt die vorangegangenen 
Umſtaͤnde in Erwaͤgung zieht.“ 

„Mein Gott! Will er denn Awdotja nicht einmal hier in Ruhe 
laſſen?“ rief Pulcheria Alexandrowna. 

„Mir ſcheint, zu beſondrer Beunruhigung iſt kein Anlaß, weder 
für Sie noch für Awdotja Romanowna, vorausgeſetzt natürlich, 
daß Sie nicht ſelbſt mit ihm in irgendwelche Beziehungen zu 
treten wuͤnſchen. Was mich anbetrifft, ſo werde ich ihn beob— 
achten und jetzt zunaͤchſt ausfindig zu machen ſuchen, wo er 
Quartier genommen hat.“ 


Vierter Teil 455 


„Ach, Peter Petrowitſch, Sie glauben gar nicht, wie Sie mich 
durch dieſe Nachricht erſchreckt haben!“ fuhr Pulcheria Alexan— 
drowna fort. „Ich habe ihn nur zweimal geſehen, und er erſchien 
mir entſetzlich, geradezu entſetzlich! Ich bin uͤberzeugt, daß er 
die Schuld an dem Tode der ſeligen Marfa Petromna trägt.” 

„Zu einem abſchließenden Urteile kann man daruͤber nicht 
kommen, obwohl ich recht genaue Nachrichten habe. Ich be— 
ſtreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge durch die ſo— 
zuſagen ſeeliſche Wirkung der Beleidigung beſchleunigt hat; was 
aber das Betragen dieſes Mannes und uͤberhaupt ſeinen ſitt— 
lichen Charakter betrifft, ſo ſtimme ich Ihnen durchaus bei. Ich 
weiß nicht, ob er jetzt reich iſt und wieviel ihm Marfa Petrowna 
eigentlich hinterlaſſen hat; daruͤber werde ich in kuͤrzeſter Friſt 
orientiert ſein; aber wenn er nur einigermaßen uͤber Geldmittel 
verfuͤgt, ſo wird er ſicher hier in Petersburg ſofort wieder ſein 
altes Leben anfangen. Er iſt das verkommenſte, laſterhafteſte 
Subjekt unter dieſer ganzen Menſchenklaſſe! Ich habe ſchwer— 
wiegende Gruͤnde zu der Annahme, daß Marfa Petrowna, die 
vor acht Jahren das Ungluͤck hatte, ſich heftig in ihn zu verlieben, 
und ihn vom Schuldgefaͤngnis loskaufte, ihm auch in andrer 
Hinſicht einen großen Dienſt geleiſtet hat: es wurde naͤmlich 
einzig und allein infolge ihrer Bemuͤhungen und der von ihr 
gebrachten Opfer ein Kriminalprozeß in feinen erſten Anfängen 
unterdruͤckt, bei welchem es ſich um einen beſtialiſchen und ſozu— 
ſagen exzentriſchen Mord handelte, fuͤr den er recht wohl haͤtte 
nach Sibirien ſpazieren koͤnnen. So ein Menſch iſt das, wenn es 
Sie intereſſiert.“ 

„Ach Gott!“ rief Pulcheria Alexandrowna. 

Raſkolnikow hatte aufmerkſam zugehoͤrt. 

„Iſt das auch wahr, daß Sie daruͤber zuverlaͤſſige Nachrichten 
haben?“ fragte Awdotja in ſcharfem, nachdruͤcklichem Tone. 


„Ich erzähle nur wieder, was ich felbft unter dem Siegel der 
Verſchwiegenheit von der verſtorbenen Marfa Petrowna gehoͤrt 
habe. Ich muß bemerken, daß dieſe Sache vom juriſtiſchen Stand— 
punkte aus recht dunkel iſt. Hier lebte und lebt auch wohl noch 
eine gewiſſe Frau Roͤßlich, eine Auslaͤnderin, die in kleinem Maß— 
ſtabe Wuchergeſchaͤfte macht und ſich auch mit andern Sachen 
befaßt. Mit dieſer Frau Roͤßlich ſtand Herr Swidrigailow ſeit 
langer Zeit in ſehr nahen, geheimnisvollen Beziehungen. Bei 
ihr wohnte eine entfernte Verwandte, wenn mir recht iſt, eine 
Nichte, ет taubſtummes Mädchen von fünfzehn oder auch nur 
vierzehn Jahren, auf die dieſe Frau Roͤßlich einen grenzenloſen 
Haß hatte; ſie goͤnnte ihr keinen Biſſen Brot und ſchlug ſie ſo— 
gar in unmenſchlicher Weiſe. Eines Tages fand man dieſes Maͤd— 
chen auf dem Boden erhaͤngt. Nach Anſicht der Gerichtskommiſ— 
ſion lag Selbſtmord vor, und man hielt nach Erledigung der 
uͤblichen Formalitaͤten die Sache fuͤr abgetan. Aber ſpaͤter tauchte 
eine Denunziation auf, das Kind ſei von Swidrigailow in grau— 
ſamer Weiſe ... entehrt worden. Allerdings war das alles ſehr 
dunkel; die Denunziation ruͤhrte von einer andern Deutſchen 
her, einem uͤbel beleumundeten, wenig glaubwuͤrdigen Frauen— 
zimmer. Schließlich ſtellte ſich dank den Bemuͤhungen und Geld— 
opfern Marfa Petrownas heraus, daß in Wirklichkeit gar keine 
Denunziation vorlag; es beſchraͤnkte ſich alles auf ein Geruͤcht. 
Aber freilich war dieſes Geruͤcht recht vielſagend. Sie, Awdotja 
Romanowna, haben gewiß in dem Swidrigailowſchen Hauſe 
auch von der Geſchichte mit dem Diener Philipp gehoͤrt, der 
vor ſechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenſchaft, infolge der 
erlittenen Mißhandlungen ſtarb.“ 

„Ich habe im Gegenteil gehoͤrt, daß dieſer Philipp ſich ſelbſt 
erhaͤngt hat.“ 

„Ganz richtig; aber gezwungen oder, richtiger geſagt, ver— 


456 Schuld und Suͤhne 


Vierter Teil 457 


anlaßt wurde er zum Selbſtmorde durch die unaufhoͤrlichen, 
ſyſtematiſchen Verfolgungen und Beſtrafungen ſeitens dieſes 
Herrn Swidrigailow.“ 

„Davon weiß ich nichts,“ erwiderte Awdotja trocken; „ich habe 
nur eine ſehr ſonderbare Geſchichte gehoͤrt, dieſer Philipp waͤre 
eine Art Hypochonder, ſo ein Dorfphiloſoph geweſen; er haͤtte 
nach der Anſicht der Leute zuviel geleſen gehabt und haͤtte ſich 
eher infolge der Spoͤttereien des Herrn Swidrigailow als in— 
folge von erhaltenen Schlaͤgen erhaͤngt. Waͤhrend meiner An— 
weſenheit auf dem Gute behandelte er ſeine Leute gut, und die 
Leute hatten ihn ſogar recht gern, obgleich ſie ihm tatſaͤchlich die 
Schuld an Philipps Tode beimaßen.“ 

„Ich ſehe, Awdotja Romanowna, daß Sie auf einmal die 
Neigung bekommen haben, ihn zu verteidigen,“ bemerkte Lu: 
ſchin und verzog den Mund zu einem zweideutigen Laͤcheln. 
„In der Tat, er iſt ein ſchlauer Menſch und hat fuͤr Damen etwas 
Verfuͤhreriſches; dafuͤr dient Marfa Petrowna, die auf ſo merk— 
wuͤrdige Weiſe geſtorben iſt, als betruͤbendes Beiſpiel. Ich wollte 
nur Ihnen und Ihrer Frau Mutter im Hinblick auf die neuen 
Anſchlaͤge, die von ſeiner Seite zweifellos bevorſtehen, mit 
meinem Rate dienen. Ich fuͤr meine Perſon bin feſt uͤberzeugt, 
daß dieſer Menſch mit Sicherheit wieder im Schuldgefaͤngnis 
verſchwinden wird. Marfa Petrowna hat niemals die Abſicht 
gehabt, ihm etwas zu vermachen; ſie nahm das Intereſſe ihrer 
Kinder wahr; und wenn fie ihm wirklich etwas hinterlaſſen haben 
ſollte, ſo duͤrfte es nur das fuͤr den notwendigen Unterhalt Er— 
forderliche ſein, eine kleine Summe, die bei einem Menſchen mit 
ſeinen Gewohnheiten auch nicht ein Jahr langt.“ 

„Peter Petrowitſch, ich bitte Sie,“ ſagte Awdotja, „wir wollen 
nicht mehr von Herrn Swidrigailow ſprechen. Es ruft in mir 
zu ſchmerzliche Gefuͤhle wach.“ 


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458 Schuld und Suͤhne 


„Er iſt ſoeben bei mir geweſen,“ ſagte ploͤtzlich Raſkolnikow, 
der zum erſten Male ſein Schweigen unterbrach. 

Von allen Seiten erſchollen Ausrufe der Verwunderung; alle 
wandten ſich zu ihm. Sogar Peter Petrowitſch geriet in Er— 
regung. 

„Vor anderthalb Stunden, als ich ſchlief,“ fuhr Raſkolnikow 
fort, „kam er zu mir herein, weckte mich auf und ſtellte ſich mir 
vor. Er war recht ungezwungen und heiter und hofft zuverſicht— 
lich, daß wir beide einander naͤher treten werden. Unter anderm 
bittet er dringend um eine Zuſammenkunft mit dir, Awdotja, 
und hat mich gebeten, das zu vermitteln. Er will dir einen Vor— 
ſchlag machen und hat mir mitgeteilt, worin dieſer beſteht. Außer: 
dem hat er mir auf das beſtimmteſte verſichert, daß Marfa Pe— 
trowna noch eine Woche vor ihrem Tode dir, Awdotzja, drei— 
tauſend Rubel teſtamentariſch hinterlaſſen hat und daß du dieſes 
Geld in Baͤlde erhalten kannſt.“ 

„Gott ſei Dank!“ rief Pulcheria Alexandrowna und bekreuzte 
ſich. „Bete für fie, Awdotja, bete fuͤr fie!" 

„Ja, das verhält ſich wirklich fo," ſagte Luſchin unwillkuͤrlich 
und unbedacht. 

„Nun, und was weiter?“ fragte Awdotja ungeduldig. 

„Dann ſagte er, er ſelbſt ſei nicht reich, und das ganze Ver— 
mögen falle feinen Kindern zu, die ſich jetzt bei ihrer Tante Бе: 
faͤnden. Ferner erwaͤhnte er, daß er irgendwo nicht weit von 
meiner Wohnung ſich einquartiert habe; aber wo, das weiß ich 
nicht, ich habe ihn nicht danach gefragt ...“ 

„Aber was will er denn eigentlich unſrer Awdotja fuͤr einen 
Vorſchlag machen?“ fragte Pulcheria Alexandrowna in großer 
Beunruhigung. „Hat er es dir geſagt?“ 

„Ja, er hat es mir geſagt.“ 

„Nun, was iſt es denn?“ 


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Vierter Teil 459 


.— — —— 


„Ich will es nachher ſagen.“ 

Raſkolnikow ſchwieg und machte ſich mit ſeinem Tee zu ſchaffen. 

Peter Petrowitſch zog die Uhr heraus und ſah nach der Zeit. 

„Ich muß in einer geſchaͤftlichen Angelegenheit notwendig fort— 
gehen und werde Sie ſomit nicht ſtoͤren,“ bemerkte er mit etwas 
gekraͤnkter Miene und ſchickte ſich an, von ſeinem Stuhle auf— 
zuſte hen. 

„Bleiben Sie doch, Peter Petrowitſch,“ ſagte Awdotja. „Sie 
beabſichtigten ja eigentlich, den Abend bei uns zuzubringen. Und 
außerdem haben Sie ja auch ſelbſt geſchrieben, Sie wuͤnſchten 
uͤber einen gewiſſen Gegenſtand eine Ausſprache mit Mama.“ 

„Ganz richtig, Awdotja Romanowna,“ erwiderte Peter Petro— 
witſch mit beſonderem Nachdruck; er ſetzte ſich wieder auf den 
Stuhl, behielt aber den Hut noch in der Hand. „Ich wuͤnſchte 
allerdings eine Ausſprache ſowohl mit Ihnen als auch mit Ihrer 
hochverehrten Frau Mutter, und ſogar uͤber ſehr wichtige Gegen— 
ftände. Aber ebenſo wie Ihr Bruder ſich uͤber gewiſſe Vorſchlaͤge 
des Herrn Swidrigailow in meiner Gegenwart nicht aͤußern 
mag, [о kann und mag auch ich mich . .. in Gegenwart andrer 

. nicht über gewiſſe überaus wichtige Gegenſtaͤnde aus— 
ſprechen. Überdies iſt auch meine angelegentliche, dringende 
Bitte nicht erfüllt worden ...“ 

Luſchin machte ein tiefbeleidigtes Geſicht und ſchwieg wuͤrde— 
voll. | 

„Ihre Bitte, daß mein Bruder bei unſrer Zuſammenkunft nicht 
zugegen ſein moͤchte, iſt einzig und allein auf mein Verlangen 
hin nicht erfuͤllt worden,“ entgegnete Awdotja. „Sie ſchrieben, 
mein Bruder habe Sie beleidigt. Meiner Anſicht nach bedarf 
das einer unverzuͤglichen Aufklaͤrung, und Sie muͤſſen ſich dann 
wieder miteinander verſoͤhnen. Und wenn Rodion Sie wirklich 
beleidigt hat, ſo muß und wird er Sie um Verzeihung bitten.“ 


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460 Schuld und Suͤhne 


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Peter Petrowitſch wurde ſofort wieder energiſcher. 

„Es gibt Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim 
beſten Willen nicht vergeſſen kann. In allen Dingen gibt es eine 
Grenze, deren Überſchreitung gefaͤhrlich iſt; denn wenn ſie ein— 
mal uͤberſchritten iſt, fo iſt eine Ruͤckkehr unmöglich.” | 

„Das Ш eigentlich nicht das, worüber ich mit Ihnen ſprach, 
Peter Petrowitſch,“ unterbrach ihn Awdotja etwas ungeduldig. 
„Sind Sie ſich wohl auch ganz klar daruͤber, daß unſre ganze 
Zukunft jetzt davon abhaͤngt, ob dies alles ſich moͤglichſt ſchnell 
aufklaͤren und beilegen laͤßt oder nicht? Ich ſage Ihnen von 
vornherein unverhohlen, daß ich die Sache nicht anders aufzu— 
faſſen vermag, und wenn Sie mich auch nur ein wenig ſchaͤtzen, 
ſo muß dieſe ganze Geſchichte, und wenn es auch noch ſo ſchwer 
iſt, noch heute erledigt werden. Ich wiederhole Ihnen: wenn 
mein Bruder Sie beleidigt hat, ſo wird er Sie um Verzeihung 
bitten.“ 

„Ich bin erſtaunt, daß Sie die Frage ſo formulieren, Awdotja 
Romanowna,“ erwiderte Luſchin, der immer mehr in eine ge— 
reizte Stimmung geriet. „Obwohl ich Sie ſchaͤtze und, um mich 
ſo auszudruͤcken, anbete, iſt es doch gleichzeitig ſehr wohl moͤg— 
lich, daß ich irgendeinen Ihrer Angehoͤrigen nicht leiden kann. 
Und wenngleich ich nach dem Gluͤcke ſtrebe, Ihr Gatte zu werden, 
ſo brauche ich darum doch nicht gleichzeitig Verpflichtungen auf 
mich zu nehmen, die mit meinem Ehrgefuͤhl unvereinbar ſind 
и...” 

„Ach, laſſen Sie doch all dieſe Empfindlichkeit beifeite, Peter 
Petrowitſch,“ unterbrach ihn Awdotja in warmem, herzlichem 
Tone, „und ſeien Sie der verſtaͤndige, edeldenkende Menſch, fuͤr 
den ich Sie immer gehalten habe und auch weiter halten will. 
Ich habe Ihnen ein bedeutſames Verſprechen gegeben; ich bin 
Ihre Braut. Schenken Sie mir doch in dieſer Angelegenheit 


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Vierter Teil 461 


Vertrauen, und ſeien Sie uͤberzeugt, ich werde imſtande ſein, 
unparteiiſch zu urteilen. Daß ich die Rolle des Schiedsrichters 
uͤbernehmen will, iſt fuͤr meinen Bruder eine ebenſo große Über— 
raſchung wie fuͤr Sie. Als ich ihn heute nach Empfang Ihres 
Briefes aufforderte, unter allen Umſtaͤnden auch zu unſrer Zu— 
ſammenkunft zu kommen, habe ich ihm nichts von meinen Ab— 
ſichten mitgeteilt. Werden Sie ſich daruͤber klar, daß, wenn Sie 
ſich nicht miteinander verſoͤhnen, ich zwiſchen Ihnen beiden 
waͤhlen muß: entweder er oder Sie! So lautet die Frage, mit 
Bezug ſowohl auf Sie als auf ihn. Ich will und darf mich bei 
der Wahl nicht irren. Um Ihretwillen muß ich dann mit meinem 
Bruder brechen, um meines Bruders willen mit Ihnen. Jetzt 
will und kann ich zuverlaͤſſig erfahren, ob er gegen mich ein 
wahrer, echter Bruder iſt, und was Sie anlangt, ob ich Ihnen 
teuer bin, ob Sie mich ſchaͤtzen, ob Sie ein Gatte fuͤr mich 
ſind.“ | 
„Awdotja Romanowna,“ antwortete Luſchin, indem er fich, 
wie tief verletzt, hin und her kruͤmmte, „Ihre Worte ſind fuͤr 
mich uͤberaus bedeutſam, ja, ich muß ſagen, kraͤnkend in An— 
betracht des Verhaͤltniſſes, in welchem ich mich zu Ihnen zu be— 
finden die Ehre habe. Ich will gar nicht einmal davon reden, 
wie ſonderbar und beleidigend es iſt, daß Sie mich mit einem 
.. duͤnkelhaften jungen Menſchen auf eine Stufe ſtellen; aber 
in Ihren Worten ziehen Sie einen Bruch des mir gegebenen 
Verſprechens als möglich mit in Betracht. Sie ſagen: ‚er oder 
Sie!“ Sie druͤcken alſo damit aus, wie wenig ich Ihnen gelte... 
Bei den Beziehungen und ... Verpflichtungen, die zwiſchen 
uns beſtehen, kann ich mich damit nicht einverſtanden erklaͤren.“ 
„Wie!“ rief Awdotja erregt. „Ich ſtelle Ihre Intereſſen auf 
gleiche Stufe mit allem, was mir bisher im Leben teuer ge— 
weſen iſt, was bisher meinen ganzen Lebensinhalt bildete, und 


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da fühlen Sie ſich gekraͤnkt, weil ich Ihnen zu wenig Wert beis 
maͤße!“ 

Raſkolnikow ſchwieg und laͤchelte hoͤhniſch; Raſumichin konnte 
vor Aufregung ſeine Glieder nicht ruhig halten; Peter Petro— 
witſch aber war mit dieſer Erwiderung ſehr wenig zufrieden; 
im Gegenteil wurde er, je laͤnger das Geſpraͤch dauerte, immer 
heftiger und gereizter; ſeine Streitluſt ſchien im Wachſen zu ſein. 

„Die Liebe zu dem kuͤnftigen Lebensgefaͤhrten, zum Gatten, 
muß groͤßer ſein als die Liebe zum Bruder,“ ſagte er in lehr— 
haftem Tone; „jedenfalls kann ich mich nicht auf dieſelbe Stufe 
mit Ihrem Bruder ſtellen laſſen ... Ich habe nun zwar vorhin 
erklaͤrt, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders nicht alles, wes— 
wegen ich hergekommen bin, darlegen kann und mag; aber nichts— 
deſtoweniger beabſichtige ich mich jetzt an Ihre hochverehrte Frau 
Mutter zu wenden, um uͤber einen ſehr wichtigen Punkt, in 
welchem ich mich beleidigt fuͤhle, die notwendige Aufklaͤrung zu 
erhalten. Ihr Sohn,“ wandte er ſich an Pulcheria Alexandrowna, 
„hat mich geſtern in Gegenwart des Herrn Raſſudkin oder... 
ſo iſts ja wohl richtig? Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen 
vergeſſen,“ ſagte er mit hoͤflicher Verbeugung zu Raſumichin, 
„dadurch beleidigt, daß er einen Gedanken von mir, den ich 
Ihnen einmal in einem Privatgefpräche bei einer Taſſe Kaffee mit: 
teilte, arg verdrehte. Ich hatte mich naͤmlich dahin geaͤußert, 
daß die Heirat mit einem armen Maͤdchen, welches bereits die 
Sorgen des Lebens hat koſten muͤſſen, meiner Anſicht nach hin— 
ſichtlich der Geſtaltung des ehelichen Lebens den Vorzug ver— 
diene vor der Heirat mit einem Maͤdchen, das nur Wohlleben 
kennt; denn jene Situation ſei in ethiſcher Hinſicht nuͤtzlicher. 
Ihr Sohn hat den Sinn dieſer Worte gefliſſentlich ins Abſurde 
uͤbertrieben und mich boͤswilliger Abſichten beſchuldigt, wobei er 
ſich meiner Anſicht nach auf eine briefliche Mitteilung von Ihnen 


462 Schuld und Suͤhne 


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Vierter Teil 463 


ſelbſt пиве. Ich werde mich gluͤcklich ſchaͤtzen, wenn Sie, Фиш: 
cheria Alexandrowna, imſtande ſein ſollten, mich vom Gegen— 
teil zu uͤberzeugen und mich dadurch weſentlich zu beruhigen. 
Teilen Sie mir, bitte, mit, mit welchen Ausdruͤcken Sie in Ihrem 
Briefe an Rodion Romanowitſch meine Worte wiedergegeben 
haben.“ 

„Darauf kann ich mich nicht beſinnen,“ erwiderte Pulcheria 
Alexandrowna verlegen, „ich habe Ihre Worte ſo wiedergegeben, 
wie ich ſie ſelbſt aufgefaßt hatte. Wie ſie Rodion Ihnen gegen— 
über wiedergegeben hat, weiß ich nicht ... Es mag fein, daß 
er dabei ein wenig uͤbertrieben hat.“ 

„Ohne Veranlaſſung von Ihrer Seite hätte er nicht übertreiben 
koͤnnen.“ 

„Peter Petrowitſch,“ erwiderte Pulcheria Alexandrowna ernft 
und wuͤrdig, „daß wir beide, ich und Awdotja, Ihre Worte nicht 
gerade in ſchlimmem Sinne aufgefaßt haben, das beweiſt ſchon 
der Umſtand, daß wir hier find.” 

„Sehr gut, Mama!“ bemerkte Awdotja beifaͤllig. 

„Alſo liegt auch dabei die Schuld wieder auf meiner Seite!“ 
entgegnete Luſchin gekraͤnkt. 

„Sehen Sie, Peter Petrowitſch,“ fuͤgte Pulcheria Alexan— 
drowna, mutiger werdend, hinzu, „Sie beſchuldigen immer Ro— 
dion, und doch haben Sie auch ſelbſt eben erſt in Ihrem Briefe 
eine Unwahrheit uͤber ihn geſchrieben.“ 

„Ich erinnere mich nicht, irgendwelche Unwahrheit geſchrieben 
zu haben.“ 

„Sie haben geſchrieben,“ ſagte Raſkolnikow in ſcharfem Tone, 
ohne ſich zu Luſchin hinzuwenden, „ich haͤtte geſtern das Geld 
nicht der Witwe des Überfahrenen gegeben, wie das tatfächlich 
der Fall war, ſondern ſeiner Tochter (die ich vor dem geſtrigen 
Tage uͤberhaupt noch nie geſehen hatte). Sie haben das ge— 


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ſchrieben in der Abſicht, mich mit meinen Angehörigen zu ent: 
zweien, und haben auch zu dieſem Zwecke eine ſchmaͤhliche Зе: 
merkung über den Lebenswandel des jungen Mädchens hinzu— 
gefuͤgt, das Sie gar nicht kennen. All das iſt nichts als Klatſch— 
ſucht und Gemeinheit.“ 

„Entſchuldigen Sie, mein Herr,“ erwiderte Luſchin vor Wut 
zitternd, „in meinem Briefe habe ich mich uͤber Ihre Eigen— 
ſchaften und Ihre Handlungsweiſe lediglich in der Abſicht aus— 
gelaſſen, um eben dadurch eine Bitte Ihrer Schweſter und Ihrer 
Frau Mutter zu erfüllen; denn dieſe hatten mich gebeten, ihnen 
zu ſchildern, wie ich Sie vorgefunden und welchen Eindruck Sie 
auf mich gemacht haͤtten. Was meine Angaben in meinem Briefe 
anlangt, ſo moͤchte ich Sie erſuchen, mir auch nur eine einzige 
unwahre Zeile darin aufzuweiſen, alſo zu zeigen, daß Sie das 
Geld nicht ausgegeben haben und daß zu dieſer allerdings un— 
gluͤcklichen Familie keine unwuͤrdigen Mitglieder gehören.” 

„Meiner Anſicht nach ſind Sie mit allen Ihren Vorzuͤgen nicht 
ſo viel wert wie der kleine Finger dieſes ungluͤcklichen Maͤdchens, 
auf das Sie einen Stein werfen.“ 

„Alſo wuͤrden Sie auch kein Bedenken tragen, ſie in die Geſell— 
ſchaft Ihrer Mutter und Ihrer Schweſter einzufuͤhren?“ 

„Das habe ich bereits getan, wenn Sie das intereſſiert. Ich 
habe ſie heute aufgefordert, neben meiner Mutter und neben 
Awdotja Platz zu nehmen.“ 

„Rodion!“ rief Pulcheria Alexandrowna aus. 

Awdotja wurde rot; Raſumichin zog die Augenbrauen zu— 
ſammen. Luſchin laͤchelte hoͤhniſch und hochmuͤtig. 

„Nun ſehen Sie wohl ſelbſt, Awdotja Romanowna,“ ſagte er, 
„ob da eine Einigung moͤglich iſt. Ich hoffe jetzt, daß dieſe Sache 
ein fuͤr allemal klargeſtellt und erledigt iſt. Ich moͤchte mich nun 
entfernen, um bei dem weiteren vergnuͤglichen Zuſammenſein 


464 Schuld und Suͤhne 


Vierter Teil 465 


der Verwandten und bei der Mitteilung von Geheimniffen nicht 
zu ſtoͤren.“ Er ſtand von feinem Stuhle auf und griff nach dem 
Hute. „Aber beim Abſchiede bin ich ſo frei, zu bemerken, daß 
ich in Zukunft mit ſolchen Begegnungen und, ſozuſagen, Ver— 
mittlungsverſuchen verfchont zu bleiben hoffe. Sie, hochverehrte 
Pulcheria Alexandrowna, möchte ich ganz beſonders darum bitten, 
um ſo mehr, als auch mein Brief lediglich an Sie, und an nie— 
mand ſonſt, adreſſiert war.“ 

Pulcheria Alexandrowna fuͤhlte ſich etwas gekraͤnkt. 

„Aber Peter Petrowitſch, Sie wollen uns ja voͤllig unter Ihre 
Botmaͤßigkeit nehmen! Awdotja hat Ihnen doch den Grund ge— 
ſagt, weshalb wir Ihren Wunſch nicht erfuͤllt haben: ſie hatte 
dabei die beſten Abſichten. Und Sie ſchreiben auch an mich ſo, 
daß es wie ein Befehl klingt. Sollen wir denn jeden Ihrer 
Wuͤnſche als einen Befehl auffaſſen? Im Gegenteil moͤchte ich 
Ihnen bemerken, daß Sie jetzt uns gegenuͤber beſonders zart— 
fuͤhlend und freundlich ſein ſollten, weil wir alles im Stiche ge— 
laſſen haben und im Vertrauen auf Sie hierhergereiſt ſind und 
uns ſomit ohnehin ſchon beinahe in Ihrer Gewalt befinden.“ 

„Das iſt nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und 
namentlich nicht im jetzigen Augenblicke, wo Sie erfahren haben, 
daß Marfa Petrowna Ihnen dreitauſend Rubel vermacht hat. 
Und das ſcheint Ihnen ja recht gelegen gekommen zu ſein, wie 
ich aus dem neuen Tone, in dem Sie jetzt zu mir reden, ſchließen 
muß,“ fuͤgte er hoͤhniſch hinzu. 

„Nach dieſer Bemerkung koͤnnte man wirklich glauben, daß Sie 
bei Ihren Plänen auf unſere Hilfloſigkeit gebaut haben,“ ent: 
gegnete Awdotja gereizt. 

„Jetzt wenigſtens kann ich darauf nicht mehr bauen, und 
namentlich moͤchte ich nicht bei der Mitteilung der geheimen 
Vorſchlaͤge dieſes Herrn Swidrigailow ſtoͤren, mit deren Über: 
XII. so. 


—— — 


466 Schuld und Suͤhne 


mittlung er Ihren Bruder beauftragt hat und die, wie ich ſehe, 
Ihnen hochwichtig und vielleicht auch ſehr angenehm ſind.“ 

„Ach, mein Gott!“ rief Pulcheria Alexandrowna. 

Raſumichin vermochte kaum noch auf ſeinem Stuhle ſitzen zu 
bleiben. 

„Schaͤmſt du dich jetzt nicht, Schweſter?“ fragte Raſkolnikow. 

„Ja, ich ſchaͤme mich, Rodion!“ antwortete Awdotja. „Peter 
Petrowitſch, gehen Sie hinaus!“ wandte fie ſich an dieſen; ſie 
war ganz blaß vor Zorn. 

Peter Petrowitſch ſchien ein ſolches Reſultat des Geſpraͤches 
ganz und gar nicht erwartet zu haben. Er hatte ſich allzu ſehr 
auf feine Perſoͤnlichkeit, auf feine Obmacht und auf die Hilf— 
loſigkeit feiner Opfer verlaſſen. Er konnte es auch jetzt nicht 
faſſen. Er erbleichte, und ſeine Lippen zitterten. 

„Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt, von einem ſolchen 
Scheidegruße geleitet, zu dieſer Tür hinausgehe, dann — be: 
denken Sie das wohl! — kehre ich nie wieder zuruͤck. Überlegen 
Sie ſich das recht ordentlich! Ich halte Wort.“ 

„Welche Unverſchaͤmtheit!“ rief Awdotja und erhob ſich ſchnell 
von ihrem Platze. „Ich wuͤnſche auch gar nicht, daß Sie wieder— 
kommen!“ 

„Aha! Alſo ſo ſteht es!“ rief Luſchin, der bis zum letzten Augen— 
blicke einen ſolchen Ausgang gar nicht fuͤr moͤglich gehalten hatte 
und daher jetzt ganz ſeine Haltung verlor. „Alſo ſo ſteht es! 
Aber wiſſen Sie auch wohl, Awdotja Romanowna, daß ich da— 
gegen Proteſt einlegen koͤnnte?“ 

„Was haben Sie fuͤr ein Recht, in dieſer Art zu ihr zu ſprechen?“ 
griff nun auch Pulcheria Alexandrowna erregt in das Geſpraͤch 
ein. „Wieſo koͤnnen Sie Proteſt einlegen? Was fuͤr Rechte haben 
Sie denn uns gegenuͤber? Und einem Menſchen wie Sie ſollte 
ich meine Awdotja geben? Gehen Sie nur fort, und laſſen Sie 


Vierter Teil 467 


uns fünftig ganz in Ruhe! Wir tragen felbft die Schuld, weil 
wir uns auf eine fo unnoble Sache eingelaffen haben, und ich 
am allermeiſten ...“ 

„Aber Sie haben mich“, ſprudelte Luſchin in ſeiner Wut her— 
aus, „durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie ſich 
jetzt losſagen wollen, Pulcheria Alexandrowna, ... und... 
und ſchließlich, ſchließlich bin ich dadurch ſozuſagen zu Ausgaben 
verleitet worden ...“ 

Dieſe letzte dreiſte und taktloſe Behauptung entſprach ſo ſehr | 
dem geſamten Charakter Luſchins, daß Raſkolnikow, der vor Zorn 
und vor dem Bemuͤhen ſich zu beherrſchen ganz bleich war, ſich 
nicht mehr halten konnte und laut auflachte. Aber Pulcheria 
Alexandrowna geriet außer ſich. 

„Zu Ausgaben? Zu was fuͤr Ausgaben denn? Sie meinen 
doch wohl nicht etwa gar unſern Koffer? Den hat ja doch ein 
Schaffner Ihnen zu Gefallen umſonſt herbefoͤrdert. Mein Gott, 
und wir ſollen Sie gebunden haben! Beſinnen Sie ſich doch nur, 
Peter Petrowitſch! Sie ſind es ja geweſen, der uns an Haͤnden 
und Fuͤßen gebunden hatte, nicht wir Sie!“ 

„Hoͤr auf, Mama, bitte, hoͤr auf!“ bat Awdotja. „Peter Petro— 
witſch, ſeien Sie ſo gut und gehen Sie weg!“ 

„Ich gehe; nur noch ein letztes Wort!“ ſagte er; alle Selbſt— 
beherrſchung war ihm abhanden gekommen. „Ihre Frau Mutter 
hat, wie es ſcheint, ganz vergeſſen, daß ich ſozuſagen trotz der in 
der ganzen Stadt uͤber Ihren Ruf in Umlauf befindlichen Ge— 
ruͤchte gewillt war, Sie zu heiraten. Wenn ich ſo Ihretwegen 
auf die öffentliche Meinung keine Ruͤckſicht nahm und Ihren Ruf- 
wiederherſtellte, ſo haͤtte ich doch natuͤrlich auf eine Gegenleiſtung 
hoffen und ſogar von Ihrer Seite Dankbarkeit verlangen koͤnnen. 
. . Und erſt jetzt find mir die Augen aufgegangen. Ich ſehe 
nun ſelbſt ein, daß ich vielleicht ſehr übereilt gehandelt habe, in: 


= 
3 
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468 Schuld und Suͤhne 


dem ich auf die Stimme der geſamten Geſellſchaft keine Ruͤck— 
ſicht nahm ...“ 

„Na, das ſoll dir ſchlecht bekommen!“ rief Raſumichin, ſprang 
vom Stuhle auf und ſchickte ſich an, taͤtlich zu werden. 

„Sie ſind ein ſchlechter, gemeiner Menſch!“ ſagte Awdotja. 

„Schweig ſtill und ruͤhr ihn nicht an!“ rief Raſkolnikow und 
hielt Raſumichin zuruͤck; dann trat er ganz nahe an Luſchin heran, 
faſt Geſicht an Geſicht, und ſagte leiſe, langſam und deutlich: 
„Gehen Sie hinaus! Und kein Wort weiter, ſonſt ...“ 

Peter Petrowitſch blickte ihn einige Sekunden lang mit blaſſem, 
wutverzerrtem Geſichte an; darauf wandte er ſich um und ging 
hinaus. Selten hat wohl jemand einen ſo grimmigen Haß gegen 
einen andern in ſeinem Herzen davongetragen, wie dieſer Menſch 
gegen Raskolnikow. Ihm und nur ihm allein maß er die Schuld 
an allem Geſchehenen bei. Merkwuͤrdigerweiſe bildete er ſich, 
als er ſchon die Treppe hinunterſtieg, immer noch ein, daß die 
Sache vielleicht doch noch nicht ganz verloren ſei und, ſoweit 
dabei die Damen allein in Betracht kaͤmen, ſich ſogar recht wohl 
noch in Ordnung bringen laſſe. 


III 


Die Hauptſache war, daß er bis zum letzten Augenblicke einen 
ſolchen Ausgang in keiner Weiſe erwartet hatte. Noch bis ganz 
zuletzt hatte er die Oberhand zu haben geglaubt und gar nicht 
an die Moͤglichkeit gedacht, daß ſich zwei arme, ſchutzloſe Frauen 
ſeiner Gewalt entziehen koͤnnten. Zu dieſer Überzeugung trugen 
ſeine Eitelkeit und jener hohe Grad von Selbſtbewußtſein viel 
bei, den man am treffendſten als ein „Verliebtſein in ſich ſelbſt“ 
bezeichnen kann. Peter Petrowitſch, der ſich aus ſehr niedriger 
Lebenslage hinaufgearbeitet hatte, hatte ſich eine uͤbermaͤßige 
Bewunderung ſeiner eigenen Perſon angewoͤhnt; er hegte eine 


Vierter Teil 469 


ſehr hohe Meinung von ſeinem Verſtande und ſeinen Faͤhig— 
keiten und liebäugelte ſogar manchmal, wenn er allein war, im 
Spiegel mit ſeinem Geſichte. Mehr aber als alles andre in der 
Welt liebte und ſchaͤtzte er ſein Geld, das er ſich durch Arbeit 
und mancherlei andre Mittel erworben hatte; denn dieſes Geld 
ſtellte ihn, wie er meinte, mit allen, die ihn geiſtig uͤberragten, 
doch wieder auf gleiche Stufe. 

Als er jetzt Awdotja mit Bitterkeit daran erinnert hatte, daß 
er trotz des uͤblen Geredes uͤber ſie gewillt geweſen ſei, ſie zu 
heiraten, hatte Peter Petrowitſch vollkommen ſeiner Über— 
zeugung gemaͤß geſprochen; er empfand ſogar eine tiefe Ent— 
ruͤſtung uͤber einen ſolchen ſchwarzen Undank, wie er es bei ſich 
nannte. Und doch war er ſchon damals, als er um Awdotja an— 
hielt, von der Sinnloſigkeit aller dieſer Klatfchereien völlig über: 
zeugt geweſen; ſie waren ja auch von Marfa Petrowna ſelbſt 
in aller Offentlichkeit als unwahr erwieſen worden und wurden 
laͤngſt von niemand in der Stadt mehr aufrechterhalten, wo 
man vielmehr nun eifrig fuͤr Awdotja Partei nahm. Auch haͤtte 
er ſelbſt jetzt nicht in Abrede geſtellt, daß er das alles ſchon da— 
mals gewußt hatte. Aber trotzdem rechnete er ſich ſeinen Ent— 
ſchluß, Awdotja zu ſich heraufzuheben, hoch an und hielt ihn fuͤr 
eine große, edle Tat. Indem er dies ſoeben Awdotja gegenuͤber 
ausgeſprochen hatte, hatte er einen geheimen, gern gehegten 
Gedanken verlautbart, an dem er ſelbſt ſchon mehr als einmal 
ſeine Freude gehabt hatte, und er fand es unbegreiflich, daß 
andre ſeiner edlen Tat ihre Bewunderung verſagten. Als er da— 
mals Raſkolnikow ſeinen Beſuch machte, war er mit dem Ge— 
fuͤhle eines Wohltaͤters eingetreten, der ſich anſchickt, die Fruͤchte 
ſeines Edelmutes zu ernten und ſuͤß mundende Lobeserhebungen 
zu hoͤren. Auch als er jetzt die Treppe hinunterſtieg, hielt er ſich 
natürlich für tief beleidigt und verkannt. 


470 Schuld und Sühne 


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Awdotja war ihm geradezu unentbehrlich; daß er auf fie vers 
sichten follte, war ihm ganz undenkbar. Schon lange, ſchon {ей 
mehreren Jahren hatte er mit wonnigem Behagen von feiner 
künftigen Heirat geträumt, hatte aber immer noch mehr Geld 
dazugeſpart und gewartet. Mit Entzüden hatte er ſich im де: 
beimſten Winkel feines Innern das Bild eines Mädchens aus— 
gemalt: wohlgeſittet ſollte ſie ſein und arm (arm unter allen 
Umftänden), noch ſehr jung, ſehr huͤbſch, von guter Herkunft, ge— 
bildet, ſehr ſchuͤchtern; fie müßte bereits ſehr viel Not und Elend 
durchgemacht haben, ſich völlig an ihn anſchmiegen, ihn ihr ganzes 
Leben lang als ihren Retter betrachten, voll Ehrfurcht zu ihm 
aufſchauen, ſich ihm unterordnen und ihn, einzig und allein ihn, 
bewundern. Wieviel huͤbſche Szenen, wieviel wonnige Idylle 
hatte ihm nicht uͤber dieſes intereſſante, lockende Thema ſeine 
Phantaſie vor die Augen gefuͤhrt, wenn er ſich in der Stille von 
ſeinen Geſchaͤften erholte! Und ſiehe da, der Traum ſo vieler 
Jahre hatte ſich beinahe ſchon verwirklicht: Awdotjas Schoͤnheit 
und Bildung hatten ihn in ſtaunende Bewunderung verſetzt, ihre 
hilfloſe Lage ihn gewaltig gereizt. Hier hatte er noch erheblich 
mehr gefunden als das, wovon er bisher geſchwaͤrmt hatte: er 
hatte ein ſtolzes, charakterfeſtes, tugendhaftes Maͤdchen gefunden, 
das ihn an Bildung und geiſtiger Entwickelung uͤberragte (das 
fühlte er), und ſolch ein Weſen ſollte ihm nun das ganze Leben 
lang fuͤr ſeine edle Tat in Sklavenart dankbar ſein und ſich in 
tiefſter Ehrfurcht vor ihm beugen, und er wuͤrde ihr unum— 
ſchraͤnkter, allgewaltiger Herr und Gebieter ſein! ... Und nun 
war damit auch noch ſehr gluͤcklich zuſammengetroffen, daß er 
kurz vorher nach langem Überlegen und Zoͤgern ſich endlich 
definitiv entſchloſſen hatte, ſeine Laufbahn zu aͤndern und in 
einen weiteren Wirkungskreis einzutreten; dadurch hoffte er dann 
auch allmählich in eine höhere Geſellſchaftsſchicht einzudringen, 


Vierter Teil 471 


was ſchon laͤngſt der Gegenſtand feiner ſehnſuͤchtigen Gedanken 
geweſen war ... Kurz, er hatte ſich entſchloſſen, es mit dem 
Leben in Petersburg zu verſuchen. Er wußte, daß ſich durch 
Frauen ſehr viel erreichen laͤßt. Der von einer reizenden, tugend— 
haften, gebildeten Frau ausgehende Zauber konnte ihm ſeine 
Karriere erſtaunlich erleichtern, einflußreiche Leute an ihn heran— 
ziehen, ihm einen Glorienſchein verleihen. Und nun waren all 
dieſe Hoffnungen vernichtet! Dieſe ploͤtzliche, ungeheuerliche Auf— 
hebung der Verlobung wirkte auf ihn wie ein Blitzſtrahl. Aber 
das war doch nur ein ſchaͤndlicher Scherz, ein Unſinn! Er hatte 
ihnen ja nur ein bißchen imponieren wollen, war nicht einmal 
dazu gekommen, ſich ordentlich auszuſprechen; er hatte einfach 
nur ein wenig geſpaßt, ſich etwas gehen laſſen, und nun hatte 
die Sache ein ſo ernſtes Ende genommen! Und ſchließlich, er 
liebte ja Awdotja ſogar ſchon auf ſeine Weiſe, er herrſchte uͤber 
fie bereits in feinen Zukunftstraͤumen, — und nun plotzlich! ... 
Nein! Morgen, gleich morgen mußte alles wieder in Ordnung 
gebracht, ausgeglichen, repariert werden; vor allen Dingen aber 
mußte dieſer arrogante Milchbart, der an allem ſchuld war, aus 
dem Wege geräumt werden. Mit einer unbehaglichen Empfin— 
dung erinnerte er ſich unwillkuͤrlich auch an Raſumichin, . .. 
indeſſen in dieſer Hinſicht beruhigte er ſich bald wieder: das waͤre 
ja noch beſſer, wenn auch der mit ihm auf gleiche Stufe geſtellt 
wuͤrde! Vor wem er ſich aber wirklich im Ernſte fuͤrchtete, das 
war Swidrigailow ... Kurz, es ſtand ihm mancherlei unan— 
genehme Taͤtigkeit bevor ... 

„Nein, ich bin am meiſten ſchuld!“ ſagte Awdotja und umarmte 
und kuͤßte ihre Mutter. „Ich habe mich von ſeinem Gelde ver— 
locken laſſen; aber ich ſchwoͤre dir, Bruder, ich habe keine Ahnung 
davon gehabt, daß er ein ſo unwuͤrdiger Menſch iſt. Haͤtte ich 


Ei №. 


472 Schuld und Sühne 


— — 


— — — 


locken laſſen! Urteile nicht zu ſtreng über mich, Bruder!“ 

„Gott hat uns gerettet! Gott hat uns gerettet!“ murmelte 
Pulcheria Alexandrowna; aber fie war noch ganz benommen 
und ſchien ſich über alles Vorgefallene noch nicht recht klar ges 
worden zu ſein. 

Alle freuten ſich, und fuͤnf Minuten darauf lachten ſie ſogar. 
Nur wurde Awdotja mitunter blaß und zog die Brauen zu— 
ſammen, wenn ſie ſich des Geſchehenen erinnerte. Pulcheria 
Alexandrowna haͤtte vorher nie gedacht, daß auch ſie ſelbſt ſich 
darüber freuen würde: noch am Vormittag war ihr ein Bruch 
mit Luſchin als ein furchtbares Ungluͤck erſchienen. Raſumichin 
aber war geradezu entzüdt. Er wagte noch nicht, feine Gluͤck— 
ſeligkeit in vollem Umfange zu zeigen; aber er zitterte am ganzen 
Leibe wie im Fieber, als waͤre ihm ein zentnerſchwerer Stein 
vom Herzen gefallen. Jetzt hatte er, ſeiner Anſchauung nach, 
das Recht, ihnen ſein ganzes Leben zu weihen, ihnen zu dienen. 
. . . Und was konnte ſich jetzt nicht ſonſt noch alles begeben! 
Jedoch verſcheuchte er aͤngſtlich alle weitergehenden Gedanken 
und fuͤrchtete ſich vor ſeiner eigenen Phantaſie. Nur Raſkol⸗ 
nikow ſaß immer noch auf demſelben Platze, mit beinahe duͤſterem 
und ſogar zerſtreutem Geſichtsausdrucke. Er, der am allermeiſten 
auf Luſchins Entfernung beſtanden hatte, ſchien ſich jetzt weniger 
als alle andern fuͤr das Vorgefallene zu intereſſieren. Awdotja 
Jam unwillkuͤrlich auf den Gedanken, daß er ihr vielleicht immer 
noch ſehr boͤſe ſei, und Pulcheria Alexandrowna betrachtete ihn 
mit heimlicher Angſt. 

„Was hat dir denn Swidrigailow geſagt?“ fragte Awdotja, zu 
ihm tretend. 

„Ach ja, ja!“ rief Pulcheria Alexandrowna. 

Raſkolnikow hob den Kopf in die Höhe. 


Vierter Teil 473 


— —— . —ͤUä — F — 


„Er will dir durchaus zehntauſend Rubel ſchenken und ſpricht 
dabei den Wunſch aus, mit dir einmal in meiner Gegenwart 
zuſammenzukommen.“ 

„Mit ihr zuſammenzukommen! Um keinen Preis!“ rief Pul— 
cheria Alexandrowna. „Und wie kann er es wagen, ihr Geld 
anzubieten!“ 

Darauf berichtete Raſkolnikow in recht trockener Art uͤberſein Ge— 
ſpraͤch mit Swidrigailow, erwaͤhnte aber nichts davon, daß Marfa 
Petrowna dieſem als Geiſt erſchienen ſei, um nicht in ein un— 
noͤtiges Geſpraͤchsthema hineinzugeraten; denn er empfand einen 
Widerwillen dagegen, irgendein Geſpraͤch zu fuͤhren, das nicht 
durchaus notwendig war. 

„Was haſt du ihm geantwortet?“ fragte Awdotja. 

„Zuerſt habe ich geſagt, ich wuͤrde dir nichts davon mitteilen. 
Darauf erklaͤrte er, dann wuͤrde er ſelbſt mit allen ihm zu Ge— 
bote ſtehenden Mitteln eine Begegnung mit dir herbeizufuͤhren 
ſuchen. Er verſicherte, daß ſeine Leidenſchaft fuͤr dich eine Ver— 
ruͤcktheit geweſen ſei und daß er jetzt nichts mehr fuͤr dich emp— 
finde ... Er will nicht, daß du Luſchin heirateſt .. . Er ſprach 
uͤberhaupt verworren und unklar.“ 

„Wie erklaͤrſt du dir ſelbſt fein Verhalten, Rodion? Was hat 
er dir fuͤr einen Eindruck gemacht?“ 

„Ich muß geſtehen, ich ſehe da noch nicht klar. Er bietet dir 
zehntauſend Rubel an und ſagt ſelbſt, daß er nicht reich ſei. Er 
erklaͤrt, er wolle eine groͤßere Reiſe antreten, und nach zehn 
Minuten hat er bereits vergeſſen, daß er davon geſprochen hat. 
Dann wieder ſagt er auf einmal, er wolle ſich verheiraten und 
habe bereits ein junges Maͤdchen in Ausſicht. Jedenfalls ver— 
folgt er eine beſtimmte Abſicht, und aller Wahrſcheinlichkeit nach 
eine ſchlechte. Aber andrerſeits iſt ſchwer anzunehmen, daß er 
die Sache ſo dumm angreifen wuͤrde, wenn er gegen dich Schlech— 


474 


tes im Schilde führte .. . Ich habe natürlich dieſes Geld in 
deinem Namen ein für allemal abgelehnt. Überhaupt machte er 
mir einen ſehr ſonderbaren Eindruck, und .. . ich glaubte ſogar 
. . . Anzeichen von Verruͤcktheit bei ihm wahrzunehmen. Moͤg— 
lich aber auch, daß ich mich geirrt habe; vielleicht liegt hier ein— 
fach ein abſonderlicher Überliſtungsverſuch vor. Der Tod ſeiner 
Frau hat, wie es ſcheint, auf ihn Eindruck gemacht .. 8 

„Gott ſchenke ihrer Seele die ewige Ruhe!“ rief Pulcheria 
Alexandrowna. „Mein lebelang will ich fuͤr ſie zu Gott beten! 
Was wuͤrde jetzt aus uns werden, Awdotja, ohne dieſe drei⸗ 
tauſend Rubel! O Gott, die ſind ja wie vom Himmel gefallen! 
Ach, Rodion, wir hatten ja heute fruͤh nur noch drei Rubel im 
Vermögen, und ich und Awdotja uͤberlegten nur noch, wie wir 
irgendwo die Uhr moͤglichſt ſchnell verſetzen konnten, um nur 
nicht dieſen Menſchen bitten zu muͤſſen, ehe es ihm nicht ſelbſt 
in den Sinn kaͤme, uns etwas anzubieten.“ 

Dem jungen Maͤdchen war Swidrigailows Anerbieten gar zu 
uͤberraſchend gekommen; fie ſtand noch immer in Gedanken ver— 
ſunken. 

„Er hat irgend etwas Schreckliches vor!“ ſprach fie faſt fluͤſternd 
vor ſich hin und ſchauderte zuſammen. 

Raſkolnikow bemerkte dieſe gewaltige Furcht. 

„Ich glaube, ich werde ihn noch manchmal zu ſehen bekommen,“ 
ſagte er zu Awdotja. 

„Wir wollen ihn beobachten! Ich werde ſchon hinter ihm her 
ſein!“ rief Raſumichin energiſch. „Nicht aus den Augen laſſe ich 
den Menſchen! Rodion hat es mir erlaubt. Er hat ſelbſt zu mir 
geſagt: ‚Beſchuͤtze meine Schweſter!' Und wollen auch Sie es 
mir erlauben, Awdotja Romanowna?“ 

Awdotja lächelte und reichte ihm die Hand; aber ihr Geſicht 
verlor nicht den ſorgenvollen Ausdruck. Pulcheria Alexandrowna 


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Vierter Zeil 475 


blickte fie ſchuͤchtern an, fühlte ſich indes durch die dreitauſend 
Rubel offenbar nicht wenig beruhigt. 

Eine Viertelſtunde darauf befanden ſie ſich alle im lebhafteſten 
Geſpraͤche. Sogar Raſkolnikow, obgleich er ſelbſt nicht ſprach, 
hoͤrte eine Zeitlang aufmerkſam zu. Raſumichin redete uner— 
muͤdlich. 

„Und warum, warum ſollten Sie von hier wieder wegziehen?“ 
rief er entzuͤckt und begeiſtert aus. „Was koͤnnen Sie denn in 
dem kleinen Neſte dort anfangen? Und die Hauptſache iſt doch: 
hier ſind Sie alle beieinander; und Sie haben einander noͤtig, 
ſehr noͤtig, verſtehen Sie mich! Na, verſuchen Sie es hier wenig— 
ſtens eine Zeitlang ... Und mich nehmen Sie als Freund, als 
Kompagnon an, und ich verſichere Sie, das Unternehmen, das 
wir gruͤnden wollen, wird famos proſperieren. Hoͤren Sie nur 
zu, ich will Ihnen alles im einzelnen auseinanderſetzen, das ganze 
Projekt! Schon heute fruͤh, als noch nichts paſſiert war, fuhr 
mir der Gedanke durch den Kopf . . . Alſo die Sache ift die: ich 
habe einen Onkel (ich werde Sie mit ihm bekannt machen; ein 
ſehr vernünftiger, achtungswerter alter Herr), und dieſer Onkel 
beſitzt ein Kapital von tauſend Rubeln; aber er ſelbſt lebt von 
ſeiner Penſion und braucht weiter nichts. Schon ſeit mehr als 
einem Jahre ſetzt er mir mit Bitten zu, ich möchte dieſe tauſend 
Rubel von ihm annehmen und ſie ihm mit ſechs Prozent ver— 
zinſen. Ich durchſchaue ja ſeine Schliche: er will mich einfach 
unterſtuͤtzen. Im vorigen Jahre brauchte ich nicht notwendig 
Geld; aber in dieſem Jahre habe ich nur auf ſeine Ankunft ge— 
wartet und bin entſchloſſen, das Geld anzunehmen. Dann geben 
Sie von Ihren dreitauſend noch tauſend dazu; das reicht fuͤr den 
erſten Anfang; wir aſſoziieren uns. Aber nun: von welcher Art 
wird das Unternehmen ſein?“ 

Nun begann Raſumichin ſein Projekt darzulegen und redete 


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476 Schuld und Suͤhne 


ein langes und breites daruͤber, daß faſt alle unſre Buch— 
händler und Verleger kein rechtes Verſtaͤndnis für Bücher hätten 
und daher auch gewoͤhnlich beim Verlegen ſchlechte Geſchaͤfte 
machten, daß aber wirklich gute Verlagsartikel ſich immer ren: 
tierten und Gewinn abwärfen, manchmal ſogar recht bedeuten— 
den. Die Verlagstaͤtigkeit, das war das Ideal Raſumichins, der 
ſchon zwei Jahre lang für andre gearbeitet hatte und drei euro: 
paͤiſche Sprachen ganz gut kannte, obgleich er vor ſechs Tagen 
zu Raſkolnikow gefagt hatte, er ſei im Deutſchen ſchwach. Aber 
das hatte er damals eben nur geſagt, um ihn dazu zu bewegen, 
die Hälfte der Überfegungsarbeit und die drei Rubel Vorſchuß 
anzunehmen; er hatte damals gelogen, und Raſkolnikow hatte 
gewußt, daß er log. 

„Warum ſollen wir uns denn unſern Vorteil entgehen laſſen, 
wenn uns plotzlich das wichtigſte Hilfsmittel zugefallen ift: eigenes 
Anlagekapital?“ ſagte Raſumichin in hellem Eifer. „Natuͤrlich 
wird es genug Arbeit koſten; aber arbeiten wollen wir ſchon, 
Sie, Awdotja Romanowna, und ich, und Rodion ... Manche 
Buͤcher werfen jetzt einen vorzuͤglichen Profit ab! Und die beſte 
Garantie fuͤr das Gedeihen unſeres Unternehmens liegt darin, 
daß wir immer wiſſen werden, was gerade uͤberſetzt werden muß. 
Wir wollen uͤberſetzen und verlegen und ſtudieren, alles zugleich. 
Ich kann mich dabei nuͤtzlich machen, weil ich bereits Erfahrung 
beſitze. Es ſind jetzt faſt ſchon zwei Jahre, daß ich mit Verlegern 
zu ſchaffen habe, und ich kenne alle ihre Kniffe und Pfiffe; eine 
Hexerei iſt es nicht, das koͤnnen Sie mir glauben! Warum ſollen 
wir denn nicht zuſchnappen, wenn ſich uns ein fetter Biſſen dar: 
bietet! Ich kenne ſelbſt zwei, drei außerordentlich geeignete 
Buͤcher; das iſt ein Geheimnis, das ich ſorgſam bewahre. Die 
bloße Idee, ſie zu uͤberſetzen und zu verlegen, iſt hundert Rubel 
pro Buch wert, und bei dem einen von ihnen verkaufe ich die 


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Vierter Teil 477 


Idee nicht für fünfhundert Rubel. Und was meinen Sie wohl: 
wenn ich meine Idee einem Verleger mitteilte, wuͤrde er am 
Ende noch ſeine Bedenken haben, ſo ein Eſel! Und was die eigent— 
lichen Geſchaͤftsſachen anlangt, alſo Druck, Papier, Verkauf, ſo 
uͤbertragen Sie das nur mir! Ich kenne alle Schliche. Wir wollen 
klein anfangen und uns {фоп in die Höhe bringen; wenigſtens 
werden wir unſern Unterhalt davon haben und jedenfalls das 
hineingeſteckte Geld wieder herausbekommen.“ 

Awdotjas Augen glaͤnzten. 

„Was Sie uns da vortragen, gefaͤllt mir ſehr, Dmitri Proko— 
fjitſch,“ ſagte fie. 

„Ich verſtehe natürlich nichts davon,“ bemerkte Pulcheria Aler- 
androwna. „Es kann ja ſein, daß es ganz gut iſt; aber Gott mags 
wiſſen. Es iſt alles ſo neuartig und fremd. Natuͤrlich muͤſſen wir 
hierbleiben, mindeſtens für die naͤchſte Zeit ..“ 

Sie blickte Rodion an. 

„Wie denkſt du daruͤber, Bruder?“ fragte Awdotja. 

„Ich denke, daß es eine ſehr gute Idee von ihm iſt,“ antwortete 
er. „An eine wirkliche Verlagsfirma darf man ſelbſtverſtaͤndlich 
vorlaͤufig nicht denken; aber ſo etwa fuͤnf bis ſechs Buͤcher wird 
man in der Tat mit unzweifelhaftem Erfolge verlegen koͤnnen. 
Ich kenne auch ſelbſt ein Werk, das mit Sicherheit gut gehen wird. 
Und was ſeine Faͤhigkeit, die Sache durchzufuͤhren, anlangt, ſo 
kann daran kein Zweifel fein; er verſteht die Sache ... Aber 
ihr werdet ja noch Zeit haben, alles miteinander zu beſprechen ...“ 

„Hurra!“ rief Raſumichin. „Nun paſſen Sie einmal auf: hier 
in dieſem ſelben Hauſe iſt eine Wohnung zu haben, bei denſelben 
Wirtsleuten. Sie liegt ganz fuͤr ſich, abgeſondert, und ſteht mit 
dieſem Hotel garni nicht in Verbindung; ſie iſt moͤbliert, der 
Preis iſt maͤßig, es ſind drei Stuͤbchen. Alſo die ſollten Sie fuͤrs 
erſte mieten. Die Uhr werde ich morgen fuͤr Sie verſetzen und 


475 Schuld und Sühne 


Ionen das Geld bringen, und dann wird alles in Di 
fommen. Und die Hauptſache iſt, daß Sie alle drei zuſammen 
wohnen konnen; denn auch Rodion kann bei Ihnen wohnen. 
Wo willſt du denn hin, Rodion?“ 

„Wie, Rodion, du willſt ſchon fortgehen?“ fragte Pulcheria 
Alexandrowna ganz erſchrocken. 

„In einem ſolchen Augenblick?“ rief Raſumichin. 

Awdotja blickte ihren Bruder mit mißtrauifcher Verwunderung 
an. Er hielt die Muͤtze in der Hand und ſchickte ſich an weg— 
zugehen. 

„Na aber, ihr tut ja gerade, als ob ihr mich begraben wolltet 
oder fuͤr immer von mir Abſchied naͤhmet!“ ſagte er in ſeltſamem 
Tone. Es ſah aus, als ob er lächelte; aber ein wirkliches Lächeln 
war es nicht. „Allerdings, wer weiß, vielleicht iſt es auch das 
letzte Mal, daß wir uns ſehen,“ fuͤgte er unvermutet noch hinzu. 

Er hatte das eigentlich nur denken wollen; aber wie von ſelbſt 
waren es vernehmliche Worte geworden. 

„Aber was iſt denn mit dir?“ rief die Mutter. 

„Wohin gehſt du, Rodion?“ fragte Awdotja in auffallend 
ernſtem Tone. 

„Ich habe nichts Beſonderes vor, einen notwendigen Weg,“ 
antwortete er unklar und unbeſtimmt, als ſei er unſicher, was 
er ſagen ſolle; aber ſein blaſſes N trug den Ausdruck feſter 
Entſchloſſenheit. 

„Ich nahm mir vor, . .. als ich hierherging, ... ich nahm 
mir vor, Ihnen, Mama, . . . und dir, Awdotja, zu ſagen, daß 
es wohl das beſte iſt, wenn wir uns eine Zeitlang trennen. Ich 
fühle mich nicht wohl, ich habe eine ſolche Unruhe, ... ich komme 
ſpaͤter wieder zu euch, ich komme ganz von ſelbſt wieder, ſobald 

es möglich iſt. Ich werde an euch denken und euch lieb Ве: 
balten .. . Aber laßt mich jetzt, laßt mich allein! Ich habe dieſen 


j RER BERN 


Vierter Teil 479 


Entſchluß gefaßt, . .. ſchon fruͤher ... Ich habe mich Гей dazu 
entſchloſſen ... Was auch mit mir geſchehen möge, ob ich nun 
zugrunde gehe oder nicht, jedenfalls will ich allein ſein. Vergeßt 
mich völlig; das iſt das Beſte ... Erkundigt euch nicht nach mir. 
Sobald es nötig iſt, komme ich ſelbſt wieder, oder . .. ich rufe 
euch zu mir. Vielleicht wird noch alles gut! . . . Aber jetzt, wenn 
ihr mich liebt, trennt euch von mir ... Sonſt fange ich an, 
euch zu haſſen; das fühle ich ... Lebt wohl!“ 

„O Gott, o Gott!“ rief Pulcheria Alexandrowna. 

Mutter und Schweſter waren beide aufs tiefſte erſchrocken; 
nicht minder Raſumichin. 

„Rodion, Rodion! Sei doch wieder gut zu uns; laß uns doch 
miteinander ſo weiterleben, wie wir es immer getan haben!“ 
rief die arme Mutter. 

Langſam wandte er ſich zur Tuͤr und ging langſam zu ihr hin, 
um das Zimmer zu verlaſſen. Awdotja eilte ihm nach. 

„Bruder! Was tuſt du unſrer Mutter an!“ fluͤſterte ſie; in 
ihren Augen funkelte die Entruͤſtung. 

Er ſchaute ſie truͤbe an. 

„Ihr braucht euch nicht zu beunruhigen; ich komme wieder; 
ich werde manchmal herankommen!“ murmelte er halblaut, als 
waͤre er ſich ſelbſt nicht recht bewußt, was er eigentlich ſagen 
wollte, und ging aus dem Zimmer. 

„Ein boͤſer, gefuͤhlloſer Egoiſt!“ rief Awdotja. 

„Verruͤckt iſt er, nicht gefuͤhllos! Er iſt geiſteskrank! Sehen Sie 
denn das nicht? Sonſt wären Sie ja ſelbſt gefuͤhllos! ..“ fluͤſterte 
Raſumichin ihr in größter Erregung ins Ohr und drüdte ihr 
kraͤftig die Hand. 

„Ich komme gleich wieder!“ rief er Pulcheria Alexandrowna 
zu, die vor Schreck wie gelaͤhmt war, und ſtuͤrzte aus dem Zimmer. 

Raſkolnikow wartete am Ende des Korridors auf ihn. 


Ich hatte es mir gedacht, daß du noch zu mir herauskommen 
wuͤrdeſt,“ ſagte er. „Geh wieder zu ihnen zuruͤck und bleib bei 
ihnen ... Bleib auch morgen bei ihnen .. . und immer. Ich... 
komme vielleicht wieder, . . . wenn ich kann. Lebe wohl!“ 

Und ohne ihm die Hand zu reichen, ging er davon. 

„Aber wo willſt du denn hin? Was haſt du nur? Was iſt mit 
dir los? Wie iſt ſo was nur moͤglich!“ murmelte Raſumichin 
ganz faſſungslos. 

Raſkolnikow blieb noch einmal ſtehen. 

„Ein fuͤr allemal: frage mich nie und nach nichts. Ich kann 
dir keine Antwort geben ... Komm nicht zu mir. Vielleicht 
komme ich wieder hierher ... Verlaß mich, ... aber die beiden 
da verlaß nicht! Verſtehſt du mich?“ 

Im Korridor war es dunkel; aber fie ftanden bei einer Lampe. 
Eine Minute lang blickten ſie einander ſchweigend an. Sein 
ganzes Leben lang erinnerte ſich Raſumichin dieſer Minute. 
Raſkolnikows brennender, ſtarrer Blick ſchien jeden Augenblick 
ſchaͤrfer zu werden und bohrte ſich ihm in Herz und Hirn. Auf 
einmal zuckte Raſumichin zuſammen. Es war, als ſei etwas бе: 
ſames zwiſchen ihnen beiden hindurchgegangen, hindurch— 
geſchluͤpft, . . . ein Gedanke, eine Art Ahnung, etwas Furcht: 
bares, Ungeheuerliches, das beiden auf einmal zum Bewußtſein 
kam .. . Raſumichin wurde leichenblaß. 

„Verſtehſt du mich jetzt?“ ſagte Raſkolnikow mit krampfhaft 
verzogenem Geſichte. „Kehre zuruͤck, geh zu ihnen,“ fuͤgte er hin⸗ 
zu, wendete ſich ſchnell um und ging aus dem Hauſe. 

Es iſt nicht meine Abſicht, zu ſchildern, was an dieſem Abend 
bei Pulcheria Alexandrowna vorging: wie Raſumichin zu ihnen 
zurüdfehrte, wie er fie beruhigte, wie er auseinanderſetzte, man 
muͤſſe Rodion, folange er krank ſei, Ruhe gönnen, wie er Бе: 
teuerte, Rodion werde jedenfalls wiederkommen, jeden Tag 


480 Schuld und Suͤhne 


— — 


Vierter Teil 481 


herankommen; ſeine Nerven ſeien furchtbar angegriffen, und 
man dürfe ihn nicht reizen; er, Raſumichin, werde ihn nicht aus 
den Augen laſſen; er werde ihm einen guten Arzt beſchaffen, 
den beſten, den es gebe, ein ganzes Konſilium ... Kurz, Raſu— 
michin wurde ihnen an dieſem Abend ein Sohn und Bruder. 


IV 


Raſkolnikow aber ging geradeswegs nach dem Haufe am Kanal, 
wo Sofja wohnte. Es war ein altes, dreiſtoͤckiges, gruͤn an— 
geſtrichnes Haus. Er ſuchte den Hausknecht auf, der ihm ſo un— 
gefaͤhr beſchrieb, wo der Schneider Kapernaumow wohne. Auf 
dem Hofe fand er in einer Ecke den Eingang zu einer engen, 
dunklen Treppe, gelangte auf ihr, langſam hinaufſteigend, end— 
lich zum dritten Stockwerk und trat auf eine Galerie hinaus, die 
an dieſem Stockwerk auf der Hofſeite hinlief. Waͤhrend er in der 
Dunkelheit umhertappte, ohne den Eingang zu Kapernaumows 
Wohnung finden zu koͤnnen, wurde ploͤtzlich drei Schritte von 
ihm entfernt eine Tuͤr geoͤffnet; ganz mechaniſch trat er hinzu 
und faßte nach ihr. 

„Wer iſt da?“ fragte aͤngſtlich eine weibliche Stimme. 

„Ich bin es, ... ich wollte zu Ihnen,“ antwortete Raſkolnikow 
und trat in ein winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem 
durchgeſeſſenen Stuhle ein Licht in einem verbogenen Meſſing— 
leuchter. i 

„Sie find es! O Gott!“ rief боба mit ſchwacher Stimme und 
blieb wie erſtarrt ſtehen. 

„Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?“ 

Raſkolnikow vermied es, ſie anzuſehen, und ging ſchnell in das 
Zimmer hinein. 

Einen Augenblick darauf kam auch Sofja mit dem Lichte herein, 
ſtellte das Licht hin und blieb ſelbſt ganz faſſungslos vor ihm 
XIX. п. 


482 Schuld und Suͤhne 


——ы—=————————ы——=-—--— 


fteben; fie befand ſich in unbefchreiblicher Aufregung und war 
über ſeinen unerwarteten Beſuch augenſcheinlich im hoͤchſten 
Grade erſchrocken. Ploͤtzlich uͤbergoß tiefe Nöte ihr bleiches Ge— 
ſicht, und die Tränen traten ihr in die Augen ... Sie fuͤhlte 
ſich ſehr bedruͤckt und ſchaͤmte ſich und empfand dabei doch eine 
Art von wonniger Freude ... Raſkolnikow wendete ſich ſchnell 
von ihr ab und ſetzte ſich auf einen Stuhl am Tiſche. Mit einem 
ſchnellen Blicke muſterte er das Zimmer. 

Das Zimmer war groß, aber außerordentlich niedrig; es war 
das einzige, welches Kapernaumows vermieteten; die zu ihnen 
führende Tür befand ſich in der Wand links und war geſchloſſen. 
Gegenuͤber, in der Wand rechts, befand ſich noch eine andre Tuͤr, 
die feſt zugenagelt war. Dort lag ſchon eine andre Wohnung, 
die Nachbarwohnung, die eine andre Nummer hatte. Sofjas 
Zimmer glich einer Scheune; es bildete ein ganz unregelmaͤßiges 
Viereck, wodurch es ſehr mißgeſtaltet ausſah. Die nach dem Kanal 
zu gelegene Wand, welche drei Fenſter enthielt, hatte eine ſchraͤge 
Richtung; infolgedeſſen verlief ſich die eine ſehr ſpitze Ecke des 
Zimmers ganz im Hintergrunde, ſo daß man ſie bei der ſchwachen 
Beleuchtung gar nicht einmal ordentlich erkennen konnte; die 
andre Ecke dagegen war in haͤßlichem Grade ſtumpf. In dieſem 
ganzen großen Zimmer waren faſt gar keine Moͤbel vorhanden. 
In der Ecke rechts ſtand ein Bett; daneben, mehr nach der Tuͤr 
zu, ein Stuhl. An derſelben Wand, wo das Bett war, ſtand dicht 
an der nach der fremden Wohnung fuͤhrenden Tuͤr ein einfacher 
Brettertiſch; daruͤber lag eine blaue Decke; neben dem Tiſche 
ſtanden zwei Rohrſtuͤhle. Ferner ſtand an der gegenuͤberliegen⸗ 
den Wand in der Naͤhe der ſpitzen Ecke eine kleine Kommode 
aus gewoͤhnlichem Holze, die in dem leeren Raume wie ver: 
loren ausſah. Das war alles, was ſich im Zimmer befand. Die 
gelbliche, abgenutzte und zerriſſene Tapete war uͤberall in den 


CCC 
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Vierter Teil 483 


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Zimmerecken ſchwarz geworden, was darauf ſchließen ließ, daß 
es hier im Winter feucht und muffig war. Die Armlichkeit war 
überall ſichtbar: es fehlte ſogar am Bette der Vorhang. 

Sofja blickte ſchweigend den Beſucher an, der ihr Zimmer ſo 
aufmerkſam und ungeniert betrachtete, und fing ſchließlich vor 
Furcht zu zittern an, als ſtaͤnde ſie vor einem Richter, der uͤber 
ihr Geſchick entſcheiden ſollte. 

„Ich komme zu fo ſpaͤter Stunde .. . Es ЦЕ wohl ſchon elf?“ 
fragte er, immer noch, ohne ſie anzuſehen. 

„Ja,“ murmelte Sofja. „Ach ja, es iſt elf,“ fuhr ſie eilig fort, 
als kaͤme darauf fuͤr ſie viel an. „Eben hat bei den Wirtsleuten 
die Uhr geſchlagen, ... ich habe es ſelbſt gehoͤrt ... Es 
iſt elf.“ 

„Es iſt das letztemal, daß ich zu Ihnen komme,“ fuhr Raſkol— 
nikow duͤſter fort, obwohl es doch jetzt überhaupt erſt das erſte⸗ 
mal war. „Ich werde Sie vielleicht nie wiederſehen.“ 

„Sie wollen ... wegreiſen?“ 

„Ich weiß es nicht . .. Das wird ſich alles morgen zeigen ...“ 

„Alſo werden Sie morgen nicht zu Katerina Iwanowna Рот: 
men?“ fragte Sofja mit bebender Stimme. 

„Ich weiß es nicht. Morgen früh wird ſich alles zeigen .. 
Aber darum handelt es ſich nicht: ich bin hergekommen, um 
Ihnen nur wenige Worte zu ſagen ...“ 

Er hob ſeinen ſchwermuͤtigen Blick zu ihr auf und bemerkte 
erſt jetzt, daß er ſaß und ſie immer noch vor ihm ſtand. 

„Warum ſtehen Sie denn? Setzen Sie ſich doch hin!“ ſagte 
er mit veraͤnderter, leiſer, milder Stimme. Er blickte ſie einen 
Augenblick lang freundlich und beinahe mitleidig an. 

„Wie mager Sie ſind! Was haben Sie fuͤr eine Hand! Ganz 
durchſichtig! Finger wie bei einer Toten!“ 

Er ergriff ihre Hand. Sofja laͤchelte ſchwach. 


484 Schuld und Sühne 


„Ich bin immer fo | geweſen,“ erwiderte fie. 
„Auch als Sie noch zu Hauſe wohnten?“ 
„За. 2 

„Nun ja, natürlich!” ftieß er kurz heraus, und ſein Geſichts— 
ene und der Klang ſeiner Stimme veraͤnderten ſich ploͤtzlich 
wieder. 

Er blickte noch einmal um ſich. 

„Sie haben das Zimmer dem Schneider Kapernaumow ab— 

gemietet?" 
„Ja.“ 
„Ihre Wirtsleute wohnen dort, hinter dieſer Tuͤr?“ 
„Ja .. . Sie haben auch ein ebenſolches Zimmer.“ 
„Wohnen die alle in einem Zimmer?“ 

— 

„Ich wuͤrde mich nachts in Ihrem Zimmer fuͤrchten,“ ſagte 
er duͤſter. 

„Die Wirtsleute find fehr gut und freundlich,“ antwortete Sofja, 
die immer noch nicht die Faſſung wiedergewonnen und ihre Фе: 
danken geſammelt hatte. „Auch alle Möbel und alles hier. 
alles gehört ihnen. Es find jet brave Leute, und auch die Kin⸗ 
der kommen oft zu mir... 

„Stottert die Familie nicht?“ 

„Ja, er ſtottert und iſt außerdem lahm. Und die Frau ſtottert 
auch ... Das heißt, eigentlich ſtottern tut ſie nicht, aber ſie ſpricht 
nicht alle Buchſtaben aus. Es iſt eine gute Frau, eine ſehr gute 
Frau. Er ift früher Knecht auf einem Gute geweſen. Sie haben 
ſieben Kinder, . . . bloß der ältefte ftottert, die andern ſind nur 
immer krank, . . . aber ſtottern tun fie nicht ... Aber woher 
wiſſen Sie das von ihnen?“ fuͤgte ſie einigermaßen erſtaunt 
hinzu. 

„Ihr Vater hat mir damals alles erzählt. Auch von Ihnen hat 


* 


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- 


Vierter Teil | 485 
er mir alles erzählt... . Auch wie Sie um ſechs Uhr weggingen 
und um neun wiederkamen, und wie Katerina Iwanowna bei 
Ihrem Bette auf den Knien gelegen hat.“ 

Sofja wurde befangen. 

„Ich habe ihn heute geſehen,“ fluͤſterte ſie zaghaft. 

„Wen?“ 

„Den Vater. Ich ging auf der Straße, da nebenan, an der 
Ecke, zwiſchen neun und zehn, und da war es mir, als ginge er 
vor mir. Ganz genau wie er. Ich wollte ſchon zu Katerina Iwa— 
nowna herangehen ...“ 

„Gingen Sie ſpazieren?“ 

„Ja,“ fluͤſterte Sofja kurz; ſie wurde wieder befangen und 
ſchlug die Augen nieder. 

„Als Sie noch bei dem Vater wohnten, hat wohl manchmal 
nicht viel daran gefehlt, daß Katerina Iwanowna Sie gefchlagen 
haͤtte?“ 

„Ach nein! Was ſagen Sie da! Nein, nein!“ erwiderte Sofja 
und blickte ihn ordentlich erſchrocken an. 

„Alſo haben Sie Ihre Stiefmutter lieb?“ 

„Aber ja—a, ja—a, gewiß!“ antwortete Sofja in gedehntem, 
klagendem Tone und faltete mit ſchmerzlichem Ausdruck die 
Hände. „Ach, Sie ſollten fie kennen ... Wenn Sie nur alles 
wuͤßten! Sie ift ja ganz wie ein Kind .. . Es iſt, als ob ihr 
Verſtand gelitten Бане... von all dem Kummer. Und wie klug 
fie früher war, . .. wie hochherzig, ... wie gut! Davon wiſſen 
Sie nichts, ... ach!“ 

Sofja ſagte das im Tone der Verzweiflung und rang in ſchmerz— 
licher Erregung die Haͤnde. Eine heiße Roͤte trat wieder in ihre 
blaſſen Wangen, und ihre Augen ſpiegelten die Qual wider, 
die ſie empfand. Es war deutlich, daß eine kraͤftige Saite ihres 
Herzens angeſchlagen war, daß es ihr ein Beduͤrfnis war, etwat 


486 Schuld und Sühne 


über ihre Stiefmutter zu fagen, fie zu verteidigen. Eine Art von 
unerfättlihem Mitleide, wenn man fich ſo ausdrüden kann, malte 
ſich auf ihren Zügen. 

„Geſchlagen! Was fagen Sie nur! O Gott, geſchlagen! Und 
wenn ſie mich auch geſchlagen haͤtte, was waͤre dabei geweſen? 
Nun, was waͤre dabei geweſen? Sie kennen ſie nicht, kennen 
fie gar nicht .. . Sie iſt fo ungluͤcklich, ach, jo ungluͤcklich! Und 
trank! ... Sie verlangt nach Gerechtigkeit ... Sie iſt ehrenhaft. 
Sie iſt ЕЙ davon überzeugt, daß in der Welt Gerechtigkeit herr: 
ſchen muͤſſe, und fordert fie auch für ſich ... Und wenn man 
ſie martern wollte, ſie wuͤrde nichts Ungerechtes tun. Sie ſieht 
nicht, daß es eben bei den Menſchen nicht gerecht zugehen kann, 
und regt ſich darüber auf . . . Wie ein Kind iſt fie, wie ein Kind! 
Sie iſt eine Gerechte, eine Gerechte!“ 

„Und was wird nun mit Ihnen werden?“ 

Sofia ſah ihn fragend an. 

„Die Hinterbliebenen ſind nun doch auf Sie angewieſen. Das 
war freilich auch fruͤher mit der ganzen Familie ſo, und auch 
der Verſtorbene kam zu Ihnen, um Sie um Geld zum Trinken 
zu bitten. Aber was wird nun jetzt werden?“ 

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte Sofja traurig. 

„Werden die dort wohnen bleiben?“ 

„Ich weiß es nicht; ſie ſind die Miete ſchuldig; die Wirtin hat, 
wie ich gehoͤrt habe, heute geſagt, ſie wollte ſie herausſetzen; aber 
Katerina Iwanowna ſagt, ſie wuͤrde auch von ſelbſt nicht einen 
Augenblick laͤnger dableiben.“ 

„Woher iſt ſie denn ſo couragiert? Sie hofft wohl auf Hilfe von 
Ihrer Seite?“ 

„Ach, ſprechen Sie nicht ſo! ... Wir gehören zueinander, wir 
bilden eine einzige Familie!“ antwortete Sofja, wieder in Er⸗ 
regung und ſogar etwas gereizt, ganz wie wenn ein Kanariens 


Vierter Teil 487 


vogel oder ein andres kleines Voͤgelchen boͤſe wird. „Was ſoll 
ſie denn anfangen? Nun, was ſoll ſie anfangen?“ fragte ſie 
eifrig und hitzig. „Und wieviel, wieviel hat ſie heute geweint! 
Der Verſtand iſt bei ihr geſtoͤrt; haben Sie das nicht bemerkt? 
Er iſt wirklich geſtoͤrt; bald regt ſie ſich wie ein kleines Kind dar— 
uͤber auf, ob auch morgen bei dem Gedaͤchtnismahl alles an— 
ftändig fein wird, daß nur ja ein Imbiß da ſei und das andre 
alles, ... bald wieder ringt fie die Hände, ſpeit Blut, weint 
und faͤngt auf einmal wie in Verzweiflung an, mit dem Kopfe 
gegen die Wand zu ſchlagen. Dann beruhigt ſie ſich wieder; ſie 
ſetzt ihre ganze Hoffnung auf Sie: ſie ſagt, Sie ſeien jetzt ihr 
Helfer, und ſie werde ſich irgendwo ein bißchen Geld leihen und 
nach ihrer Heimatſtadt reiſen, und mich werde ſie auch mitnehmen; 
und dort wolle ſie ein vornehmes Maͤdchenpenſionat errichten 
und mir dabei eine Stelle als Inſpektorin geben, und dann werde 
fuͤr uns ein ganz neues, ſchoͤnes Leben beginnen; und ſie kuͤßt 
mich, umarmt mich und troͤſtet mich und glaubt an dieſe Hirn— 
geſpinſte, glaubt feſt daran! Nun, kann man ihr da wohl wider— 
ſprechen? Und ſie ſelbſt hat heute den ganzen Tag geſcheuert, 
gewaſchen und geflickt; das Waſchfaß hat fie ſelbſt mit ihren 
ſchwachen Kraͤften ins Zimmer geſchleppt; dabei hat ſie die Luft 
verloren und iſt auf das Bett hingefallen. Und heut vormittag 
bin ich mit ihr zuſammen in einen Laden gegangen, um fuͤr 
Polenka und Lida Schuhe zu kaufen, weil ihre alten vollſtaͤndig 
zerriſſen ſind; aber als wir nun bezahlen ſollten, hatten wir nicht 
genug Geld; es fehlte eine ziemliche Menge. Und ſie hatte ſo 
huͤbſche, kleine Stiefelchen ausgeſucht; denn ſie beſitzt einen guten 
Geſchmack; Sie kennen fie nur nicht ... Und da fing fie im 
Laden ſo an zu ſchluchzen, in Gegenwart des Kaufmanns und 
feiner Leute, darüber, daß das Geld nicht reichte ... Ach, es 
tat mir ſo leid, das mitanzuſehen!“ 


15$ Schuld und Sühne 


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„Unter ſolchen Umſtaͤnden iſt es ſchon zu verſtehen, daß Sie... 
fo leben,“ ſagte Raſkolnikow mit bitterem Lächeln. 

„Und tut fie Ihnen denn nicht auch leid 2“ ereiferte ſich Sofja 
wieder. „Ich weiß doch, daß Sie ſelbſt ihr das letzte Geld, das 
Sie hatten, hingegeben haben, und Sie hatten eigentlich noch 
nichts von dem Elend geſehen. Und wenn Sie erſt alles ſaͤhen, 
o Gott! Und wie oft, wie oft bin ich daran ſchuld geworden, 
daß ſie weinte! Noch in der vorigen Woche! Ach, ich Schaͤnd— 
liche! Nur eine Woche vor ſeinem Tode! Ich habe hartherzig 
gehandelt. Und wie oft, wie oft habe ich das getan! Ach, ich 
habe heute den ganzen Tag daran gedacht, und es iſt mir ſo 
ſchmerzlich geweſen!“ 

Bei dieſen Worten rang Sofja, durch die enen ſchmerz⸗ 
lich ergriffen, die Haͤnde. 

„Sie behaupten, Sie ſeien hartherzig geweſen?“ 

„Ja, das bin ich geweſen! Ich war damals zu ihnen hin⸗ 
gekommen,“ fuhr fie weinend fort, „und da ſagte der Ber: 
ſtorbene zu mir:, Lies mir etwas vor, Sofja, ich habe ein bißchen 
Kopfſchmerzen; lies mir etwas vor, ... da iſt ein Buch“; er 
hatte da irgendein Buch, das hatte er von Andrei Semjono— 
witſch Lebeſjatnikow bekommen; der wohnt auch dort; von dem 
bekam er immer ſolche komiſchen Buͤcher. Und ich ſagte: Ich 
habe keine Zeit, ich muß weggehen,“ und wollte ihm nicht vor— 
leſen. Und ich war auch hauptſaͤchlich nur zu ihnen heran= 
gekommen, um Katerina Iwanowna meine Kragen zu zeigen; 
nämlich eine Althaͤndlerin, Liſaweta, hatte mir Kragen und Man: 
ſchetten beſorgt, die waren recht billig, ſehr huͤbſch, ganz neu, 
mit einem netten Muſter. Und fie gefielen Katerina Iwanowna 
ſehr; ſie knoͤpfte ſich einen Kragen um und legte ein Paar Man⸗ 
ſchetten an und beſah ſich im Spiegel; fie gefielen ihr ſehr; ganz 
außerordentlich gefielen fie ihr., Schenk fie mir, Sofja, fagte 


Vierter Teil 489 


fie, ‚bitte, ſei ſo gut! Sie ſagte , bitte!“ und hätte fie fo ſehr gern 
gehabt. Aber ſie hat ja jetzt gar keine Verwendung fuͤr ſolche 
Waͤſche; es ſchwebte ihr wohl nur die fruͤhere, gluͤckliche Zeit vor. 
Sie betrachtete ſich im Spiegel und fand ſich fo ſchoͤn damit, 
und ſie hat doch nichts, was dazugehoͤrt, nichts, einfach gar nichts 
von Kleidern und ſonſtigen Sachen; und ſchon ſeit vielen Jahren 
nicht! Aber ſie bittet nie jemand um etwas; ſie iſt ſtolz und gibt 
lieber ſelbſt das Letzte weg. Und nun hatte ſie mich doch ge— 
beten, — fo hatten ihr die Kragen und die Manſchetten gefallen! 
Aber mir tat es leid, fie wegzugeben, und ich fagte: ‚Wozu 
koͤnnen Sie fie denn gebrauchen, Katerina Iwanowna?“ So 
habe ich geſagt: „Wozu können Sie fie gebrauchen?“ Das hätte 
ich nicht zu ihr ſagen ſollen! Sie ſah mich ſo traurig an, und 
es war ihr ſo ſchmerzlich, daß ich es ihr abgeſchlagen hatte, und 
es tat mir fo leid, das zu ſehen . .. Und nicht wegen der Kragen 
und Manſchetten war ſie traurig, ſondern daruͤber, daß ich ihr 
etwas abgeſchlagen hatte; das ſah ich recht wohl. Ach, wie gern 
moͤchte ich jetzt das alles ungeſchehen machen und alle meine 
früheren Worte zuruͤcknehmen! .. . Wie ſchaͤndlich bin ich де: 
weſen! .. . Aber wozu ſage ich Ihnen das? Das hat ja für Sie 
kein Intereſſe!“ 

„Alſo dieſe Althaͤndlerin Liſaweta haben Sie gekannt?“ 

„За... Haben Sie fie etwa auch gekannt?“ fragte Sofja 
etwas verwundert. 

„Katerina Iwanowna hat die Schwindſucht, im letzten Sta— 
dium; ſie wird bald ſterben,“ ſagte Raſkolnikow nach kurzem 

Schweigen, ohne auf Sofjas Frage zu antworten. 

„Ach nein, nein, nein!“ 

Und Sofja ergriff unwillkuͤrlich und ВИ. feine beiden 
Hände, als wollte fie ihn anflehen, dies abzuwenden. 

„Aber es iſt ja ſogar das Beſte, wenn ſie ſtirbt.“ 


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190 Schuld und Suͤhne 


— 


„Nein, das if nicht das Beſte, nicht das Beſte, durchaus nicht 
das Beſte!“ rief ſie angſtvoll und heftig. 

„Und was wird dann aus den Kindern? Wo werden Sie die 
unterbringen? Sie werden ſie doch wohl zu ſich nehmen?“ 

„Ach, ich weiß es nicht!“ rief Sofja verzweifelt und griff nach 
ihrem Kopfe. 

Es war augenſcheinlich, daß fie ſelbſt ſich ſchon oft dieſen Фе: 
danken hatte durch den Kopf gehen laſſen und Raſkolnikow ihn 
nur von neuem wach gerufen hatte. 

„Nun, und wenn Sie jetzt, noch bei Katerina Iwanownas Leb— 
zeiten, krank werden und man Sie ins Krankenhaus bringt, was 
wird dann aus den andern?“ fragte er mit Se 
Hartnaͤckigkeit weiter. 

„Ach, ſagen Sie doch ſo etwas nicht! Sagen Sie doch ſo etwas 
nicht! Das kann doch nicht geſchehen!“ Sofjas Geſicht verzerrte 
ſich in furchtbarer Angſt. 

„Warum ſoll das nicht geſchehen koͤnnen?“ fuhr Raſkolnikow 
mit grauſamem Laͤcheln fort. „Sind Sie dagegen irgendwie ver— 
ſichert? Alſo was wird dann aus den andern werden? Sie 
werden alle zuſammen auf die Straße gehen; die Mutter wird 
huſten und betteln und mit dem Kopfe gegen eine Wand ſchlagen, 
wie heute, und die Kinder werden weinen ... Und dann wird ſie 
hinfallen und nach der Polizeiwache gebracht werden und von da 
ins Krankenhaus, und dann wird fie ſterben, und die Kinder ...“ 

„Ach nein! Das wird Gott nicht zulaſſen!“ rang es ſich wie 
ein Angſtſchrei aus Sofjas gequaͤlter Bruſt. Waͤhrend ſie ſeine 
Worte anhoͤrte, hatte ſie ihn flehend angeblickt und in ſtummer 
Bitte die Haͤnde gefaltet, als ob alles von ihm abhinge. 

Raſkolnikow ſtand auf und begann im Zimmer hin und her 
zu gehen. Sofja ſtand in tiefem Gram da, mit geſenktem Kopfe 
und ſchlaff herabhaͤngenden Armen. 


* 
* 


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Vierter Teil 491 


„Koͤnnen Sie nicht etwas ſparen? Etwas zuruͤcklegen fuͤr die 
Zeit der Not?“ fragte er, indem er ploͤtzlich vor ihr ſtehen blieb. 

„Nein,“ fluͤſterte Sofja. 

„Selbſtverſtaͤndlich ſagen Sie nein! Aber haben Sie es auch 
verſucht?“ fuͤgte er beinahe ſpoͤttiſch hinzu. 

„Ja, ich habe es verſucht.“ 

„Aber es ging nicht! Nun ja, natuͤrlich! Wozu frage ich da 
ей!" 

Er ſetzte feine Wanderung im Zimmer fort. Es verging wieder 
etwa eine Minute. 

„Sie nehmen nicht taͤglich etwas ein?“ 

Sofja wurde noch befangener als vorher, und die Nöte ſtieg 
ihr wieder ins Geſicht. 

„Nein,“ fluͤſterte ſie mit qualvoller Anſtrengung. 

„Mit Polenka wird es gewiß ebenſo werden,“ ſagte er plotzlich. 

„Nein! Nein! Das kann nicht ſein, nein!“ ſchrie Sofja in Ver— 
zweiflung laut auf, als haͤtte jemand ſie mit einem Meſſer ge— 
ſtochen. „Gott wird ſo etwas Fuͤrchterliches nicht zulaſſen!“ 

„Er laͤßt es ja doch bei ſo vielen andern zu!“ 

„Nein, nein! Gott wird ſie davor bewahren!“ wiederholte ſie 
ganz außer ſich. 

„Aber vielleicht gibt es uͤberhaupt keinen Gott,“ antwortete 
Raſkolnikow mit einer Art von Schadenfreude, lachte auf und 
ſah ſie an. 5 

Auf Sofjas Geſichte ging ploͤtzlich eine ſchreckliche Veränderung 
vor; krampfhafte Zuckungen liefen daruͤber hin. Ein unbeſchreib— 
licher Vorwurf lag in dem Blicke, mit dem fie ihn anſah; fie 
wollte etwas ſagen, konnte aber nichts herausbringen; ſie brach 
nur in ein bitterliches Schluchzen aus und bedeckte ihr Geſicht 
mit den Haͤnden. 

„Sie fagen, bei Katerina Iwanowna ſei der Verſtand geſtoͤrt; 


e 


Schuld und Suͤhne Ei 


492 


aber auch Ihr eigener Verſtand iſt geftört,” ſagte er nach einem 
kurzen Stillſchweigen. 

Es vergingen fuͤnf Minuten. Er ging die ganze Zeit uͤber 
ſchweigend auf und ab, ohne ſie anzublicken. Endlich trat er an 
ſie heran; ſeine Augen funkelten. Er faßte ſie mit beiden Haͤnden 
an den Schultern und ſah ihr gerade in das von Traͤnen uͤber— 
ſtroͤmte Geſicht. Seine trockenen, heißen Augen blickten ſcharf 
und durchdringend; feine Lippen zudten heftig ... Ploͤtzlich 
beugte er ſich mit dem ganzen Leibe nieder, warf ſich auf den 
Boden und kuͤßte ihren Fuß. Sofja wankte erſchrocken von ihm 
wie von einem Wahnſinnigen zuruͤck. Und er ſah auch wirklich 
völlig wie ein Wahnſinniger aus. 

„Was iſt Ihnen? Was tun Sie da? Vor mir!“ murmelte ſie 
erbleichend, und ihr Herz zog ſich ſchmerzhaft zuſammen. 

Er erhob ſich ſofort wieder. 

„Nicht vor dir habe ich meine Knie gebeugt, ſondern vor dem 
ganzen unendlichen Leide der Menſchheit,“ ſagte er wie in wildem 
Ingrimm und trat ans Fenſter. „Hoͤre,“ fuͤgte er hinzu, als er 
einen Augenblick darauf zu ihr zuruͤckkam, „ich habe vorhin zu 
einem Verleumder geſagt, daß er nicht ſo viel wert iſt wie dein 
kleiner Finger, ... und daß ich heute meiner Schweſter eine 
Ehre angetan habe, indem ich ſie neben dir ſitzen ließ.“ 

„Ach, wie haben Sie nur ſo etwas ſagen koͤnnen! Und etwa 
gar in Gegenwart Ihrer Schweſter?“ rief Sofja erſchrocken. 
„Neben mir ſitzen! Eine Ehre! Aber ich bin ja eine... Ehr⸗ 
(фе... Ach, wie haben Sie nur fo etwas ſagen koͤnnen!“ 

„Nicht wegen deiner Ehrloſigkeit und Suͤnde habe ich das von 
dir geſagt, ſondern wegen deines großen Leides. Daß du eine 
große Suͤnderin biſt, das iſt die Wahrheit,“ fuͤgte er in ſchwaͤrme⸗ 
riſchem Tone hinzu. „Und ganz beſonders biſt du deshalb eine 
Sünderin, weil du dich nutzlos getötet und zum Opfer gebracht 


Vierter Zeil 493 


haft. Iſt das nicht graͤßlich? Iſt das nicht gräßlich, daß du in 
dieſem Schmutze lebſt, den du ſo haſſeſt, und gleichzeitig ſelbſt 
weißt (du brauchſt ja nur die Augen zu oͤffnen), daß du nie— 
mandem dadurch hilfſt, niemand aus ſeinem Elend erretteſt! Ja, 
ich bitte dich um alles in der Welt,“ rief er beinahe wuͤtend, 
„ſage mir doch nur: wie kann ſolche Schande und Gemeinheit 
in deiner Seele neben andern, ganz entgegengeſetzten, heiligen 
Empfindungen Raum finden? Da wäre es doch richtiger, tauſend— 
mal richtiger und vernuͤnftiger, kopfuͤber ins Waſſer zu ſpringen 
und mit einem Schlage alledem ein Ende zu machen!“ 

„Aber was ſoll dann aus den andern werden?“ fragte Sofja 
leiſe und blickte ihn mit ſchmerzlichem Ausdrucke an; verwundert 
ſchien ſie aber uͤber ſeinen Vorſchlag ganz und gar nicht zu ſein. 
Raſkolnikow ſah ſie in ſeltſamer Weiſe pruͤfend an. 

Schon allein in ihrem Blicke hatte er alles geleſen. Alſo ſie 
hatte tatjächlich dieſen Gedanken bereits ſelbſt gehabt. Vielleicht 
hatte ſie in der Verzweiflung ſchon oftmals und ernſtlich uͤber— 
legt, wie ſie ihrem Elende mit einem Schlage ein Ende machen 
fönne, fo ernſtlich, daß fie fich jetzt über feinen Vorſchlag weiter 
nicht wunderte. Selbſt die Grauſamkeit feiner Worte war ihr 
nicht zum Bewußtſein gekommen; auch der Sinn ſeiner Vor— 
wuͤrfe und ſeine beſondre Auffaſſung von ihrer Schande war 
ihr offenbar unklar geblieben; auch das durchſchaute er. Er ſeiner— 
ſeits aber begriff vollſtaͤndig, welche Folterqualen, und zwar ſchon 
ſeit langer Zeit, ihr der Gedanke an ihre ehrloſe, ſchmaͤhliche 
Lage bereitete. „Was in aller Welt,“ dachte er, „was hat ſie 
bisher zuruͤckhalten koͤnnen, alledem mit einem Schlage ein Ende 
zu machen?“ Er hatte erſt jetzt völlig verſtanden, welch eine Be: 
deutung fuͤr dieſes Maͤdchen dieſe armen, kleinen, vaterloſen 
Kinderchen hatten, ſowie dieſe bedauernswerte, halb irrſinnige, 
ſchwindſuͤchtige Katerina Iwanowna, die mit dem Kopfe gegen 


* N 


—— ——- 


494 Schuld und Sühne 


die Wand ſchlug. Aber nicht minder klar war es ihm, daß Sofjas 
Charakter und die ob auch nur maͤßige Bildung, die ſie genoſſen 
hatte, ihr hatten ein Antrieb fein muͤſſen, ſich aus dieſer Lage 
zu befreien. So war fuͤr ihn immer noch nicht die Frage be— 
antwortet: wenn ſie nicht die Kraft hatte, ſich ins Waſſer zu 
ſtürzen, wie hatte fie fo lange ſchon in dieſer Lage verbleiben 
tonnen, ohne den Verſtand zu verlieren? Gewiß, er ſah ein, daß 
Sofjas Lage eine Erſcheinung war, wie ſie nur gelegentlich in 
unſern geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſen vorkommt, wiewohl leider 
ſeineswegs nur ganz vereinzelt und ausnahmsweiſe. Aber де: 
rade dieſe Beſonderheit der Lage, dieſe wenn auch nur geringe 
Bildung und ihr ganzes Vorleben haͤtten ſie doch, meinte er, 
gleich beim erſten Schritte auf dieſem abſcheulichen Wege zum 
Selbſtmorde fuͤhren muͤſſen. Was hielt ſie denn im Leben zuruͤck? 
Doch wahrlich nicht die Unzucht? Mit dieſer ganzen Gemeinheit 
hatte ſie offenbar nur phyſiſch zu ſchaffen gehabt; in ihr Herz 
hatte noch kein Atom der wirklichen Unzucht Eingang gefunden. 
Das ſah er; fie ſtand ja vor ihm wie von Glas... 

„Drei Wege hat ſie vor ſich,“ dachte er, „ſich in den Kanal zu 
ſtuͤrzen, ins Irrenhaus zu kommen oder . .. oder der wirklichen 
Unzucht zu verfallen, die den Verſtand betaͤubt und das Herz 
gefuͤhllos macht.“ 

Die letzte von dieſen drei Moͤglichkeiten war ihm am wider— 
waͤrtigſten; aber er war bereits Skeptiker, er war jung, ein ab— 
ſtrakter Denker und ſomit Peſſimiſt, und daher konnte er nicht 
umhin zu glauben, daß dieſer letzte Ausgang, das heißt die Un- 
zucht, am meiſten Wahrſcheinlichkeit habe. 

„Aber ſoll denn wirklich,“ rief er in Gedanken aus, „ſoll denn 
wirklich dieſes Weſen, das ſich die Reinheit der Seele noch be⸗ 
wahrt hat, ſich mit ſehenden Augen ſchließlich in dieſen greulichen, 
ſtinkenden Pfuhl hineinziehen laſſen? Hat dieſer Prozeß viel⸗ 


W ER * 


Vierter Teil 495 


leicht ſchon begonnen, und hat ſie wirklich ihren Zuſtand nur 
deswegen bisher ertragen koͤnnen, weil ihr das Laſter nicht mehr 
ſo widerwaͤrtig erſcheint? Nein, nein, das kann nicht ſein!“ rief 
er aͤhnlich wie vorhin Sofja. „Nein, was ſie von dem Sprunge 
in den Kanal bisher zuruͤckhielt, das war der Gedanke an die 
Suͤndhaftigkeit des Selbſtmordes und der Gedanke an jene 
andern. Und wenn ſie bisher noch nicht den Verſtand verloren 
hat .. . Aber wer ſagt denn das, daß fie den Verſtand bisher 
noch nicht verloren hat? Hat ſie denn noch ihren geſunden Ver— 
ſtand? Kann man etwa bei geſundem Verſtande fo urteilen, wie 
ſie es tut? Wie kann ſie denn ſo am Rande des Verderbens, 
dicht am Rande dieſes ſtinkenden Pfuhles ſitzen, in den eine ge— 
heime Gewalt ſie ſchon hineinzieht, und mit den Haͤnden ab— 
winken und ſich die Ohren zuſtopfen, wenn ſie jemand auf die 
Gefahr aufmerkſam macht? Was will ſie denn? Erwartet ſie 
ein Wunder? Das ſcheint ſie wirklich zu tun. Sind das nicht 
lauter Anzeichen geiſtiger Stoͤrung?“ 

Hartnaͤckig verblieb er bei dieſem Gedanken. Dieſer Ausgang 
gefiel ihm ſogar beſſer als jeder andre. Er begann ſie ſchaͤrfer 
zu betrachten. 

„Du beteſt alſo wohl viel zu Gott, Sofja?“ fragte er ſie. 

Sofja ſchwieg; er ſtand neben ihr und wartete auf ihre Ant— 
wort. 

„Was waͤre ich ohne Gott?“ fluͤſterte ſie ſchnell mit feſter 
Stimme, blickte ihn einen Augenblick mit aufleuchtenden Augen 
an und druͤckte ihm ſtark die Hand. 

„Alſo es iſt ſo!“ dachte er. 

„Und was empfaͤngſt du denn von Gott dafuͤr?“ examinierte 
er ſie weiter. 

Sofja ſchwieg lange, als waͤre ſie nicht imſtande zu antworten. 
Ihre ſchwaͤchliche Bruſt hob und ſenkte ſich ſtark vor Aufregung. 


496 Schuld und Suͤhne 


„Scien Sie ſtill! Fragen Sie nicht ſo! Sie ſind ein Unwuͤr— 
diger .. .“ rief fie endlich und blickte ihn ſtreng und zornig an. 

„Alſo es Я fo! Alſo es iſt fo!" wiederholte er hartnaͤckig in 
Gedanken. 

„Alles gibt er mir!“ fluͤſterte ſie haſtig und ſchlug wieder die 
Augen nieder. 

„Das iſt der Weg, den ſie einſchlaͤgt; das iſt die Loͤſung der 
Frage,“ ſagte er ſich mit voller Beſtimmtheit im ſtillen und 
muſterte ſie mit brennendem Intereſſe. 

Mit einem neuen, eigentuͤmlichen, beinahe phyſiſch ſchmerz— 
haften Gefühle ſchaute er auf dieſes blaſſe, magere, unregel— 
maͤßige, eckige Geſichtchen, auf dieſe ſanften, blauen Augen, in 
denen ein ſolches Feuer, ein ſo ſtarker, energiſcher Affekt auf— 
leuchten konnte, auf dieſen ſchmaͤchtigen Koͤrper, der noch vor 
Entrüftung und Zorn bebte, und dies alles kam ihm immer ſelt— 
ſamer vor, beinahe unmöglich. „Eine harmloſe, fromme Irr⸗ 
ſinnige!“ dachte er wieder. 

Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal bei feinem Hin: 
und Hergehen hatte er es bemerkt; jetzt nahm er es auf und 
beſah es. Es war das Neue Teſtament in ruſſiſcher Überfegung. 
Das Buch war in Leder gebunden, aber ſchon alt und abgenutzt. 

„Wo haſt du das her?“ rief er ihr von der entfernten Ecke des 
Zimmers aus zu. 

Sie ſtand noch immer an derſelben Stelle, drei Schritte vom 
Tiſche entfernt. 

„Es hat es mir jemand gebracht,“ antwortete ſie, anſcheinend 
nur ungern und ohne ihn anzuſehen. 

„Wer hat es dir gebracht?“ 

„Liſaweta. Ich hatte ſie darum gebeten.“ 

„Liſaweta! Seltſam!“ dachte er. 

Hier bei Sofja kam ihm alles mit jedem Augenblicke ſeltſamer 


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Vierter Teil 497 


und wunderbarer vor. Er trug das Buch zu der Kerze hin und 
fing an, darin zu blättern, 

„Wo ſteht hier die Geſchichte von Lazarus?“ fragte er. 

Sofja blickte hartnaͤckig auf den Fußboden und antwortete nicht. 
Sie ſtand von dem Tiſche halb abgewendet. 

„Die Geſchichte von der Auferſtehung des Lazarus, wo iſt die? 
Suche ſie mir, Sofja.“ 

Sie ſah mit ſchraͤgem Blicke nach ihm hin. 

„Sie ſuchen an falſcher Stelle ... Im vierten Evangelium ...“, 
fluͤſterte ſie in ſtrengem Tone, ohne zu ihm heranzutreten. 

„Such es und lies es mir vor,“ ſagte er und ſetzte ſich hin; 
einen Ellbogen auf den Tiſch aufſetzend, den Kopf in die Hand 
ſtuͤtzend und finſter zur Seite ſtarrend, machte er ſich fertig, zu: 
zuhoͤren. 

„In drei Wochen iſt ſie im Irrenhauſe! Ich werde wohl auch 
da ſein, wenn mir nicht noch Schlimmeres widerfaͤhrt,“ mur— 
melte er vor ſich hin. 

Sofja nahm Raſkolnikows ſonderbares Verlangen mißtrauiſch 
auf und trat zoͤgernd zum Tiſche. Indes faßte ſie nach dem Buche. 

„Haben Sie es denn nicht auch ſchon geleſen?“ fragte ſie und 
blickte ihn uͤber den Tiſch heruͤber mit geſenktem Kopfe von unten 
her an. Ihr Ton wurde immer ſtrenger und ſtrenger. 

„Das Ш ſchon lange her ... Als ich in die Schule ging. Lies 
doch!“ 

„Haben Sie es denn aber nicht in der Kirche gehoͤrt?“ 

„Nein, da bin ich nie hingegangen. Aber du gehſt wohl oft 
hin и 

„NR—nein,” flüfterte Sofja. 

Raſkolnikow lächelte, 

„Ich verſtehe ... Da gehft du auch wohl morgen zu dem 
Totenamt fuͤr deinen Vater nicht mit hinein?“ 

XIX. 32. 


198 Schuld und Suͤhne 


„Doch; ich werde hineingehen. Ich bin auch vorige Woche in 
der Kirche geweſen, . .. ich habe eine Totenmeſſe leſen laſſen.“ 

„Kür wen denn?“ 

„Für Liſaweta. Die iſt mit einem Beile erſchlagen worden.“ 

Der gereizte Zuſtand ſeiner Nerven wurde immer ſchlimmer; 
der Kopf begann ihm zu ſchwindeln. 

„Warſt du mit Liſaweta befreundet?“ 

„Ja, . . . fie war fromm und rechtſchaffen, . . . fie kam manch: 
mal zu mir, . .. aber nur ſelten, ... fie konnte nicht oft... 
Wir laſen zuſammen und ... ſprachen darüber miteinander. 
Sie wird Gott ſchauen.“ 

Einen ſeltſamen Klang hatten fuͤr ſein Ohr dieſe bibliſchen 
Worte, und ſchon wieder hatte er etwas Neues gehört: Sofja 
und Liſaweta hatten religioͤſe Zuſammenkuͤnfte gehabt, und beide 
waren harmloſe, fromme Irrſinnige. 

„Hier kann man noch ſelbſt ſo ein verruͤckter Heiliger werden! 
So etwas iſt anſteckend!“ dachte er. 

„Lies!“ rief er ploͤtzlich eigenſinnig und gereizt. 

Sofja zoͤgerte immer noch. Das Herz klopfte ihr heftig. Sie 
fand nicht den Mut dazu, ihm vorzuleſen. Der Anblick der „une 
gluͤcklichen Geiſteskranken“ ſchnitt ihm ins Herz. 

„Was haben Sie denn davon? Sie glauben ja doch wohl nicht 
daran?“ flüfterte fie leiſe; fie konnte kaum atmen. 

„Lies! Ich will es ſo!“ wiederholte er hartnaͤckig. „Du haſt 
doch deiner Freundin Liſaweta auch vorgeleſen.“ 

Sofja ſchlug das Buch auf und ſuchte die Stelle. Die Haͤnde 
zitterten ihr; es verſagte ihr die Stimme. Zweimal fing ſie an 
und konnte das erſte Wort nicht aus der Kehle bekommen. 

„Es lag aber einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethanien,“ 
brachte ſie endlich mit Anſtrengung heraus; aber hier brach ihre 
Stimme ploͤtzlich mit einem unartikulierten Laute ab, wie eine 


Vierter Teil 499 


zu ſtark gefpannte, zerreißende Saite. Der Atem mangelte ihr, 
die Bruſt war ihr wie zuſammengeſchnuͤrt. 

Raſkolnikow hatte bis zu einem gewiſſen Grade ein Verftänd: 
nis dafuͤr, warum es Sofja widerſtand, ihm vorzuleſen, und je 
mehr er es begriff, um ſo ſchaͤrfer und gereizter beſtand er auf 
ſeinem Verlangen. Er verſtand recht wohl, wie ſchwer es ihr 
jetzt werden mußte, ihr ganzes ſeeliſches Empfinden ans Licht 
zu bringen und zu enthuͤllen. Er verſtand, daß dieſe Gefuͤhle in 
der Tat bei ihr ein wirkliches und vielleicht ſchon ſeit langer Zeit 
gehuͤtetes Geheimnis bildeten, vielleicht ſchon im Kindesalter, 
ſchon in der Zeit, wo ſie noch in der Familie lebte, neben dem 
ungluͤcklichen Vater und der vor Kummer irrſinnig gewordenen 
Stiefmutter, mitten unter den hungrigen Kindern, bei ſinnloſem 
Geſchrei und ewigen Vorwuͤrfen. Aber gleichzeitig erkannte er 
jetzt, und zwar mit Sicherheit, daß ſie trotz der Beklemmung und 
der Beaͤngſtigung, die jetzt beim Beginn des Leſens an ihr ſicht— 
bar waren, doch gleichzeitig ſelbſt von dem heißen Wunſche vor— 
zuleſen erfuͤllt war, und zwar gerade ihm vorzuleſen, damit er. 
er es höre, und gerade jetzt, — mochte nachher kommen, was da 
wollte! .. . Er hatte das in ihren Augen geleſen und aus ihrer 
ſchwaͤrmeriſchen Erregung geſchloſſen! .. . Sie bezwang ſich, 
unterdruͤckte den Krampf in der Kehle, der ihr beim erſten Verſe 
die Stimme geraubt hatte, und las das elfte Kapitel des Evan— 
geliums Johannis weiter vor. So gelangte ſie bis zum neun— 
zehnten Verſe: 

„Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, 
ſie zu troͤſten uͤber ihrem Bruder. Als Martha nun hoͤrte, daß 
Jeſus kommt, gehet ſie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim 
ſitzen. Da ſprach Martha zu Jeſu: ‚Herr, waͤreſt du hier ge: 
weſen, mein Bruder waͤre nicht geſtorben. Aber ich weiß auch 
noch, daß, was du bitteſt von Gott, das wird dir Gott geben.“ 


500 Schuld und Suͤhne 


Hier hielt ſie wieder inne; ſie merkte vorher, daß ihr die Stimme 
wieder zittern und verſagen würde, und ſchaͤmte ſich deſſen ... 

„Jeſus ſpricht zu ihr:, Dein Bruder ſoll auferſtehen.“ Martha 
ſpricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferſtehen wird in der 
Auferſtehung am Juͤngſten Tage.“ Jeſus ſpricht zu ihr: Ich bin 
die Auferſtehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird 
auferſtehen, ob er gleich ſtuͤrbe. Und wer da lebet und glaubet 
an mich, der wird nimmermehr ſterben. Glaubeſt du das? Sie 
ſpricht zu ihm:“ (und anſcheinend nur unter Schmerzen Atem 
holend, las боба mit deutlicher, kraͤftiger Stimme, als ob fie 
ſelbſt vor aller Ohren ein Bekenntnis ihres Glaubens ablegte) 
Herr, ja; ich glaube, daß du biſt Chriſtus, der Sohn Gottes, 


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der in die Welt gefommen ift. 

Sie hielt einen Augenblick inne, erhob ſchnell die Augen zu 
Raſkolnikow, beherrſchte ſich aber ſofort wieder und las weiter. 
Raſkolnikow ſaß da und hörte, ohne ſich zu regen, zu. Er wendete 
ſich nicht zu der Vorleſerin hin, ſondern hatte den Ellbogen auf 
den Tiſch geſtuͤtzt und [аб zur Seite. Nun waren fie bis zum 
zweiunddreißigſten Verſe gelangt: 

„Als nun Maria kam, da Jeſus war, und ſahe ihn, fiel ſie zu 
ſeinen Fuͤßen und ſprach zu ihm: Herr, waͤreſt du hier geweſen, 
mein Bruder wäre nicht geſtorben!“ Als Jeſus fie ſahe weinen 
und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er 
im бей und betruͤbte ſich ſelbſt und ſprach: ‚Wo habt ihr ihn 
hingelegt?“ Sie ſprachen zu ihm: ‚Herr, komm und ſiehe es.“ 
Und Jeſu gingen die Augen über. Da ſprachen die Juden: Siehe, 
wie hat er ihn fo lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen ſprachen: 
„Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht ver: 
ſchaffen, daß auch dieſer nicht ſtuͤrbe?“ 

Raſkolnikow wandte ſich zu ihr um und blickte ſie aufgeregt an. 
Ja, richtig! Sie zitterte am ganzen Leibe in wirklichem, wahrem 


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Vierter Teil 501 


Fieber. Er hatte das erwartet. Sie naͤherte ſich jetzt der Stelle, 
die von dem groͤßten, unerhoͤrten Wunder handelt, und das Ge— 
fuͤhl eines gewaltigen Triumphes ergriff ſie. Ihre Stimme wurde 
klangvoll wie Metall; Triumph und Freude klangen aus ihr her— 
aus und verliehen ihr Kraft. Die Zeilen verwirrten ſich vor ihrem 
Blicke, weil es ihr dunkel vor den Augen wurde; aber ſie konnte 
das, was ſie las, auswendig. Bei dem letzten Verſe: „Konnte, 
der dem Blinden die Augen aufgetan hat,“ hatte ſie, die Stimme 
ſenkend, in heißer Erregung den Zweifel, den Vorwurf und den 
Tadel der unglaͤubigen, blinden Juden zum Ausdruck gebracht, 
die nun gleich, einen Augenblick darauf, wie vom Donner ge— 
rührt niederfallen, ſchluchzen und glauben wuͤrden ... „Auch 
er, auch er, der auch ein Verblendeter und Unglaͤubiger iſt, auch 
er wird es jetzt gleich hoͤren, auch er wird glauben, ja, ja! Jetzt 
gleich, jetzt gleich!“ dieſer Gedanke zuckte ihr durch den Kopf, und 
ſie zitterte vor freudiger Erwartung. 

„Jeſus aber ergrimmte abermal in ihm ſelbſt und kam zum 
Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. 
Jeſus ſprach: ‚Hebt den Stein ab.“ Spricht zu ihm Martha, die 
Schweſter des Verſtorbenen: ‚Herr, er ſtinkt ſchon; denn er iſt 
vier Tage gelegen.“ 

Sie legte einen ſtarken Ton auf das Wort: „vier“. 

„Jeſus ſpricht zu ihr: Hab ich dir nicht gefagt, fo du glauben 
wuͤrdeſt, du ſollteſt die Herrlichkeit Gottes ſehen?“ Da hoben ſie 
den Stein ab, da der Verſtorbene lag. Jeſus aber hob ſeine 
Augen empor und ſprach: ‚Vater, ich danke dir, daß du mich 
erhoͤret haſt. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hoͤreſt; ſondern 
um des Volks willen, das umherſtehet, ſage ich es, daß ſie 
glauben, du habeſt mich geſandt.“ Da er das geſagt hatte, rief 
er mit lauter Stimme: ‚Lazare, komm heraus!‘ Und der Ver: 
ſtorbene kam heraus“ (fie las dies mit lauter, verzuͤckter Stimme, 


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502 Schuld und Suͤhne 


bebend und fröftelnd, als ſaͤhe fie alles mit eigenen Augen vor 
ſich), „gebunden mit Grabtuͤchern an Füßen und Händen, und 
ſein Geſicht verhuͤllet mit einem Schweißtuch. Jeſus ſpricht zu 
ihnen:, Loͤſet ihn auf und laſſet ihn gehen.“ Viele nun der Juden— 
die zu Maria gekommen waren und ſahen, was Jeſus tat, glaub, 
ten an ihn.“ 

Weiter las fie nicht, und fie war auch nicht imſtande dazu; fie 
machte das Buch zu und ſtand ſchnell vom Stuhle auf. 

„Da iſt die Geſchichte von der Auferſtehung des Lazarus zu 
Ende,“ ſagte ſie ſtockend und mit finſterem Geſichte und ſtand 
nun regungslos da, zur Seite abgewandt; ſie wagte vor Scham 
nicht die Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Zittern 
dauerte noch fort. Das Licht in dem verbogenen Leuchter war 
ſchon ganz tief herabgebrannt und beleuchtete truͤbe in dieſem 
ärmlichen Zimmer den Mörder und die Proſtituierte, die ſich 
ſo ſonderbar zum Leſen des ewigen Buches zuſammengefunden 
hatten. Es vergingen fuͤnf Minuten oder noch mehr. 

„Ich bin hergekommen, um mit dir über eine ernſte Angelegen⸗ 
heit zu reden,“ ſagte Raſkolnikow endlich laut mit duͤſterer Miene, 
ſtand auf und trat zu ihr hin. Sie ſchaute auf und ſah ihn ſchwei— 
gend an. Sein Blick war überaus finſter; eine wilde Entſchloſſen— 
heit ſprach ſich darin aus. 

„Ich habe mich heute von meinen Angehoͤrigen getrennt,“ 
ſagte er, „von meiner Mutter und von meiner Schweſter. Ich 
gehe nun nicht wieder zu ihnen; alle Bande, die mich mit ihnen 
verknuͤpften, habe ich zerriſſen.“ 

„Warum?“ fragte Sofja; fie war wie betaͤubt. 

Ihre heutige Begegnung mit ſeiner Mutter und ſeiner Schweſter 
hatte ihr einen außerordentlichen Eindruck hinterlaſſen, der aller⸗ 
dings ihr ſelbſt nicht recht klar war. Die Mitteilung, daß er mit 
ihnen voͤllig gebrochen habe, erfuͤllte ſie mit Schrecken. 


Vierter Teil 503 


„Ich habe jetzt niemand auf der Welt als dich,“ fügte er hinzu. 
„Laß uns unſern Weg zuſammen gehen .. . Darum bin ich zu 
dir gekommen. Wir ſind beide verflucht; ſo laß uns denn auch 
zuſammen gehen.“ 

Seine Augen funkelten. „Wie halb irrſinnig!“ dachte nun Sofja 
ihrerſeits. 

„Wohin ſollen wir denn gehen?“ fragte ſie angſtvoll und wich 
unwillkuͤrlich von ihm zuruͤck. 

„Wie kann ich das wiſſen? Ich weiß nur, daß derſelbe Weg 
vor uns liegt; das weiß ich ſicher, — weiter nichts. Wir haben 
das gleiche Ziel.“ 

Verſtaͤndnislos ſah ſie ihn an. Sie verſtand nur das eine, daß 
er tief ungluͤcklich, grenzenlos ungluͤcklich war. 

„Wenn du zu andern Menſchen ſo ſprichſt, wie du zu mir ge— 
ſprochen haſt, ſo wird dich niemand verſtehen,“ fuhr er fort, „aber 

ich habe dich verſtanden. Du biſt mir unentbehrlich; darum bin 
ich zu dir gekommen.“ 

„Ich verſtehe Sie nicht,“ fluͤſterte Sofja. 

„Du wirſt mich ſpaͤter verſtehen. Haſt du denn nicht das Gleiche 
getan wie ich? Auch du biſt uͤber eine Grenze hinuͤbergeſchritten, 
. . haſt die Kraft beſeſſen, hinuͤberzuſchreiten. Du haft Hand 
an dich gelegt; du haft ein Leben vernichtet, . .. dein eigenes 
Leben; aber das macht keinen Unterſchied. Du waͤreſt befaͤhigt, 
ein verſtaͤndiges, ſittlich gutes Leben zu führen, und wirſt auf 
dem Heumarkt enden . . . Aber du kannſt dieſen Zuſtand nicht 
ertragen, und wenn du allein bleibſt, ſo wirſt du den Verſtand 
verlieren, gerade wie ich. Du biſt ſchon jetzt wie irrſinnig; alſo 
muͤſſen wir beide zuſammengehen, denſelben Weg! So laß es 
uns denn tun!“ 

„Aber warum, warum ſagen Sie denn das alles?“ rief Sofja, 
durch ſeine Worte in eine ſeltſame, ſtuͤrmiſche Aufregung verſetzt. 


504 Schuld und Suͤhne 


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„Warum ich das ſage? Weil es ſo nicht bleiben kann; darum! 
Wir müffen unfre Lage doch endlich ernſthaft und ohne Selbſt— 
täufchung erwaͤgen und nicht wie kleine Kinder weinen und 
ſchreien: ‚Gott wird es nicht zulaſſen!' Nun alſo, was ſoll dann 
werden, wenn du wirklich morgen ins Krankenhaus gebracht 
wirſt? Deine Stiefmutter iſt irrſinnig und ſchwindſuͤchtig; die 
ſtirbt bald; und was wird dann aus den Kindern? Haͤltſt du fuͤr 
möglich, daß Polenka vor dem ſittlichen Untergange bewahrt 
bleibt? Haſt du denn nicht ſchon hier an den Straßenecken Kinder 
geſehen, die von ihren Muͤttern auf den Bettel ausgeſchickt 
werden? Ich habe feſtgeſtellt, wo und in welcher Umgebung 
dieſe Muͤtter wohnen. Dort koͤnnen die Kinder nicht Kinder 
bleiben. Da iſt ein Knabe von ſieben Jahren ſchon unſittlich und 
ein Dieb. Und doch ſind die Kinder ein Ebenbild Chriſti: Solcher 
iſt das Himmelreich.“ Er hat geboten, ſie zu achten und zu lieben; 
fie find die Menſchheit der Zukunft ...“ 

„Was ſoll ich denn tun? Was ſoll ich tun?“ rief боба ſchluch⸗ 
zend und haͤnderingend. 

„Was du tun ſollſt? Niederreißen, was niedergeriſſen werden 
muß, ein fuͤr allemal, und das Leid auf dich nehmen! Du ver— 
ſtehſt mich nicht? Später wirſt du mich verſtehen ... Freiheit 
und Macht muͤſſen wir erlangen, beſonders Macht! Macht uͤber 
dieſen ganzen zitternden Poͤbel und über dieſes ganze Ameiſen⸗ 
volk! . . . Das iſt das Ziel! Vergiß das nicht! Das iſt die Mah— 
nung, die ich dir auf den Weg mitgebe. Vielleicht ſpreche ich mit 
dir jetzt zum letztenmal. Wenn ich morgen nicht zu dir kommen 
ſollte, ſo wirſt du anderweitig alles erfahren, und dann erinnere 
dich an meine jetzigen Worte. Und irgendeinmal, ſpaͤter, nach 
Jahren, im Laufe der Zeit, wirſt du vielleicht auch verſtehen, 
was ſie bedeuteten. Sollte ich aber morgen zu dir kommen, ſo 
will ich dir ſagen, wer Liſaweta getötet hat. Lebe wohl!“ 


Vierter Teil 505 


Sofja fuhr in jaͤhem Schreck zuſammen. 

„Wiſſen Sie denn, wer ſie getoͤtet hat?“ fragte ſie ihn; ſie war 
ganz ſtarr vor Entſetzen und ſah ihn verſtoͤrt an. 

„Ja, ich weiß es und werde es dir ſagen . . . Dir, nur dir. 
Ich habe dich dazu erwaͤhlt. Ich werde nicht kommen, um dich 
um Verzeihung zu bitten, ſondern ich werde es dir einfach jagen. 
Ich habe dich ſchon lange dazu erwaͤhlt, dir dies zu ſagen; ſchon 
damals, als dein Vater mir von dir erzaͤhlte und als Liſaweta 
noch lebte, nahm ich es mir vor. Lebewohl! Gib mir nicht die 
Hand! Auf morgen!“ 

Er ging hinaus. Sofja ſtarrte den Hinausgehenden an wie 
einen Irrſinnigen; aber auch ſie ſelbſt war wie wahnſinnig und 
war ſich deſſen bewußt. Der Kopf ſchwindelte ihr. „O Gott! Wie 
kann er wiſſen, wer Liſaweta getoͤtet hat? Was haben dieſe Worte 
zu bedeuten? Es iſt entſetzlich!“ Aber auf den wahren Sinn kam 
ſie nicht, mit keinem Gedanken. O, er mußte furchtbar ungluͤck— 
lich ſein! ... Von feiner Mutter und von feiner Schweſter hatte 
er ſich losgefagt. Warum? Was war vorgefallen? Und was hatte 
er nur vor? Was hatte er ihr doch noch geſagt? Er hatte ihr den 
Fuß gekuͤßt und geſagt ... geſagt, ... ja, ganz deutlich hatte 
er geſagt, er koͤnne ohne fie nicht mehr leben ... O Gott! 

In Fieber und wirren Gedanken brachte Sofja die ganze Nacht 
zu. Von Zeit zu Zeit ſprang ſie auf, weinte und rang die Haͤnde; 
dann verſank ſie wieder in fieberhaften Schlaf; ſie traͤumte von 
Polenka, von Katerina Iwanowna, von Liſaweta, vom Vorleſen 
aus dem Evangelium und von ihm, ... von ihm mit dem bleichen 
Geſicht, mit den gluͤhenden Augen, . .. und wie er ihr die Füße 
kuͤßt und weint ... O Gott! 

Auf der andern Seite der Tuͤr in der Wand rechts, eben der 
Tuͤr, welche Sofjas Zimmer von der Wohnung der Frau Ger— 
truda Karlowna Roͤßlich trennte, befand ſich ein ſchon geraume 


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506 Schuld und Suͤhne 


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Zeit leerſtehendes Zimmer, das zu Frau Roͤßlichs Wohnung ge— 
hoͤrte und zu vermieten war, wie das ein Papptaͤfelchen am 
Haustor und ein Zettel an einer Scheibe des nach dem Kanal 
hinausgehenden Fenſters beſagte. Sofja hatte ſich ſchon ſeit 
langer Zeit daran gewoͤhnt, dieſes Zimmer fuͤr unbewohnt zu 
halten. Indeſſen hatte waͤhrend dieſes ganzen Geſpraͤches Herr 
Swidrigailow in dem leeren Zimmer an der Tuͤr geſtanden und 
heimlich zugehoͤrt. Als Raſkolnikow ſich entfernt hatte, blieb Herr 
Swidrigailow noch einen Augenblick uͤberlegend ſtehen, dann 
ging er auf den Zehen in ſein Zimmer, das neben dem leeren 
lag, holte von dort einen Stuhl und ſtellte ihn leiſe dicht an die 
Tuͤr, die zu Sofjas Zimmer fuͤhrte. Das Geſpraͤch war ihm merk— 
wuͤrdig und intereſſant erſchienen und hatte ihm ganz außer— 
ordentlich gefallen, ſo ſehr, daß er ſich ſogar einen Stuhl hin— 
ſtellte, um kuͤnftig, moͤglicherweiſe ſchon morgen, nicht wieder 
die Unbequemlichkeit zu haben, eine ganze Stunde lang ſtehen 
zu muͤſſen; er wollte ſich die Sache bequemer einrichten, um 
das Vergnuͤgen ungeſtoͤrt auskoſten zu koͤnnen. 


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Als Raſkolnikow am andern Morgen pünktlich um elf Uhr in 
dem Polizeigebaͤude des ... ſchen Bezirks in die Raͤume des 
Unterſuchungskommiſſars eingetreten war und ſich bei Porfiri 
Petrowitſch hatte melden laſſen, wunderte er ſich, wie lange er 
warten mußte: es dauerte mindeſtens zehn Minuten, bis er де: 
rufen wurde. Und er hatte geglaubt, man wuͤrde, ſowie er nur 
kaͤme, unverzuͤglich über ihn herfallen. Aber er Нато im Warte— 
zimmer, und es kamen und gingen Leute an ihm voruͤber, denen 
er allem Anſchein nach völlig gleichgültig war. Im folgenden 
Zimmer, das den Eindruck einer Kanzlei machte, ſaßen einige 
Schreiber bei ihrer Arbeit, und es war augenſcheinlich, daß keiner 


Vierter Teil 507 


von ihnen auch nur eine Ahnung davon hatte, wer und was 
Raſkolnikow ſei. Mit unruhigem, argwoͤhniſchem Blicke ſchaute 
er um ſich herum, um ſich zu vergewiſſern, ob nicht irgendein 
Poliziſt in ſeiner Naͤhe ſei, irgendein geheimer Waͤchter, der den 
Auftrag habe, auf ihn aufzupaſſen, damit er nicht davonginge. 
Aber er konnte nichts dergleichen entdecken: er ſah nur die Kanz— 
liſten mit ihrem kleinlichen Tun und Treiben und ſonſt noch 
einige Leute; aber niemand kuͤmmerte ſich um ihn; er haͤtte 
ohne weiteres auf und davon gehen koͤnnen. Immer mehr be— 
feſtigte ſich bei ihm der Gedanke, daß, wenn dieſer raͤtſelhafte 
Menſch von geſtern, dieſes aus der Erde aufgetauchte Geſpenſt, 
wirklich alles geſehen und gewußt hätte, man ihn, Raſkolnikow, 
hier gewiß nicht ſo ruhig ſtehen und warten laſſen wuͤrde. Und 
ſicherlich haͤtte man heute nicht ſo lange gewartet, bis es ihm 
ſelbſt belieben wuͤrde herzukommen. Es ergab ſich alſo als Reſul— 
tat: entweder hatte dieſer Menſch noch keine Anzeige erſtattet, 
oder . . . oder . . . auch er wußte einfach nichts und hatte nichts 
mit eigenen Augen geſehen (und wie war es denn auch moͤglich, 
daß er etwas geſehen hätte?), und folglich war dieſes ganze бт: 
lebnis, das er, Raſkolnikow, geſtern gehabt hatte, in der Haupt— 
ſache wieder nur ein Wahngebilde, welches feine uͤberreizte, 
kranke Phantaſie erzeugt hatte. Der Gedanke, daß die Sache fo 
zu erklaͤren fei, hatte ſogar ſchon geſtern während der aͤrgſten 
Beunruhigung und Verzweiflung angefangen ſich bei ihm feſt— 
zuſetzen. Waͤhrend er alles dies jetzt nochmals durchdachte und 
ſich zu einem neuen Kampfe rüftete, fühlte er auf einmal, daß 
er zitterte, — und eine heiße Empoͤrung wallte in ihm auf bei 
dem Gedanken, daß er wohl gar aus Furcht vor dem verhaßten 
Porfiri Petrowitſch zittere. Das Schrecklichſte, was ihm be— 
gegnen konnte, war fuͤr ihn, nochmals mit dieſem Menſchen 
zuſammenzukommenz er haßte ihn waßlos, grenzenlos und fuͤrch— 


508 Schuld und Sühne 


tete fogar, fein Haß könnte ſchuld daran werden, daß er ſich eine 
Blöße gäbe. Und fo heftig war feine Empörung, daß fie dem 
Zittern ſofort ein Ende machte; er machte ſich bereit, mit kalter, 
dreiſter Miene einzutreten, und nahm ſich feſt vor, nach Moͤglich⸗ 
keit zu ſchweigen, zu beobachten und zuzuhoͤren und wenigſtens 
diesmal um jeden Preis feine krankhafte Reizbarkeit zu über: 
winden. In dieſem Augenblicke wurde er zu Porfiri Petrowitſch 
hereingerufen. 

Er fand Porfiri Petrowitſch in ſeinem Arbeitszimmer allein. 
Das Zimmer war von mittlerer Groͤße; es ſtanden darin: ein 
großer Schreibtiſch, ein mit Wachstuch bezogenes Sofa mit 
einem Tiſch davor, ein Eckſchrank und einige Stühle, lauter fis⸗ 
kaliſche Moͤbel aus gelbem, poliertem Holze. In der Hinterwand, 
die nur von einem Bretterverſchlage gebildet wurde, befand ſich 
nach der einen Ecke zu eine geſchloſſene Tuͤr; alſo mußten noch 
andre Zimmer dahinter liegen. Nach Raſkolnikows Eintritt ſchloß 
Porfiri Petrowitſch ſofort die Tuͤr, durch die dieſer hereinge⸗ 
kommen war, ſo daß ſie allein waren. Er bewillkommnete den 
Beſucher anſcheinend in heiterſter Stimmung und mit freund⸗ 
lichſter Miene, und erſt einige Minuten darauf glaubte Raſkol⸗ 
nikow an gewiſſen Anzeichen eine Art von Verlegenheit bei ihm 
zu bemerken, als ſei ihm etwas in die Quere gekommen, oder 
als ſei er bei irgendwelcher Heimlichkeit ertappt worden. 

„Ah, Verehrteſter, da find Sie ja auch ... in unſerm Reiche ...“, 
begann Porfiri und ſtreckte ihm beide Haͤnde entgegen. „Nun, 
ſetzen Sie ſich, Vaͤterchen! Oder vielleicht moͤgen Sie es nicht 
gern, daß man Sie . .. {© tout court... Verehrteſter und Vaͤter⸗ 
chen nennt? Hatten Sie es, bitte, nicht für Zudringlichkeit! Bitte 
hierher, auf das Sofa!“ | 

Raſkolnikow feste ſich, ohne die Augen von ihm abzuwenden. 

„In unſerm Reiche“, die Entſchuldigung wegen der familiaͤren 


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Vierter Teil 509 


Anrede, die franzoͤſiſche Phraſe tout court und andres mehr, 
das waren alles charakteriſtiſche Anzeichen. „Er hat mir zwar 
beide Haͤnde entgegengeſtreckt, mir aber keine Hand gereicht, 
ſondern ſie noch rechtzeitig zuruͤckgezogen,“ dachte er argwoͤhniſch 
in der Geſchwindigkeit. Beide beobachteten ſich wechſelſeitig; 
aber ſobald ſich ihre Blicke begegneten, wandten ſie ſie beide 
blitzſchnell voneinander ab. 

„Ich bringe Ihnen hier die Eingabe wegen der Uhr, . .. hier, 
bitte. Iſt es richtig, wie ich ſie aufgeſetzt habe, oder ſoll ich ſie 
noch einmal umſchreiben?“ 

„Was? Ach, die Eingabe! Nein, es iſt alles in Ordnung, alles 
in Ordnung, ſeien Sie unbeforgt, alles ganz wunderſchoͤn!“ er: 
widerte Porfiri Petrowitſch haſtig, als muͤßte er ſchnell weg, und 
nahm erſt nach dieſen Worten das Schriftſtuͤck hin und ſah es 
durch. „Ja, es iſt wunderſchoͤn; weiter iſt nichts erforderlich,“ 
beſtaͤtigte er nochmals mit der gleichen Zungenfertigkeit und 
legte das Schreiben auf den Sofatiſch. 

Eine Minute ſpaͤter, als er bereits von etwas anderem ſprach, 
nahm er es wieder vom Sofatiſche weg und trug es nach dem 
Schreibtiſche hinuͤber. | 

„Sie ſagten ja wohl geſtern, daß Sie mich in aller Form zu 
vernehmen wuͤnſchten ... über meine Bekanntſchaft mit dieſer 
ermordeten Frau?“ begann Raſkolnikow. 

„Warum habe ich nur dieſes ‚ja wohl' eingeſchaltet?“ durch— 
zuckte es ihn. „Na, warum beunruhige ich mich fo darüber, daß 
ich dieſes ‚ja wohl' eingeſchaltet habe?“ folgte bei ihm ſofort ein 
zweiter Gedanke blitzſchnell nach. 

Und plotzlich kam es ihm zum Bewußtſein, daß feine Zweifel— 

ſucht infolge des bloßen Zujammenfeins mit Porfiri, infolge 
einiger weniger Worte, einiger weniger Blicke bereits in einem 
Augenblicke zu ungeheuerlichen Dimenſionen herangewachſen 


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510 Schuld und Sühne 


ſei, .. . und daß es enorm gefährlich fei, wenn in ſolcher Art 
die Reizbarkeit der Nerven zunehme und die Aufregung ſteige. 
„Schlimm! Schlimm! . .. Die Zunge wird mir wieder durch 
gehen!“ | 

„Ja, ja, ja! Seien Sie unbeforgt! Die Sache hat ja ſehr Zeit, 
ſehr Zeit,“ murmelte Porfiri Petrowitſch; er ging, anſcheinend 
zwecklos, neben dem Sofatiſche hin und her; dann wieder lief 
er zum Fenſter, dann zum Schreibtiſch, dann wieder zum Sofa— 
tiſch; bald wich er Raſkolnikows argwoͤhniſchem Blicke aus, bald 
blieb er auf einem Fleck ſtehen und ſtarrte ihm gerade ins Ge— 
ſicht. 

Ganz wunderlich nahm ſich dabei ſeine kleine, dicke, runde 
Figur aus, wie ein großer Gummiball, der bald nach dieſer, 
bald nach jener Seite hinrollt und immer gleich wieder von allen 
Waͤnden und Ecken zuruͤckprallt. 

„Das hat ja noch Zeit, das hat ja noch Zeit! ... Rauchen Sie? 
Haben Sie bei ſich? Bitte, da iſt eine Zigarette!“ fuhr er fort, 
indem er ſeinem Gaſte eine Zigarette reichte. „Wiſſen Sie, ich 
empfange Sie hier; meine Wohnung liegt da auf der andern 
Seite der dünnen Wand, ... eine Dienſtwohnung; aber ich Ве: 
nutze jetzt einſtweilen eine Privatwohnung. Es waren hier ein 
paar Reparaturen noͤtig. Jetzt iſt alles faſt in Ordnung. Eine 
Dienſtwohnung, wiſſen Sie, das iſt doch eine praͤchtige Sache, 
nicht wahr? Meinen Sie nicht auch?“ 

„Ja, das iſt eine praͤchtige Sache,“ erwiderte Raſkolnikow und 
blickte ihn beinahe ſpoͤttiſch an. 

„Eine praͤchtige Sache, eine praͤchtige Sache,“ ſagte Porfiri 
Petrowitſch mehrmals hintereinander, als ob er auf einmal an 
etwas ganz anderes daͤchte. „Ja, eine prächtige Sache!“ rief er 
zuletzt ſehr laut, richtete ploͤtzlich ſeine Blicke auf Raſkolnikow und 
blieb zwei Schritte von ihm entfernt ſtehen. 


Vierter Teil 511 


Dieſe vielmalige toͤrichte Wiederholung, daßeine Dienſtwohnung 
eine praͤchtige Sache ſei, bildete in ihrer Plattheit einen ſchroffen 
Widerſpruch zu dem ernſten, nachdenklichen, raͤtſelhaften Blicke, 
den er jetzt auf dem Beſucher ruhen ließ. 

Dadurch wurde Raſkolnikows Wut noch mehr ins Kochen де: 
bracht, und er konnte eine ſpoͤttiſche und recht unvorſichtige 
Herausforderung nicht mehr zuruͤckhalten: 

„Wiſſen Sie was?“ fragte er, indem er ihn dreiſt anblickte und 
einen wahren Genuß von ſeiner Dreiſtigkeit hatte, „es gibt ja 
doch wohl bei der Juſtiz fuͤr alle moͤglichen Unterſuchungsbeamten 
eine Regel, einen Kniff, zuerſt von weither anzufangen, mit 
Kleinigkeiten, oder auch mit etwas Ernſthaftem, aber voͤllig 
Fremdartigem, um den Inquiſiten ſozuſagen zu ermutigen oder, 
richtiger ausgedruͤckt, zu zerſtreuen und ſeine Vorſicht einzu— 
ſchlaͤfern, und ihn dann auf einmal, wenn er es am wenigſten 
erwartet, durch eine verhaͤngnisvolle, gefaͤhrliche Frage, wie 
durch einen Knuͤttelſchlag gerade auf den Scheitel, zu betaͤuben; 
nicht wahr? Das wird ja wohl in allen Leitfaͤden und An— 
weiſungen bis auf den heutigen Tag als eine beſondere Weis— 
heit eingeſchaͤrft?“ 

„Ganz richtig, ganz richtig . . . Alſo Sie meinen, ich hätte Sie 
durch das von der Dienſtwohnung ... hm. . . ja?“ Nach dieſen 
Worten kniff Porfiri Petrowitſch die Augen zuſammen und 
zwinkerte ihm zu; ein vergnuͤgter, ſchlauer Ausdruck huſchte uͤber 
ſein Geſicht; die Falten auf ſeiner Stirn glaͤtteten ſich; die Aug— 
lein wurden ganz klein; das ganze Geſicht zog ſich in die Breite; 
und ploͤtzlich brach er in ein nervoͤſes, lange anhaltendes Lachen 
aus, wobei er mit dem ganzen Koͤrper hin und her wiegte und 
ſchwankte, feinem Beſucher aber gerade in die Augen blickte. 
Dieſer begann, ſich etwas Zwang antuend, ſelbſt zu lachen. Aber 
als nun bei dieſem Anblick Porfiri Petrowitſch in einen ſolchen 


— 


512 Schuld und Suͤhne 


— — — 


Lachkrampf hineingeriet, daß er ganz blaurot wurde, da gewann 
bei Raſkolnikow der Widerwille die Oberhand über die Vorſicht; 
er hoͤrte auf zu lachen, machte ein finſteres Geſicht und richtete 
einen langen, haßerfuͤllten Blick auf Porfiri, [о daß er während 
der ganzen Dauer dieſes ununterbrochenen Lachens, das, wie 
mit Abſicht, gar nicht enden zu wollen ſchien, die Augen nicht 
von ihm abwandte. Ein Mangel an Vorſicht war uͤbrigens auf 
beiden Seiten deutlich; denn Porfiri Petrowitſch lachte ja ganz 
unverhohlen ſeinem Gaſte ins Geſicht, trotzdem dieſer das Lachen 
mit haßerfuͤllter Miene aufnahm, und wurde darüber in keiner 
Weiſe verlegen. Dieſer letztere Umſtand war für Raſkolnikow 
von Wichtigkeit zur Beurteilung der Sachlage: er ſagte ſich nun, 
daß Porfiri Petrowitſch ſicherlich auch vorhin durchaus nicht ver— 
legen geweſen ſei, ſondern im Gegenteil er ſelbſt, Raſkolnikow, 
wohl in eine Falle hineingeraten ſei, daß hier offenbar etwas 
vorhanden ſei, wovon er nichts wiſſe, irgendeine beſondere 
Abſicht, daß vielleicht alles ſchon vorbereitet ſei und ſich im 
naͤchſten Augenblick enthuͤllen und entladen werde. 

Er wollte der Gefahr ſofort entgegentreten; darum ſtand er 
auf und griff nach ſeiner Muͤtze. 

„Porfiri Petrowitſch,“ begann er in entſchloſſenem Tone, der 
aber ſehr gereizt klang, „Sie ſprachen geſtern den Wunſch aus, 
ich moͤchte zum Zwecke eines Verhoͤrs zu Ihnen kommen.“ (Er 
legte beſonderen Nachdruck auf das Wort Verhoͤr.) „Ich bin де: 
kommen, und wenn Sie etwas wiſſen wollen, ſo fragen Sie mich; 
andernfalls geftatten Sie mir, mich zu entfernen. Ich habe keine 
Zeit; ich bin in Anſpruch genommen .. . Ich muß der Beerdigung 
eben jenes überfahrenen Beamten beiwohnen, von dem Sie... 
ja auch bereits wiſſen, . . .“ fügte er hinzu, aͤrgerte ſich aber 
ſofort uͤber dieſen Zuſatz und wurde nun noch gereizter. „Mir iſt 
dieſe ganze Geſchichte zum Ekel geworden, hoͤren Sie, und zwar 


Vierter Teil 513 


ſchon laͤngſt, . .. auch meine Krankheit ruͤhrte zum Teil davon 
бег... Kurz,“ fuhr er beinahe ſchreiend fort, da er ſich bewußt 
wurde, daß die Bemerkung uͤber die Krankheit noch weniger am 
Platze geweſen war, „kurz, ſeien Sie ſo gut, mich entweder zu 
befragen oder zu entlaſſen, aber ſofort, .. . und wenn Sie mich 
befragen wollen, dann nur in aller Form! Auf eine andre Art 
der Befragung werde ich nicht eingehen; und darum ſage ich 
Ihnen einſtweilen Lebewohl, da wir beide augenblicklich mit— 
einander nichts zu ſchaffen haben.“ 

„Um des Himmels willen, was haben Sie denn nur! Woruͤber 
ſoll ich Sie denn vernehmen?“ begann Porfiri Petrowitſch ploͤtz— 
lich einen eifrigen Redeſchwall, aͤnderte ſofort Ton und Miene 
und hoͤrte im Nu auf zu lachen. „Bitte, regen Sie ſich doch nicht 
auf!“ Er entwickelte eine unruhige Geſchaͤftigkeit, indem er bald 
wieder hin und her rannte, bald Raſkolnikow einlud, doch wieder 
Platz zu nehmen. „Die Sache hat ja Zeit, die Sache hat ja Zeit, 
und es ſind ja doch nur Kleinigkeiten! Ich bin vielmehr ſo froh, 
daß Sie endlich einmal zu mir gekommen ſind . . . Ich betrachte 
Ihr Hierſein als einen freundlichen Beſuch. Und wegen dieſes 
verdammten Lachens bitte ich Sie um Entſchuldigung, Vaͤter— 
chen Rodion Romanowitſch! Rodion Romanowitſch, ſo ſind doch 
wohl Ihre Namen? Ich bin ein nervöfer Menſch; Sie haben 
mich durch Ihre witzige Bemerkung arg zum Lachen gereizt; 
manchmal muß ich ſo lachen, daß mir der Leib ſchuͤttert, als ob 
er von Gummielaſtikum waͤre, wahrhaftig, eine halbe Stunde 
lang. Ich bin nun einmal ſo lachluſtig. Bei meiner Konſtitution 
kann ich dabei ſogar eines Schlaganfalls gewaͤrtig ſein. Aber ſo 
ſetzen Sie ſich doch, was haben Sie denn! ... Bitte, Väter: 
chen, ſonſt muß ich ja denken, daß Sie es mir uͤbelgenommen 
haben. ..“ 

Raſkolnikow ſchwieg, hoͤrte und beobachtete, immer noch mit 
XIX. os. 


514 Schuld und Suͤhne 


zornigem, finſterem Geſichte. Jedoch ſetzte er ſich wieder hin, 
legte aber die Muͤtze nicht aus der Hand. 

„Ich möchte Ihnen, Vaͤterchen Rodion Romanowitſch, etwas 
über mich ſelbſt mitteilen, ſozuſagen, um Ihnen mein Weſen 
verſtaͤndlich zu machen,“ fuhr Porfiri Petrowitſch fort; er haſtete 
wieder durch das Zimmer und vermied es, wie vorher, dem Blicke 
des Beſuchers zu begegnen. „Sehen Sie, ich bin Junggeſelle, 
ohne weltmaͤnniſchen Schliff; ich lebe ſo ſtill fuͤr mich; meine 
Entwicklung ИЕ bereits zum Stillſtand gelangt, ich bin ſtarr де: 
worden, ſozuſagen in Samen geſchoſſen, und ... und ... und 
iſt es Ihnen vielleicht auch ſchon aufgefallen, Rodion Romano: 
witſch, daß bei uns, ich meine bei uns in Rußland und ganz be— 
ſonders in unſern Petersburger Kreiſen, wenn zwei verſtaͤndige 
Menſchen miteinander zuſammenkommen, die miteinander noch 
nicht näher bekannt find, aber ſich doch ſozuſagen wechſelſeitig 
achten, ſo wie wir beide jetzt, — daß es dann eine gute halbe 
Stunde dauert, bis fie ein Geſpraͤchsthema finden; ſie ſitzen ſich 
ſteif gegenuͤber und genieren ſich einer vor dem andern. Alle 
andern Leute haben immer einen Geſpraͤchsſtoff parat; die 
Damen zum Beiſpiel, . .. die Lebemaͤnner zum Beiſpiel, die 
feinen Leute, alle haben fie immer etwas zum Reden, c'est de 
rigueur; aber Leute aus der Mittelſchicht, ſo wie wir, ſind immer 
verlegen und wortkarg, . . . ich meine: denkende Menſchen. Wo: 
her mag das kommen, Vaͤterchen? Haben wir keine gemein⸗ 
ſamen Intereſſen, oder ſind wir ſo ehrlich, daß wir einander 
nichts vormachen moͤgen? Ich weiß es nicht. Nun, wie denken 
Sie daruͤber? Aber legen Sie doch Ihre Muͤtze beiſeite; das 
ſieht ja ſo aus, als waͤren Sie auf dem Sprunge fortzugehen; 
das macht ſich ja fo ungemuͤtlich .. . Und ich freue mich doch fo 
Bu. | 
Raſkolnikow legte die Muͤtze hin, fuhr aber fort, zu ſchweigen 


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Vierter Teil 515 


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und mit ernſtem, finſterem Geſichte Porfiris leeres, wirres Ge— 
ſchwaͤtz anzuhoͤren. „Ob er wirklich durch ſein dummes Geſchwaͤtz 
meine Aufmerkſamkeit ablenken will?“ dachte et. 

„Ich biete Ihnen keinen Kaffee an; es iſt hier nicht der Ort 
dazu,“ plauderte Porfiri ohne Unterbrechung weiter. „Aber 
warum ſollte man nicht ein fuͤnf Minuten mit einem Freunde 
zuſammenſitzen und ſich ein bißchen zerſtreuen? Und wiſſen Sie, 
alle dieſe dienſtlichen Obliegenheiten ... Aber nehmen Sie es 
mir nicht uͤbel, Vaͤterchen, daß ich immer ſo auf und ab wandere; 
entſchuldigen Sie, Vaͤterchen, ich moͤchte in keiner Weiſe unartig 
gegen Sie ſein; aber es iſt geradezu eine Notwendigkeit fuͤr mich, 
daß ich mir Bewegung mache. Ich ſitze fortwaͤhrend und freue 
mich darum ſehr, wenn ich einmal fuͤnf Minuten lang umher— 
wandern kann, . .. Hämorrhoiden, . .. ich habe ſchon immer 
vor, mich durch ſyſtematiſches Turnen zu kurieren; man fagt, 
daß Staatsraͤte, Wirkliche Staatsraͤte und ſogar Geheimraͤte mit 
Vergnuͤgen Springuͤbungen vornehmen; da ſieht man, wie die 
hygieniſche Wiſſenſchaft ... in unſerm Jahrhundert . . . ja, ja. 
. . . Und was dieſe dienſtlichen Obliegenheiten anlangt, dieſe 
Verhoͤre und all dieſe Formalitäten, . .. Sie erwähnten ja ſo— 
eben ſelbſt etwas von Verhoͤren, Vaͤterchen, . .. fo muͤſſen Sie 
wiſſen, Vaͤterchen Rodion Romanowitſch, dieſe Verhoͤre machen 
manchmal den Inquirenten ſelbſt konfuſer als den Inquiſiten ... 
Das war vorhin eine uͤberaus richtige und ſcharfſinnige Be— 
merkung von Ihnen, Vaͤterchen.“ (Raſkolnikow hatte keine der— 
artige Bemerkung gemacht.) „Man wird ganz wirr im Kopfe, 
wahrhaftig ganz wirr! Und immer ein und dasſelbe, immer ein 
und dasſelbe, wie bei einer Maſchine. Na, jetzt iſt ja nun eine 
Reform im Werke, und da werden wir doch wenigſtens andre 
Amtstitulaturen bekommen, he-he-he! Na, und hinſichtlich unſrer 
Kniffe bei der Juſtiz (wie Sie ſich vorhin ſehr geiſtreich aus— 


516 Schuld und Suͤhne 


drückten), da bin ich voll und ganz Ihrer Anſicht. Aber ſagen 
Sie ſelbſt, welcher Angeklagte, und wäre es der einfaͤltigſte Bauer, 
wüßte das nicht, daß man anfangs mit fremdartigen Fragen 
ſeine Vorſicht einzuſchlaͤfern ſucht (um Ihren gluͤcklich gewaͤhlten 
Ausdruck zu gebrauchen) und ihn dann ploͤtzlich durch einen 
Knuͤttelſchlag gerade auf den Scheitel betäuben will, Бегбегбе! 
gerade auf den Scheitel, das war ein ſehr gluͤcklicher Vergleich, 
deſſen Sie ſich da bedienten! He-he! Alſo da haben Sie wirklich 
gedacht, ich haͤtte vor, Sie durch die Reden von der Dienſt⸗ 
wohnung ... he-he! Was find Sie für ein Spoͤtter! Na, ich 
tu's nicht wieder! Ach ja, dabei faͤllt mir ein, ein Wort gibt ja 
das andre, und ein Gedanke knuͤpft ſich an den andern, Sie haben 
da vorhin auch von der geſetzlichen Form geſprochen, wiſſen Sie, 
in bezug auf Verhoͤre. Na, wozu denn immer in aller geſetzlichen 
Form! Wiſſen Sie, die geſetzliche Form iſt dabei oft der reine 
Unſinn. Manchmal, wenn man nur fo ganz freundfchaftlich mit 
einem redet, iſt das doch viel vorteilhafter. Die geſetzliche Form 
läuft einem ja nicht davon; geftatten Sie, daß ich Sie darüber 
beruhige; ja, und was hat denn auch eigentlich die geſetzliche 
Form fuͤr eine Bedeutung, moͤchte ich Sie fragen? Durch die 
geſetzliche Form darf man ſich, wenn man eine Unterſuchung 
fuͤhrt, nicht auf Schritt und Tritt hemmen laſſen. Die Taͤtigkeit 
eines Unterſuchungskommiſſars iſt doch, um mich ſo auszudruͤcken, 
eine freie Kunſt in ihrer Art, oder fo etwas Ahnliches ... Бе 
he⸗he!“ 

Porfiri Petrowitſch hielt für einen Augenblick inne, um wieder 
Atem zu ſchoͤpfen. Er redete immer in einem Zuge hin, ohne 
muͤde zu werden; bald waren es ſinnloſe, leere Redensarten; 
dann ſtreute er auf einmal dunkle Andeutungen dazwiſchen und 
geriet ſofort wieder in das ſinnloſe Gerede hinein. Sein Hin⸗ 
und Herwandern im Zimmer war ſchon beinahe zu einem Laufen 


Vierter Teil 517 


geworden; immer ſchneller und fchneller bewegten fich feine 
dicken Beinchen; dabei blickte er immer auf den Fußboden; die 
rechte Hand hielt er auf den Ruͤcken; die linke ſchwenkte er fort- 
waͤhrend in der Luft umher und vollfuͤhrte mit ihr allerlei Geſti— 
kulationen, die aber jedesmal auffallend wenig zu ſeinen Worten 
paßten. Raſkolnikow bemerkte plotzlich, daß er bei feinem Umher— 
laufen im Zimmer ein paarmal an der Eingangstür ſtehen blieb, 
nur einen Augenblick, und auf etwas zu horchen ſchien ... 
„Wartet er vielleicht auf etwas?“ dachte er. 

„Und darin haben Sie wirklich vollkommen recht,“ fuhr Por— 
firi wieder fort und blickte dabei Raſkolnikow heiter und mit ganz 
beſonderer Gutmuͤtigkeit an (dieſer bekam ordentlich einen Schreck 
daruͤber und ſetzte ſich ſchleunigſt wieder in Bereitſchaft), „wirk— 
lich vollkommen recht, daß Sie ſich uͤber das Formenweſen bei 
der Juſtiz in ſo geiſtreicher Weiſe luſtig machten, he-he! Dieſe 
unſre Kniffe, von denen manche mit ſolchem pfychologifchen Tief— 
ſinn ausgekluͤgelt find, find höchft lächerlich, ja vielleicht ſogar 
ganz wertlos, wenn man ſich dabei zu ſehr an die Form bindet. 
Ja, .. ich komme wieder auf die geſetzliche Form zu reden: 
alſo wenn ich in einer Sache, die mir uͤbertragen iſt, den einen 
oder andern fuͤr den Taͤter halte oder, beſſer geſagt, im Ver— 
dacht habe . .. Sie ſtudieren ja doch Jura, Rodion Romano: 
witſch?“ 

„Das habe ich allerdings getan.“ 

„Nun alſo, da moͤchte ich Ihnen, um mich ſo been ein 
kleines Beiſpiel für Ihre zukuͤnftige Praxis anführen, — das 
heißt, glauben Sie nicht etwa, daß ich mir herausnehme, Sie 
belehren zu wollen: Sie laſſen ja ſelbſt ſo ſchoͤne Aufſaͤtze uͤber 
Verbrechen drucken! Nein, ich moͤchte Ihnen nur ganz ohne 
ſolche Abſicht, als einen faktiſchen Fall, ein kleines Beiſpiel an— 
fuͤhren. Alſo wenn ich zum Beiſpiel den einen oder den andern 


BD 


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518 Schuld und Suͤhne 


für den Täter halte, warum ſoll ich, frage ich Sie, ihn vor dem rich: 
tigen Zeitpunkt beunruhigen, auch wenn ich Indizien gegen ihn 
in der Hand habe? Manchen muß ich ja allerdings fo ſchnell wie 
möglich feſtnehmen; aber ein andrer hat wieder einen ganz 
andern Charakter, im Ernſt; alſo warum ſoll ich ihm da nicht 
geſtatten, noch ein bißchen in der Stadt ſpazierenzugehen, 
he⸗he-he! Nein, wie ich fehe, verſtehen Sie noch nicht ganz, wie 
ich es meine; darum will ich es Ihnen noch deutlicher ausein— 
anderſetzen: naͤmlich wenn ich ihn zu fruͤh feſtnehme, ſo gebe ich 
ihm dadurch womoͤglich noch ſozuſagen eine moraliſche Stuͤtze, 
he⸗he! Ja, Sie lachen?“ (Raſkolnikow dachte gar nicht daran, 
zu lachen; er ſaß mit zuſammengepreßten Lippen da und wandte 
ſeinen gluͤhenden Blick nicht einen Moment von Porfiris Augen 
ab.) „Aber es verhält ſich doch fo, beſonders bei gewiſſen Indi— 
viduen; denn die Menſchen ſind ſehr verſchiedenartig, und die 
Hauptſache bleibt doch immer die praftifche Erfahrung. Nun 
werden Sie mir vielleicht einwenden: die Indizien! Aber an⸗ 
genommen, es ſind Indizien vorhanden, ſo haben doch Indizien 
größtenteils ihre zwei Seiten, Vaͤterchen, und ich als Unter: 
ſuchungskommiſſar, alſo als ſchwacher Menſch, muß geſtehen: ich 
möchte die Schlußfolgerung gern ſozuſagen mit mathematiſcher 
Klarheit hinſtellen, damit ſie ſo ſicher iſt wie zweimal zwei gleich 
vier und einen direkten und unbeſtreitbaren Beweis bildet. Wenn 
ich ihn aber vor der rechten Zeit feſtnehme (mag ich auch feſt 
uͤberzeugt ſein, daß er es geweſen iſt), ſo beraube ich mich viel— 
leicht ſelbſt der Mittel zu feiner weiteren Überführung. Inwie⸗ 
fern? Weil ich ihn ſozuſagen in eine feſt beſtimmte Situation 
hineinverſetze, ihm in ſeeliſcher Hinſicht ſozuſagen ein Funda⸗ 
ment gebe und ihn zur Ruhe kommen laſſe; da wird er ſich dann 
vor mir in ſeine Schale verkriechen: er wird ſich eben endlich 
daruͤber klar, daß er Gefangener iſt. So erzaͤhlt man, daß gleich 


——ñ—Ü— 4 СЭ САМА ААА—А—«АЭС—-—-— 
— 


nach der Schlacht an der Alma kluge Leute in Sebaſtopol eine 
Heidenangſt hatten, der Feind koͤnnte jeden Augenblick mit offener 
Gewalt einen Angriff machen und Sebaſtopol mit einem Schlage 
einnehmen; aber als ſie ſahen, daß der Feind eine regelrechte 
Belagerung vorzog und die erſte Parallele eroͤffnete, da ſollen 
ſich die klugen Leute gefreut und beruhigt haben; ſie ſagten ſich 
naͤmlich: nun dauert die Sache mindeſtens noch zwei Monate; 
denn ſchneller führt eine regelrechte Belagerung nicht zur Ein— 
nahme. Sie lachen wieder, wollen mir wieder nicht glauben? 
Gewiß, auch Sie haben recht, haben ganz recht, ganz recht! Ich 
bin mit Ihnen ganz derſelben Meinung: das ſind lauter ſin— 
guläre Fälle; der von mir angeführte Fall iſt tatfächlich nur ein 
ſingulaͤrer! Aber, beſter Rodion Romanowitſch, dabei muß man 
doch beachten, daß es jenen allgemeinen, typiſchen Fall, auf den 
alle geſetzlichen Formen und Regeln bei der Juſtiz zugeſchnitten 
ſind und auf Grund deſſen man ſie konſtruiert und in den Hand— 
buͤchern aufgezeichnet hat, — daß es den uͤberhaupt nicht gibt, 
eben deswegen, weil jede Tat, zum Beiſpiel jedes Verbrechen, 
ſowie es in der Wirklichkeit vorkommt, ſich ſofort auch in einen 
voͤllig ſingulaͤren Fall verwandelt und manchmal geradezu in 
einen, wie er vorher noch nie dageweſen iſt. In der Art kommen 
manchmal hoͤchſt komiſche Sachen vor. Wenn ich nun irgendeinen 
Herrn ganz unbehelligt laſſe, ihn nicht feſtnehme und nicht be— 
laͤſtige, aber er muß zu jeder Stunde und in jeder Minute wiſſen 
oder wenigſtens argwoͤhnen, daß ich alles, ſein ganzes Geheim— 
nis, weiß, bei Tag und Nacht ihn beobachte, ihn unermüdlich 
uͤberwache, und er muß dieſen Argwohn und dieſe Furcht fort— 
während in feinem Bewußtſein herumtragen: weiß Gott, da 
wird ihm zuletzt ſchwindlig werden, ganz beſtimmt, und er wird 
von ſelbſt zu mir kommen und vielleicht gar noch etwas anſtellen, 
was den Schuldbeweis ſozuſagen als einen mathematiſch zwin— 


520 Schuld und Sühne 


Ehen 
genden erſcheinen laͤßt, — und das iſt dann doch ſehr angenehm. 
Das kann ſowohl einem toͤlpeligen Bauern paſſieren als auch 
einem von unſerm Schlage, jemandem, der eine moderne Bil— 
dung beſitzt und ſeinen Geiſt nach irgendeiner beſtimmten Rich— 
tung hin noch beſonders entwickelt hat, und ſo einem erſt recht! 
Darum, Verehrteſter, iſt es ſehr wichtig, zu wiſſen, nach welcher 
Richtung hin ſich jemand entwickelt hat. Und dann die Nerven, 
die Nerven! Die hatten Sie ja ganz und gar vergeſſen! Dieſe 
ganze Generation heutzutage iſt ja krank, mager, reizbar! Aber 
Galle, Galle haben ſie alle ein gehoͤriges Quantum! Ich kann 
Ihnen fagen, das iſt in manchen Fällen die beſte Unterftügung 
fuͤr den Unterſuchungskommiſſar! Und welchen Anlaß habe ich, 
mich daruͤber zu beunruhigen, daß er in der Stadt frei umher— 
geht? Mag er doch, mag er doch vorlaͤufig noch ein bißchen 
ſpazierengehen, immerzu; ich weiß ja auch ohnedies, daß er 
mein Opfer iſt und mir nicht davonlaͤuft! Ja, und wo ſoll er 
auch hinflüchten, he-he-he! Etwa ins Ausland? Ein Pole würde 
ins Ausland flüchten, aber er nicht, um [о weniger, da ich ihn Бе 
obachte und meine Maßregeln getroffen habe. Oder ſoll er im 
Inlande nach einem Dorfe oder ſonſt einem kleinen Neſte fliehen? 
Aber da wohnen Bauern, die richtigen, dummen ruſſiſchen 
Bauern, und ein Menſch mit moderner Bildung wird, wenn er 
die Wahl hat, lieber ins Gefaͤngnis gehen als mit unſern Bauern 
zuſammenwohnen, mit denen fuͤr ihn gar keine Verſtaͤndigung 
möglich ift, he-he-he! Und all das Ш noch das wenigſte, das find 
nur äußere Gründe. Was heißt das: ‚er wird fliehen‘? Dabei 
denkt man an die aͤußerliche Handlung; aber das iſt gar nicht 
die Hauptſache. Nicht bloß deswegen wird er mir nicht davon— 
gehen, weil er keinen Ort hat, wohin er fluͤchten koͤnnte; er wird 
mir nach den Regeln der Pſychologie nicht davongehen, he-he-he! 
Ein feiner Ausdruck, was? Einem Naturgeſetze zufolge wird er 


Vierter Teil 521 


mir nicht davongehen, ſelbſt wenn er einen Ort hätte, wohin er 
ſich fluͤchten koͤnnte. Haben Sie ſchon einmal einen Schmetter— 
ling in der Naͤhe einer brennenden Kerze geſehen? Na, ganz ſo 
wird auch er immerzu, immerzu um mich wie um eine Kerze 
herumkreiſen; die Freiheit wird ihm zuwider werden; er wird 
melancholiſch und konfus werden, ſich ſelbſt wie in einem Netze 
verwickeln und ſich zu Tode aͤngſtigen! ... Und noch mehr: er 
ſelbſt wird mir gleichſam einen evidenten mathematiſchen Be: 
weis zurechtmachen, wenn ich ihm nur die erforderliche Zeit laſſe. 
. . . Und unaufhörlich, unaufhoͤrlich wird er um mich Kreiſe be— 
ſchreiben, mit immer kleinerem Radius; und bauz! fliegt er mir 
gerade in den Mund, und ich verſchlucke ihn. Und das iſt doch 
ſehr angenehm, he-he⸗he! Sie glauben mir nicht?“ 

Raſkolnikow antwortete nicht; er ſaß blaß und regungslos da 
und blickte die ganze Zeit über mit demſelben geſpannten Aus: 
druck dem andern ins Geſicht. 

„Eine gute Lektion!“ dachte er froͤſtelnd. „Das iſt ja ganz 
anders wie geſtern, wo er Katze und Maus mit mir ſpielte. Und 
daß er mir ſeine Macht zeigt und mir die Antworten in den Mund 
legt, das tut er ſicher nicht, ohne ſich einen Nutzen davon zu ver— 
ſprechen; dazu iſt er zu klug... Da ſteckt eine beſtimmte Abſicht da⸗ 
hinter, aber welche? Ach, Unſinn, Bruͤderchen, das iſt nur ſo eine 
Liſt von dir, du willſt mich ins Bockshorn jagen. Du haft keine Be: 
weiſe in Haͤnden, und der Menſch von geſtern exiſtiert in Wirklich— 
keit gar nicht! Du willſt mich bloß aus der Faſſung bringen, mich 
zu einer Übereilung reizen und mich in dieſem Zuſtande uͤberrum— 
peln; aber du verrechneſt dich, es wird dir nicht gelingen! es wird 
dir nicht gelingen! Aber warum legt er mir eigentlich in dieſet 
Weiſe die Antworten in den Mund? Ja, warum? .. . Er rechnet 
wohl auf meine kranken Nerven! . .. Nein, Bruͤderchen, du irrfl 
dich, es wird dir nicht gelingen, obgleich du noch irgend etwas 


. $ ив. 


522 Schuld und Suͤhne 


— 


vorbereitet haſt. Nun, wir wollen einmal ſehen, was das eigent— 
lich iſt.“ 

Er nahm all ſeine Kraft zuſammen, um ſich auf eine furchtbare, 
unbekannte Kataſtrophe vorzubereiten. Zeitweilig hatte er die 
größte Luft, ſich auf Porfiri zu ſtuͤrzen und ihn auf dem Fleck zu 
erwuͤrgen; ſchon als er eintrat, hatte er befuͤrchtet, daß ihn dieſe 
Wut uͤberkommen wuͤrde. Er fühlte, daß feine Lippen gluͤhten, 
fein Herz heftig klopfte, die Feuchtigkeit auf den Lippen ед: 
getrocknet war. Dennoch entſchied er ſich dafür, zu ſchweigen 
und vor der Zeit kein Wort zu ſagen. Er ſah ein, daß das in 
ſeiner Lage die beſte Taktik war, weil er dann nicht nur ſeiner— 
ſeits uͤbereilte Außerungen vermeiden, ſondern auch noch durch 
ſein Schweigen den Feind reizen wuͤrde; vielleicht wuͤrde dann 
ſogar dieſer ihm gegenuͤber ſich unbedachte Worte entſchluͤpfen 
laſſen. Wenigſtens hoffte Raſkolnikow darauf. 

„Nein, ich ſehe, Sie glauben mir nicht; Sie denken immer, daß 
ich Ihnen harmloſe Spaͤßchen vormache,“ fuhr Porfiri fort; er 
wurde immer vergnuͤgter, kicherte unaufhoͤrlich vor Luſtigkeit und 
fing wieder an, im Zimmer ringsherum zu laufen. „Gewiß, 
Sie haben ja ein Recht dazu, das zu denken; ſchon meine ganze 
Figur iſt von Gott ſo gebaut, daß ſie andre Leute zum Lachen 
bringt; ich bin der geborene Komiker; aber eines moͤchte ich 
Ihnen doch ſagen und nochmals wiederholen: Sie, Vaͤterchen 
Rodion Romanowitſch, ſind noch ein junger Menſch (nehmen 
Sie es mir als aͤlterem Manne nicht uͤbel, was ich da ſage), Sie 
ſtehen noch im erſten Jugendalter, und darum achten Sie, wie 
das ja alle jungen Leute zu tun pflegen, den menſchlichen Ver⸗ 
ſtand uͤber alles. Das rege Spiel eines ſcharfen Verſtandes und 
die abſtrakten Schluͤſſe der Vernunft haben für Sie etwas Ver: 
fuͤhreriſches. Darin haben Sie eine frappante Ahnlichkeit zum 
Beiſpiel mit dem fruͤheren oͤſterreichiſchen Hofkriegsrat, das 


Nierter Teil 523 


heißt, ſoweit ich über militärifche Dinge urteilen kann: auf dem 
Papier ſchlugen ſie Napoleon gruͤndlich und nahmen ihn ge— 
fangen; ſie hatten ſich ſchon in ihrem Arbeitszimmer alles auf 
das ſcharfſinnigſte ausgerechnet und zurechtgelegt; aber ſiehe 
da, General Mack ergab ſich mit ſeiner ganzen Armee, he-he-he! 
Ich ſehe, ich ſehe, Vaͤterchen Rodion Romanowitſch, Sie lachen 
uͤber mich, weil ich als Ziviliſt meine Beiſpiele immer aus der 
Kriegsgeſchichte entnehme. Ja, was ſoll ich machen? Das iſt nun 
mal fo eine Schwaͤche von mir; ich ſchwaͤrme für das Militär- 
weſen und leſe kriegsgeſchichtliche Werke mit dem groͤßten Inter— 
eſſe, ... ich habe entſchieden meinen Beruf verfehlt. Ich hätte 
Soldat werden ſollen, wahrhaftig. Ein Napoleon waͤre ich ja 
vielleicht nicht geworden; na, aber Major wuͤrde ich jetzt wohl 
fein, he-he⸗he! Nun alſo, jetzt will ich Ihnen über jenen ‚ſingu— 
laͤren Fall‘ ausführlich und wahrheitsgemaͤß ſagen, wie es damit 
ſteht, mein Beſter. Die Wirklichkeit und die Natur, mein ver— 
ehrter Herr, das ſind wichtige Faktoren, und ſie machen manch— 
mal einen Strich durch die ſcharfſinnigſte Berechnung! Ja, ja, 
hoͤren Sie auf einen alten Mann, ich rede im Ernſte, Rodion 
Romanowitſch“ (als er ſo ſprach, ſchien der kaum fuͤnfunddreißig— 
jährige Porfiri Petrowitſch wirklich auf einmal älter geworden 
zu ſein; ſogar ſeine Stimme hatte ſich geaͤndert und ſeine ganze 
Geſtalt ſich zuſammengekruͤmmt), „und außerdem bin ich ein 
aufrichtiger Menſch .. . Bin ich ein aufrichtiger Menſch oder 
nicht? Wie denken Sie daruͤber? Ich moͤchte meinen, ich bin es 
in hohem Maße: ich erteile Ihnen gratis ſolche Belehrungen, 
verlange gar kein Honorar dafuͤr, he-he-he! Nun alſo, ich fahre 
fort: Scharfſinn iſt meiner Meinung nach ein praͤchtiges Ding, 
ſozuſagen ein natürlicher Schmuck und eine Quelle der Freude 
fuͤr das Leben, und er kann ſolche Taſchenſpielerkunſtſtuͤcke zu— 
ſtande bringen, daß manchmal ſo ein armer Unterſuchungs— 


524 Schuld und Sühne 


— — 


kommiſſar feine liebe Not hat, fie zu durchſchauen, namentlich 
da auch er ſich von feiner Phantaſie hinreißen läßt, wie das ja 
immer ſo zu gehen pflegt; denn er iſt ja doch auch ein Menſch! 
Aber die Natur kommt dem armen Unterſuchungskommiſſar zu 
Hilfe, und nun iſt das Malheur da! Daran aber denkt die Jugend 
nicht, die ſich von ihrem Scharfſinn hinreißen laͤßt und uͤber alle 
Hinderniſſe hinwegſchreitet, wie Sie ſich geſtern ſo ſcharfſinnig 
und fein ausdruͤckten. Nehmen wir einmal an, er luͤgt (mit ‚er‘ 
meine ich den betreffenden Menſchen, die handelnde Perſon im 
fingulären Falle, den Unbekannten) und luͤgt ganz vortrefflich, 
auf die allerſchlaueſte Weiſe; jetzt, meint er, iſt es ſo weit, daß 
er triumphieren und die Fruͤchte ſeines Scharfſinnes genießen 
kann; aber bums! an der intereſſanteſten, verhaͤngnisvollſten 
Stelle faͤllt er in Ohnmacht. Er mag ja krank ſein; es iſt auch 
manchmal in den Zimmern ſtickige Luft; aber trotzdem! Trotz⸗ 
dem hat er andern Leuten einen Anhaltspunkt gegeben! Ge⸗ 
logen hat er mit unvergleichlicher Geſchicklichkeit; aber ſeine Natur 
hat er nicht verſtanden richtig zu berechnen. Aber darin gerade 
liegt nun die Tüde! Ein andermal läßt er ſich von dem Drange, 
ſeinen Scharfſinn zu betaͤtigen, hinreißen und faͤngt an, jemanden, 
der ihn im Verdacht hat, zum Narren zu halten; er erbleicht an⸗ 
ſcheinend abſichtlich, anſcheinend aus Verſtellung; aber er er— 
bleicht gar zu natuͤrlich, gar zu wahrheitsgetreu, und wieder hat 
er einen Anhaltspunkt gegeben! Wenn er auch den andern zu⸗ 
naͤchſt hinters Licht führt, aber über Nacht überlegt ſich der die 
Sache, wenn er einigermaßen gewitzt iſt. Und ſo geht es auf 
Schritt und Tritt! Noch mehr: er faͤngt an, ſich ſeinen Wider⸗ 
ſachern geradezu aufzudraͤngen, ſich einzumiſchen, wo man ihn 
gar nicht gefragt hat, fortwaͤhrend uͤber Dinge zu reden, uͤber 
die er beſſer ſchwiege; er erzählt allerlei mit Andeutungen ge: 
ſpickte Geſchichten, he-he-he! er kommt ſelbſt und erkundigt ſich: 


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Vierter Teil 525 


— — 


‚Warum dauert es denn fo lange, bis ich arretiert werde?“ He: 
he⸗ he! Und fo kann es ſogar dem ſcharfſinnigſten Menſchen gehen, 
einem ausgezeichneten Pſychologen und Schriftſteller! Die 
Natur iſt ein Spiegel, der Harfte Spiegel! In den muß man 
hineinſchauen, mit Luſt und Eifer hineinſchauen; darauf kommt 
es an! Aber warum ſind Sie denn ſo blaß geworden, Rodion 
Romanowitſch? Iſt es Ihnen hier zu ſtickig? Soll ich ein Fen— 
ſter aufmachen?“ 

„O bitte, bemuͤhen Sie ſich nicht!“ rief Raſkolnikow und lachte 
ploͤtzlich auf. „Bitte, bemuͤhen Sie ſich nicht!“ 

Porfiri blieb vor ihm ſtehen, wartete ein Weilchen und lachte 
dann, ſeinem Beiſpiele folgend, auf einmal ſelbſt los. Raſkol— 
nikow ſtand vom Sofa auf und brach jaͤh ſein Lachen ab, das 
durchaus den Charakter eines krankhaften Anfalls getragen 
hatte. 

„Porfiri Petrowitſch,“ ſagte er laut und deutlich, obgleich ihn 
die zitternden Beine kaum noch trugen, „ich ſehe endlich klar, 
daß Sie mich tatſaͤchlich im Verdachte haben, dieſe alte Frau 
und ihre Schweſter Liſaweta ermordet zu haben. Meinerſeits er— 
klaͤre ich Ihnen, daß dieſe ganze Sache mir ſchon laͤngſt zum Ekel 
geworden iſt. Wenn Sie der Anſicht ſind, daß Sie ein Recht 
haben, geſetzlich gegen mich vorzugehen, ſo gehen Sie gegen mich 
vor; glauben Sie, mich arretieren zu ſollen, ſo arretieren Sie 
mich. Aber daß Sie mir ins Geſicht lachen und mich martern, 
das dulde ich nicht ...“ 

Seine Lippen bebten, ſeine Augen gluͤhten vor Wut, und ſeine 
Stimme, die bis dahin nicht uͤberlaut geweſen war, ſchwoll an. 

„Das dulde ich nicht!“ ſchrie er und ſchlug aus voller Kraft mit 
der Fauſt auf den Tiſch. „Hoͤren Sie wohl, Porfiri Petrowitſch? 
Das dulde ich nicht!“ 

„Aber, mein Gott, was haben Sie denn wieder!“ rief Porfiri 


526 Schuld und Suͤhne 


Petrowitſch, anſcheinend hoͤchſt erſchrocken. „Vaͤterchen, Rodion 
Romanowitſch! Mein Teuerſter! Was haben Sie denn nur?“ 

„Ich dulde es nicht!“ rief Raſkolnikow noch einmal. 

„Nicht fo laut, Vaͤterchen! Die Leute nebenan hören es ja und 
kommen herein! Und was ſollen wir ihnen dann ſagen, bedenken 
Sie doch!“ flüfterte Porfiri Petrowitſch beſtuͤrzt, indem er fein 
Geſicht nahe an Raſkolnikows Geſicht heranbrachte. 

„Ich dulde es nicht, ich dulde es nicht!“ wiederholte Raſkolni— 
kow mechanifch, aber auf einmal gleichfalls in leiſem Fluͤſtertone. 

Porfiri drehte ſich ſchnell um und lief hin, um ein Fenſter zu 
oͤffnen. 

„Wir wollen ein bißchen friſche Luft hereinlaſſen! Und auch 
einen Schluck Waſſer muͤſſen Sie trinken, mein Beſter! Das iſt 
ja ein richtiger Anfall!“ 

Er ftürzte ſchon zur Tür, um Waſſer bringen zu laſſen, fand 
aber dort in einer Ecke ſelbſt noch eine Karaffe mit Waſſer. 

„Da, Vaͤterchen, trinken Sie!“ fluͤſterte er, indem er mit der 
Karaffe zu ihm hinlief. „Vielleicht hilft das ...“ 

Porfiris Schreck und ſogar ſeine Teilnahme nahmen ſich ſo 
natuͤrlich aus, daß Raſkolnikow ſchwieg und ihn befremdet und 
pruͤfend anblickte. Das Waſſer nahm er jedoch nicht an. 

„Rodion Romanowitſch! Lieber Menſch! Auf dieſe Art werden 
Sie ſich noch um den Verſtand bringen, kann ich Sie ver— 
ſichern! So trinken Sie doch! Trinken Sie wenigſtens ein klein 
bißchen!“ 

Er zwang ihn, das Glas mit Waſſer in die Hand zu nehmen. 
Raſkolnikow fuͤhrte es ſchon mechaniſch an die Lippen, kam dann 
aber zur Beſinnung und ſtellte es voll Abſcheu auf den Tiſch. 

„Ja, ja, Sie haben ſo einen kleinen Anfall gehabt! Auf dieſe 
Weiſe, beſter Freund, werden Sie ſich Ihre fruͤhere Krankheit 
von neuem zuziehen,“ fuhr Porfiri Petrowitſch fort mit freund: 


Vierter Teil 527 


ſchaftlicher Teilnahme auf ihn einzureden; feine Miene hatte 
immer noch den Ausdruck der Faſſungsloſigkeit beibehalten. 
„Mein Gott, wie kann man ſich nur ſo wenig in acht nehmen! 
Da iſt auch geſtern Dmitri Prokofjitſch bei mir geweſen, — ich 
gebe ja zu, ich gebe ja zu, ich habe einen ſpoͤttiſchen, garſtigen 
Charakter; aber was haben dieſe Menſchen daraus fuͤr wunder— 
liche Schluͤſſe gezogen! ... Mein Gott! Er kam geſtern, bald 
nachdem Sie fortgegangen waren, wir aßen gerade zu Mittag, 
er redete und redete, ich konnte nur die Haͤnde uͤberm Kopfe 
zuſammenſchlagen! Na, dachte ich, . .. ach, du mein Gott! 
Hatten Sie ihn dazu veranlaßt, zu mir zu kommen? Aber ſo 
ſetzen Sie ſich doch, Vaͤterchen, ſetzen Sie ſich, ich bitte Sie 
dringend!“ 

„Nein, ich hatte ihn nicht dazu veranlaßt! Aber ich wußte, daß 
er zu Ihnen ging, und warum er zu Ihnen ging,“ antwortete 
Raſkolnikow in ſcharfem Tone. 

„Sie wußten es?“ 

„Ja. Was folgt daraus?“ 

„Ach, Vaͤterchen Rodion Romanowitſch, ich weiß ja noch ganz 
andre Sachen, die Sie gemacht haben; ich bin von allem unter— 
richtet! Ich weiß ja, daß Sie eine Wohnung mieten gingen, kurz 
vor Einbruch der Nacht, als es ſchon dunkel wurde, und daß Sie 
an der Tuͤrklingel zogen und nach dem Blute fragten und die 
Geſellen und die Hausknechte ſtutzig machten. Ich habe ja auch 
Verſtaͤndnis für Ihre damalige Gemuͤtsſtimmung, . . . aber ich 
muß doch ſagen, Sie werden ſich auf dieſe Weiſe einfach um den 
Verſtand bringen, weiß Gott! Es wird Ihnen wirbelig im Kopfe 
werden! Eine edle Entruͤſtung wallt heftig in Ihnen wegen der 
Kraͤnkungen auf, die Sie erlitten haben, zuerſt vom Schickſal, 
dann von den Polizeibeamten; und deswegen ſtuͤrmen Sie nun 
hierhin und dahin, um ſozuſagen moͤglichſt ſchnell alle zum Reden 


528 Schuld und Sühne 


— 


zu bringen und ſo der ganzen Geſchichte mit einem Male ein 
Ende zu machen, weil dieſe Dummheiten und all dieſe Verdaͤchti⸗ 
gungen Ihnen zum Ekel geworden ſind. Iſt es nicht ſo? Habe 
ich Ihre Stimmung erraten? ... Nur werden Sie auf dieſe 
Weiſe nicht bloß ſich ſelbſt, ſondern auch meinem lieben Raſuml⸗ 
chin den Kopf verdrehen; und es waͤre doch ſchade um ihn, ein 
ſo braver Menſch, wie er iſt; das wiſſen Sie ſelbſt. Ihre Krank⸗ 
heit kann auf feine Bravheit anſteckend wirken ... Ich will Ihnen, 
wenn Sie ſich werden beruhigt haben, Vaͤterchen, eine Geſchichte 
erzählen .. . Aber fo ſetzen Sie ſich doch, Vaͤterchen, ich bitte Sie 
um alles in der Welt; bitte, erholen Sie ſich; Sie ſehen ja ganz 
entſtellt aus. Aber nehmen Sie doch Platz!“ 

Raſkolnikow ſetzte ſich; das Zittern war voruͤbergegangen, und 
eine Gluthitze durchſtroͤmte jetzt ſeinen ganzen Koͤrper. Mit groͤß⸗ 
tem Erſtaunen und geſpannteſter Aufmerkſamkeit hoͤrte er dem 
aufgeregten Porfiri zu, der ſich freundſchaftlich um ihn bemuͤhte. 
Aber er glaubte ihm kein einziges Wort, obwohl er eine ſeltſame 
Neigung dazu verſpuͤrte. Porfiris unerwartete Bemerkung uͤber 
das Wohnungsſuchen hatte ihn in große Beſtuͤrzung verſetzt. „Er 
weiß alſo die Geſchichte mit der Wohnung?“ dachte er, „und er⸗ 
zaͤhlt es mir von ſelbſt?“ 

„Ja, wir haben in unſrer Gerichtspraxis einmal faſt genau den⸗ 
ſelben Fall gehabt, bei dem auch krankhafte Seelenſtimmungen 
eine große Rolle ſpielten,“ fuhr Porfiri in ſeiner Redſeligkeit 
fort. „Da beſchuldigte ſich auch einer ſelbſt eines Mordes: eine 
ganze Halluzination trug er vor, fuͤhrte Tatſachen an, erzaͤhlte 
Begleitumſtaͤnde, machte uns alle ganz ſchwindlig und konfus, 
und was war ſchließlich an der Sache dran? Er ſelbſt hatte völlig 
unabſichtlich zu einem gewiſſen Teil den Mord ermoͤglicht, aber 
nur zu einem gewiſſen Teil, und als er nun erfuhr, daß er den 
Moͤrdern die Gelegenheit verſchafft habe, da wurde er tiefſinnig, 


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Vierter Teil 529 


ſein Denken geriet in Verwirrung, er hatte Viſionen, wurde ganz 
verruͤckt und glaubte ſteif und feſt, er waͤre der Moͤrder! Aber 
die oberſte Inſtanz klaͤrte dann doch ſchließlich die Sache auf, 
und der Ungluͤckliche wurde freigeſprochen und in Pflege ge— 
geben. Ein dankenswertes Verdienſt der oberſten Inſtanz! Ja, 
ſo etwas iſt eine ſchlimme Sache, Vaͤterchen, o weh, o weh! 
Auf die Art kann man ſich leicht ein hitziges Fieber zuziehen, 
wenn ſich ſchon ein ſolcher Hang zeigt, ſeine Nerven zu reizen, 
nachts wegzugehen und an Tuͤrklingeln zu ziehen und ſich nach 
Blut zu erkundigen! Dieſes ganze Gebiet der Pſychologie habe 
ich in meiner Praxis genau ſtudiert. Manchmal verſpuͤrt ein 
ſolcher Kranker einen unwiderſtehlichen Trieb, aus dem Fenſter 
oder von einem Turm hinabzuſpringen, und es iſt das eine 
ſehr verfuͤhreriſche Empfindung. Gerade fo wie mit dem Ziehen 
an der Tuͤrklingel . . . Das iſt eine Krankheit, Rodion Romano: 
witſch, eine Krankheit! Aber Sie vernachlaͤſſigen Ihre Krankheit 
gar zu ſehr. Sie ſollten einen erfahrenen Arzt befragen; was 
kann Ihnen der Dicke, den Sie da haben, helfen! ... Sie haben 
ein hitziges Fieber! Alles, was Sie tun, tun Sie iglich im 
Fie berwahn!“ 

Einen Augenblick lang hatte Raſkolnikow die Empfindung, als 
ob ſich alles um ihn im Kreiſe herumdrehte. 

„Ob er wirklich auch jetzt heuchelt?“ fuhr es ihm durch den Kopf. 
„Unmoͤglich, unmöglich!" Er wies dieſen Gedanken von ſich, da 
er im voraus fuͤhlte, daß dieſer Gedanke ihn in grenzenloſe Wut 
und Raſerei verſetzen und die Wut ihn des Verſtandes berauben 
koͤnne. 

„Das war nicht im Fieberwahn, das war bei klarem Bewußt— 
ſein!“ rief er und ſtrengte alle Kraͤfte ſeines Verſtandes an, um 
Porfiris Spiel zu durchſchauen. „Bei klarem Bewußtſein, bei 
klarem Bewußtſein! Hoͤren Sie wohl?“ 

XIX. за. 


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530 Schuld und Suͤhne 


„Ja, ich höre, ich verſtehe! Sie ſagten auch geſtern ſchon, daß 
es nicht im Fieberwahn war, und betonten es ſogar ganz be— 
ſonders, es ſei nicht im Fieberwahn geweſen. Ich verſtehe alles, 
was Sie fagen koͤnnen! Ja, ja! .. . Hören Sie, mein teuerſter 
Rodion Romanowitſch, wir brauchen ja nur dieſen einen Um— 
ſtand zu bedenken: wenn Sie wirklich, tatſaͤchlich ein Verbrecher 
oder überhaupt irgendwie an dieſer verdammten Geſchichte Бе: 
teiligt waͤren, na, wuͤrden Sie dann, ich bitte Sie, ſelbſt betonen, 
daß Sie das alles nicht im Fieberwahn getan haͤtten, ſondern 
im Gegenteil bei vollem Bewußtſein? Und noch dazu es ganz 
beſonders betonen, es mit ſo ganz beſondrer Hartnaͤckigkeit be— 
tonen? Na, waͤre das moͤglich? Ich bitte Sie, waͤre das moͤglich? 
Meines Erachtens wuͤrden Sie ganz entgegengeſetzt verfahren. 
Waͤren Sie ſich irgendwelcher Schuld bewußt, ſo muͤßten Sie 
gerade betonen, daß Sie ſich unbedingt im Fieberwahn befunden 
haͤtten. Nicht wahr? Habe ich nicht recht?“ 

Es klang eine gewiſſe Hinterliſt aus dieſer Frage heraus. Raſ— 
kolnikow wich vor Porfiri, der ſich zu ihm hinbeugte, bis ganz 
an die Lehne des Sofas zuruͤck und ſtarrte ihm ſchweigend und 
erſtaunt ins Geſicht. 

„Und dann, was Herrn Raſumichin betrifft, ich meine die Frage, 
ob er geſtern aus eigenem Antriebe zu mir kam, um mit mir uͤber 
die Sache zu ſprechen, oder auf Ihre Veranlaſſung. Wenn Sie 
ſich ſchuldig fühlten, fo müßten Sie gerade fagen, daß er von 
ſelbſt gekommen waͤre, und verheimlichen, daß er es auf Ihre 
Veranlaſſung getan haͤtte. Sie aber verheimlichen das nicht. Sie 
betonen gerade, daß er auf Ihre Veranlaſſung gekommen ſei!“ 

Raſkolnikow hatte das niemals betont. Ein Kaͤltegefuͤhl lief 
ihm den Ruͤcken entlang. 

„Sie luͤgen fortwaͤhrend,“ ſagte er langſam und matt; ſeine 
Lippen verzogen ſich zu einem krankhaften Laͤcheln. „Sie wollen 


Vierter Teil 531 


mir wieder zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle 
meine Antworten im voraus wiſſen.“ Er merkte ſelbſt, daß er 
ſeine Worte nicht mehr ſo abwog, wie es noͤtig war. „Sie wollen 
mich einſchuͤchtern, . . . oder Sie machen ſich einfach über mich 
luſtig.“ 

Er ſah ihn, waͤhrend er das ſagte, immer noch ſtarr an, und 
auf einmal flammte wieder eine maßloſe Wut in ſeinen Augen 
auf. 

„Sie luͤgen fortwaͤhrend!“ rief er. „Sie wiſſen ſelbſt ſehr gut, 
daß es fuͤr einen Verbrecher das Kluͤgſte iſt, nach Moͤglichkeit die 
Wahrheit zu ſagen, . . . nichts zu verheimlichen, was nicht ver: 
heimlicht zu werden braucht! Ich glaube Ihnen nicht!“ 

„Nun ſehen Sie mal, wie Sie ſich hin und her zu wenden ver— 
ſtehen!“ kicherte Porfiri. „Mit Ihnen, Vaͤterchen, kann man doch 
gar nicht fertig werden! Es hat ſich ſo eine Art von fixer Idee 
bei Ihnen feſtgeſetzt. Alſo Sie glauben mir nicht? Ich aber ſage 
Ihnen, daß Sie mir allerdings ſchon glauben, mir ſchon einen 
großen Teil von dem, was ich ſage, glauben, und ich werde Sie 
dahin bringen, daß Sie mir alles glauben; denn ich habe Sie 
von Herzen gern und wuͤnſche Ihnen aufrichtig alles Gute.“ 

Raſkolnikows Lippen fingen an zu zittern. 

„Ja, ich wuͤnſche Ihnen alles Gute, und ich rate Ihnen ganz 
entſchieden,“ fuhr er fort und faßte mit leifer Berührung Raſkol— 
nikow freundſchaftlich am Arm, ein wenig oberhalb des Ell— 
bogens, „ich rate Ihnen ganz entſchieden: achten Sie recht auf 
Ihre Krankheit. Es kommt noch hinzu, daß jetzt Ihre naͤchſten 
Angehoͤrigen hier bei Ihnen eingetroffen ſind; auch an die ſoll— 
ten Sie denken. Es waͤre Ihre Pflicht, ihnen ein ruhiges Leben 
zu bereiten und ſie mit zaͤrtlicher Sorge zu umgeben; aber Sie 
verſetzen die Ihrigen nur in Angſt . ..“ 

„Was geht Sie das an? Woher wiſſen Sie das? Warum inter— 


532 Schuld und Suͤhne 


eſſieren Sie ſich fo für mich? Sie laſſen mich alſo beobachten und 
wollen mir das zeigen?“ 

„Aber Vaͤterchen! Ich habe das alles doch von Ihnen, von 
Ihnen ſelbſt erfahren! Sie merken gar nicht, daß Sie in Ihrer 
Erregung mir und andern alles ſelbſt zuerſt erzaͤhlen. Auch von 
Herrn Dmitri Prokofjitſch Raſumichin habe ich geſtern viele inter— 
eſſante Einzelheiten erfahren. Nein, Sie haben mich unter— 
brochen, und ich muß Ihnen ſagen, daß Sie infolge Ihrer ее 
gung zu Argwohn trotz all Ihres Scharfſinns ſogar den ge— 
ſunden Blick für die Dinge verlieren. Sehen Sie zum Beiſpiel, 
was das Ziehen an der Tuͤrklingel anlangt, wenn ich noch ein— 
mal auf dieſes Thema zuruͤckkommen darf: ein fo wertvolles In— 
dizium, ein ſolches Faktum (denn es iſt ja ein ganz feſtſtehendes 
Faktum) habe ich, der Unterſuchungskommiſſar, Ihnen ſo mir 
nichts dir nichts preisgegeben! Und in dieſer Handlungsweiſe 
finden Sie gar nichts? Wenn ich auch nur den geringſten Ver: 
dacht gegen Sie hegte, wuͤrde ich dann ſo verfahren duͤrfen? Ich 
muͤßte vielmehr zunaͤchſt Ihren Argwohn einſchlaͤfern und gar 
nicht merken laſſen, daß mir dieſes Faktum bereits bekannt iſt; 
ich müßte in dieſer Weiſe Ihre Aufmerkſamkeit nach der entgegen: 
geſetzten Seite ablenken und Sie dann plößlich, wie mit einem 
Knuͤttelſchlage auf den Scheitel (nach Ihrem eigenen Ausdrucke), 
mit dieſen Fragen betaͤuben: ‚Was hatten Sie, mein Herr, in 
der Wohnung der Ermordeten um zehn Uhr abends oder noch 
ſpaͤter zu ſuchen? Warum haben Sie an der Tuͤrklingel gezogen? 
Warum erkundigten Sie ſich nach dem Blute? Warum verbluͤff⸗ 
ten Sie die Hausknechte und forderten fie auf, nach dem Polizei⸗ 
bureau, zum Revierleutnant, mitzukommen?“ So muͤßte ich ver⸗ 
fahren, wenn ich auch nur eine Spur von Verdacht gegen Sie 
hätte. Ich müßte in aller Form ein Verhoͤr mit Ihnen anſtellen, 
eine Hausſuchung vornehmen, vielleicht auch Sie arretieren .. 


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Vierter Teil 533 


— 


Folglich hege ich gegen Sie keinen Verdacht, da ich ja anders ge— 
handelt habe! Aber um es noch einmal zu wiederholen: Sie 
haben den geſunden Blick verloren und ſehen nichts!“ 

Raſkolnikow zuckte mit dem ganzen Koͤrper zuſammen, ſo daß 
Porfiri Petrowitſch es ganz deutlich bemerkte. 

„Sie luͤgen fortwaͤhrend!“ rief er. „Ich kenne Ihre Abſichten 
nicht, aber Sie lügen fortwaͤhrend! .... Vorhin haben Sie in 
ganz anderem Sinne geſprochen; darin kann ich mich nicht irren. 
.. Sie lügen!" 

„Ich luͤge?“ erwiderte Porfiri, der ſich anſcheinend ereiferte, 
aber ſeine heitere, ſpoͤttiſche Miene beibehielt und ſich nicht im 
geringſten darüber aufzuregen ſchien, was Herr Raſkolnikow über 
ihn für eine Meinung hätte. „Ich luͤge? ... Na, und wie habe 
ich mich vorhin gegen Sie benommen, ich, der Unterſuchungs— 
kommiſſar? Ich ſelbſt habe Ihnen alle moͤglichen Verteidigungs— 
mittel mitgeteilt und an die Hand gegeben; ich ſelbſt habe Ihnen 
dieſes ganze Kapitel der Pſychologie auseinandergeſetzt: ‚Krank— 
heit,“ ſagt man zu feiner Verteidigung, „Fieberwahn, ich fuͤhlte 
mich gekraͤnkt, Schwermut,“ und die Polizeibeamten,“ und noch 
vieles andre. Nicht wahr? He⸗-he-he! Wiewohl, beilaͤufig Бе: 
merkt, all dieſe der Pſychologie entlehnten Verteidigungsmittel, 
Ausreden und Finten aͤußerſt unzuverlaͤſſig ſind und gar ſehr 
ihre zwei Seiten haben: „Krankheit, fagt man, ‚Fieberwahn, 
Traͤume, es iſt mir ſo vorgekommen, ich erinnere mich nicht'; 
alles ganz ſchoͤn; aber, Vaͤterchen, warum ſtellen ſich denn in 
der Krankheit und im Fieberwahn immer gerade nur ſolche 
Traͤume ein und keine andern? Es koͤnnte einem doch auch etwas 
andres träumen? Nicht wahr? He-he-he-he!“ 

Raſkolnikow maß ihn mit einem ſtolzen, veraͤchtlichen Blicke. 

„Um es kurz zu machen,“ ſagte er laut und energiſch, indem 
er aufſtand und dabei Porfiri ein wenig beiſeite ſchob, „um es 


534 Schuld und Suͤhne 


— —— H ́—ꝓPſn— 


kurz zu machen, ich will wiſſen: erklaͤren Sie mich endgültig für 
frei von allem Verdacht oder nicht? Sagen Sie mir das, Por— 
firi Petrowitſch, ſagen Sie mir das beſtimmt und endguͤltig, und 
recht ſchnell, ſofort!“ 

„Ach, iſt das eine Not! Nein, was man mit Ihnen fuͤr Not 
hat!“ rief Porfiri mit durchaus heiterer, ſchlauer Miene und 
ohne jedes Zeichen von Erregung. „Wozu brauchen Sie denn 
das zu wiſſen, wozu brauchen Sie denn all ſo etwas zu wiſſen, 
da es doch noch keinem Menſchen eingefallen iſt, Sie irgendwie 
zu beläftigen? Sie find ja ganz wie ein Kind, das durchaus ver— 
langt, man ſolle ihm das Feuer in die Hand geben! Und warum 
beunruhigen Sie ſich ſo? Warum draͤngen Sie ſich uns denn 
ſelbſt in dieſer Weiſe auf? Was haben Sie dazu fuͤr Gruͤnde? 
He⸗he⸗he!! 

„Ich wiederhole Ihnen,“ ſchrie Raſkolnikow wütend, „daß ich 
das nicht länger ertragen kann! ...“ 

„Was koͤnnen Sie nicht ertragen? Die Ungewißheit?“ unter⸗ 
brach ihn Porfiri. 

„Verhoͤhnen Sie mich nicht! Ich will das nicht laͤnger ertragen! 
. . . Ich ſage Ihnen, daß ich das nicht länger ertragen will! ... 
Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!“ ſchrie 
er und ſchlug wieder mit der Fauſt auf den Tiſch. 

„Aber leiſer, leiſer! Es hoͤrens ja andre Leute! Ich warne 
Sie in allem Ernſt: ſchonen Sie Ihre Geſundheit! Ich ſcherze 
nicht!“ erwiderte Porfiri fluͤſternd; aber diesmal war auf ſeinem 
Geſichte von dem fruͤheren weibiſch-gutmuͤtigen, aͤngſtlichen Aus⸗ 
druck nichts zu bemerken; im Gegenteil, jetzt befahl er geradezu, 
in ſtrengem Tone, mit zuſammengezogenen Brauen; es war, 
als wuͤrfe er mit einem Male alles Verſteckſpiel und alle Zwei⸗ 
deutigkeit beiſeite. 

Indes dauerte das nur einen Augenblick. Raſkolnikow war 


Vierter Teil 535 


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aufs hoͤchſte uͤberraſcht und geriet in volſſtändige Raſerei; aber 
ſonderbarerweiſe fuͤgte er ſich wieder dem Befehle, leiſer zu 
ſprechen, obwohl er 09 in einem wahren Parorysmus von Wut 
befand. 

„Ich laſſe mich nicht fo quälen !” fluͤſterte er gerade wie vorhin; 
voll Schmerz und Ingrimm wurde er ſich in demſelben Augen: 
blicke bewußt, daß er nicht die Kraft beſaß, dem Befehle zu wider— 
ſtreben, und dieſer Gedanke machte ihn nur noch wuͤtender. „Ver— 
haften Sie mich, halten Sie bei mir Hausſuchung; aber verfahren 
Sie in der geſetzlich vorgeſchriebenen Form und ſpielen Sie 
nicht mit mir! Unterſtehen Sie ſich nicht, das zu tun!“ 

„Beunruhigen Sie ſich doch nicht wegen der geſetzlichen Form!“ 
unterbrach ihn Porfiri mit ſeinem fruͤheren ſchlauen Laͤcheln und 
betrachtete Raſkolnikow, wie es ſchien, ſogar mit einer beſonderen 
Art von Genuß. „Ich hatte Sie jetzt doch nur als guten Be— 
kannten zu einem Beſuche aufgefordert, Vaͤterchen, nur ſo ganz 
freundſchaftlich!“ 

„Ich will Ihre Freundſchaft nicht, ich ſpucke darauf! Hoͤren 
Sie? Sehen Sie her: ich nehme meine Muͤtze und gehe weg. 
Nun, was werden Sie jetzt dazu ſagen, wenn Sie wirklich die 
Abſicht haben, mich zu verhaften?“ 

Er ergriff ſeine Muͤtze und ging nach der Tuͤr. 

„Ich habe eine kleine Überraſchung fuͤr Sie; wollen Sie die 
nicht noch ſehen?“ kicherte Porfiri, faßte ihn wieder etwas ober— 
halb des Ellbogens an und hielt ihn an der Tuͤr zuruͤck. 

Er wurde augenſcheinlich immer heiterer und luſtiger, woruͤber 
Raſkolnikow ganz außer ſich kam. 

„Was für eine kleine Überrafhung? Was wollen Sie damit 
ſagen?“ fragte er, blieb ploͤtzlich ſtehen und blickte Porfiri er— 
ſchreckt an. 

„Die Überraſchung iſt hier zur Stelle; ich habe ſie da hinter 


536 Schuld und Sühne 


der Tür ſitzen, бегбегбе!" Er wies mit dem Finger auf die ge⸗ 
ſchloſſene Tuͤr in dem Bretterverſchlag, die nach feiner Dienft: 
wohnung führte. „Ich habe fie ſogar eingeſchloſſen, damit ſie 
nicht davonlaͤuft.“ 

„Was iſt es denn? Wo? Was?“ 

Raſkolnikow trat zu der Tür hin und wollte fie öffnen; aber 
ſie war verſchloſſen. 

„Sie iſt zugeſchloſſen; da iſt der Schluͤſſel!“ 

Er zog wirklich einen Schluͤſſel aus der Taſche und zeigte ihn 
ihm. 

„Du luͤgſt fortwährend!” ſchrie Raſtolnikow, der ſich nicht mehr 
* konnte. „Du luͤgſt, du verdammter Hanswurſt!“ und 
er ftürzte auf Porfiri los, der ſich nach der Eingangstür zuruͤck— 
zog, ohne jedoch irgendwelche Furcht blicken zu laſſen. 

„Ich durchſchaue alles, alles durchſchaue ich!“ rief Raſkolnikow, 
indem er auf ihn zuſprang. „Du luͤgſt und haͤnſelſt mich, damit 
ich mich verraten ſoll.“ 

„Ein deutlicherer Selbſtverrat iſt ja gar nicht denkbar, Väter: 
chen Rodion Romanowitſch. Sie ſind ja ganz raſend geworden. 
Schreien Sie nur nicht ſo; ſonſt muß ich Leute herbeirufen.“ 

„Du luͤgſt, es kann mir nichts geſchehen! Rufe deine Leute 
her! Du haſt gewußt, daß ich krank bin, und haſt mich ſo lange 
reizen wollen, bis ich wuͤtend wuͤrde, damit ich mich verriete; 
das war deine Abſicht! Aber bringe Tatſachen vor! Ich habe 
alles durchſchaut! Tatſachen haſt du keine; du haſt nur klaͤgliche, 
wertloſe Mutmaßungen, & la Sametow! ... Du kannteſt meinen 
Charakter und wollteſt mich in Raſerei verſetzen, um mich dann 
plötzlich mit Popen und Zeugen zu uͤberrumpeln ... Warteſt 
du auf die? Ja? 1 warteſt du? Wo ſind ſie? Laß ſie 
herkommen!“ 

„Aber, Vaͤterchen, was ſollen hier Popen und Zeugen! Was 


* 
. > 


Vierter Teil 537 


manche Leute für Vorſtellungen haben! So, wie Sie ſagen, zu 
verfahren, das wuͤrde ja der geſetzlichen Form gar nicht ent— 
ſprechen; Sie verſtehen den Geſchaͤftsgang gar nicht, mein Beſter. 
.. Die geſetzliche Form läuft uns nicht davon; das werden Sie 
ſchon noch ſelbſt ſehen!“ murmelte Porfiri und horchte nach der 
Eingangstür hin. 

Wirklich war in dieſem Augenblicke dicht an dieſer Tuͤr im 
Nebenzimmer ein Geraͤuſch zu vernehmen. 

„Aha, ſie kommen!“ rief Raſkolnikow. „Du haſt ſie holen laſſen! 
. . . Du haft auf fie gewartet! Darauf Бай du gerechnet! Nun, 
laß ſie alle herkommen, deine Zeugen, und wen du ſonſt noch 
willſt! Her damit! Ich bin bereit! Ich bin bereit!“ 

Aber in dieſem Augenblicke begab ſich etwas Seltſames, etwas 
ſo außerhalb des gewoͤhnlichen Ganges der Dinge Liegendes, 
daß weder Raſkolnikow noch Porfiri Petrowitſch eine derartige 
Entwicklung hatten in Rechnung ziehen koͤnnen. 


VI 


Wenn in ſpaͤteren Zeiten Raſkolnikow ſich dieſer Szene er— 
innerte, fo ſtellte fie ſich ihm folgendermaßen dar: 

Das Geraͤuſch, das hinter der Tuͤr vernehmbar geweſen war, 
wurde ſchnell ſtaͤrker, und die Tür wurde ein wenig geöffnet. 

„Was gibt es?“ rief Porfiri Petrowitſch aͤrgerlich. „Ich habe 
doch befohlen ...“ 

Es erfolgte zunaͤchſt keine Antwort; aber es war deutlich, daß 
ſich hinter der Tuͤr mehrere Menſchen befanden und bemuͤht 
waren, jemand von der Tuͤr wegzuſtoßen. 

„Was gibt es denn da?“ fragte Porfiri Petrowitſch noch ein— 
mal in erregtem Tone. 

„Sie haben den Arreſtanten Nikolai hergebracht,“ antwortete 
eine Stimme. 


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538 Schuld und Suͤhne 


„Das iſt nicht nötig! Weg mit ihm! Wartet noch! Was hat 
er jetzt hier zu ſuchen! Was iſt das fuͤr eine Unordnung!“ rief 
Porfiri und ſtuͤrzte zur Tuͤr. 

„Ja, er .. .“ feste dieſelbe Stimme wieder an, brach aber 
ploͤtzlich ab. 

Ein richtiges Ringen entſtand, das nicht länger als zwei Sekun— 
den dauerte; dann ſchien jemand einen andern mit aller Kraft 
beiſeitezuſtoßen, und unmittelbar darauf trat ein ſehr blaß aus— 
ſehender Menſch in Porfiris Arbeitszimmer. 

Die aͤußere Erſcheinung dieſes Menſchen war auf den erſten 
Blick ſehr uͤberraſchend. Er ſchaute gerade vor ſich hin, ſchien 
aber niemanden zu ſehen. In ſeinen Augen blitzte eine wilde 
Entſchloſſenheit; aber dabei bedeckte Totenblaͤſſe ſein Geſicht, als 
ob er zum Richtplatz gefuͤhrt wuͤrde. Seine ganz blaſſen Lippen 
zuckten leiſe. 

Er war noch ſehr jung, gekleidet wie ein Menſch aus niedrigem 
Stande, von mittlerem Wuchſe und mager; ſein Haar war rund 
geſchnitten; die feinen Geſichtszuͤge hatten etwas Trockenes, 
Ausdrucksloſes. Der Mann, der von ihm unerwarteterweiſe Бе: 
ſeitegeſtoßen war, ein Poliziſt, ſtuͤrzte hinter ihm her ins Zimmer 
hinein und ergriff ihn an der Schulter; aber Nikolai machte einen 
heftigen Ruck mit dem Arm und riß ſich noch einmal von ihm 
los. 

In der Tuͤr draͤngten ſich mehrere Neugierige, und einige von 
ihnen hatten die groͤßte Luſt hereinzukommen. Dieſer ganze 
Vorgang hatte ſich faſt in einem Augenblicke abgeſpielt. 

„Fort mit dir! Es iſt noch zu fruͤh! Warte, bis du gerufen 
wirſt! ... Warum die ihn nur fo früh hergebracht haben?“ 
murmelte Porfiri Petrowitſch hoͤchſt aͤrgerlich, als wenn ihm je— 
mand ſein Konzept verdorben haͤtte. 

Ploͤtzlich warf ſich Nikolai auf die Knie nieder. 


Vierter Teil 539 


„Was willſt du?“ rief Porfiri verwundert. 

„Ich habe es getan! Ich habe das Verbrechen begangen! Ich 
bin der Moͤrder!“ ſagte Nikolai; er atmete nur muͤhſam, ſprach 
aber mit ziemlich lauter Stimme. 

Etwa zehn Sekunden lang ſchwiegen alle wie verſteinert; ſo— 
gar der Poliziſt war zuruͤckgewichen und ruͤhrte Nikolai nicht 
mehr an; er zog ſich mechaniſch zur Tuͤr zuruͤck und blieb dort 
ſte hen, ohne ſich zu regen. 

„Was ſoll das heißen?“ rief Porfiri Petrowitſch, ſobald er ſich 
von der momentanen Erſtarrung wieder freigemacht hatte. 

„Ich ... bin der Mörder,” ſagte Nikolai noch einmal nach 
einer kurzen Pauſe. 

„Wie? ... Du? . . . Wie? .. . Men haft du ermordet?“ 

Porfiri Petrowitſch war augenſcheinlich faſſungslos. Nikolai 
ſchwieg wieder ein kleines Weilchen. 

„Aljona Iwanowna und ihre Schweſter Liſaweta Iwanowna 
habe ich ... mit einem Beile ... ermordet. Eine Verblendung 
war über mich gekommen, ...“ fügte er hinzu und verſtummte 
wieder. Er lag noch immer auf den Knien. 

Porfiri Petrowitſch ſtand einige Augenblicke in Gedanken ver— 
ſunken da; aber dann raffte er ſich zuſammen und gab mit der 
Hand den ungebetenen Zeugen einen Wink, daß ſie ſich entfernen 
moͤchten. Dieſe verſchwanden ſofort und machten die Tuͤr wieder 
zu. Dann richtete er feinen Blick auf Raſkolnikow, der in einer 
Ecke ſtand und verſtoͤrt Nikolai anſah, ging ein paar Schritte auf 
ihn zu, blieb aber auf einmal wieder ſtehen, ließ ſeinen Blick zu 
Nikolai, dann wieder zu Raſkolnikow, dann wieder zu Nikolai 
heruͤberwandern; endlich ſtuͤrzte er, wie von einer Eingebung er: 
fuͤllt, auf Nikolai los. 

„Warum kommſt du mir denn gleich von vornherein mit deiner 
Verblendung?“ ſchrie er ihn grimmig an. „Ich habe dich ja noch 


540 Schuld und Suͤhne 


gar nicht gefragt, ob eine Verblendung uͤber dich gekommen iſt 
oder nicht ... Antworte: haft du den Mord begangen?“ 

„Ich bin der Mörder .. . Ich geſtehe es,“ erwiderte Nikolai. 

„Ach was! Womit haſt du den Mord begangen?“ 

„Mit einem Beile. Das hatte ich mir vorher beſchafft.“ 

„Ach was! Nur nicht ſo eilig! Allein?“ 

Nikolai verſtand die Frage nicht. 

„Haft du den Mord allein begangen?“ 

„Ja, ganz allein. Dmitri iſt unſchuldig; er war gar nicht daran 
beteiligt.“ 

„Rede nicht vorſchnell von Dmitri! ... Na ſo was! ... Wie 
biſt du denn damals die Treppe hinuntergekommen? Die Haus⸗ 
knechte haben euch doch beide zuſammen geſehen?“ 

„Ich bin damals abſichtlich mit Dmitri zuſammen hinunter: 
gelaufen, . . . um den Verdacht von mir abzulenken,“ erwiderte 
Nikolai prompt, als hätte er ſich vorher auf die Antwort vor: 
bereitet. | 

„Na ja, es ift fo!” rief Porfiri wütend. „Er fagt eine Lektion 
auf!“ murmelte er wie für ſich und ſah auf einmal wieder Raſ— 
kolnikow an. 

Seine Gedanken waren offenbar fo ſtark von Nikolai in Эт: 
ſpruch genommen geweſen, daß er für einen Augenblick an Raſ— 
kolnikow gar nicht mehr gedacht hatte. Jetzt kam ihm das auf 
einmal zum Bewußtſein, und er wurde ordentlich verlegen. 

„Entſchuldigen Sie, Vaͤterchen Rodion Romanowitſch,“ wandte 
er ſich zu ihm, „das geht nicht wohl ſo in Gegenwart eines Dritten; 
haben Sie die Guͤte ... Sie haben ja hier nichts mehr zu tun 
.. Ich bin ſelbſt . .. Sie ſehen, was man für Überraſchungen 
erlebt! ... Darf ich Sie bitten! ...“ 

Er faßte ihn an der Hand und zeigte nach der Tuͤr. 

„Das ſcheinen Sie nicht erwartet zu haben,“ ſagte Raftolnikor>, 


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Vierter Teil 541 


der die Sache natuͤrlich noch nicht klar begriff, aber doch bereits 
erheblich an Mut gewonnen hatte. 

„Auch Sie, Vaͤterchen, haben es nicht erwartet. Ei, wie Ihre 
Hand zittert! He-he!“ 

„Auch Sie zittern, Porfiri Petrowitſch.“ 

„Jawohl, jawohl; das hatte ich nicht erwartet.“ 

Sie ſtanden ſchon in der Tuͤr. Porfiri wartete ungeduldig dar— 
auf, daß Raſkolnikow hinausginge. 

„Und die Überraſchung, von der Sie ſprachen, die wollen Sie 
mir nun nicht zeigen?“ fragte Raſkolnikow fpöttifch. 

„So reden Sie nun, und dabei ſchlagen Ihnen doch noch die 
Zähne im Munde aufeinander, he-he! Was find Sie für ein fpott= 
luſtiger Menſch! Na, auf Wiederſehen!“ 

„Meiner Anſicht nach koͤnnen wir einander einfach Adieu 
ſagen!“ 

„Wie es Gott gefaͤllig ſein wird, wie es Gott gefaͤllig ſein 
wird!“ murmelte Porfiri und verzog den Mund zu einem eigen— 
tuͤmlichen Laͤcheln. 

Beim Durchſchreiten der Kanzlei bemerkte Raſkolnikow, daß 
viele ihn aufmerkſam betrachteten. Im Vorzimmer erkannte er 
unter der Menge die beiden Hausknechte aus „jenem“ Hauſe, die 
er damals in der Nacht aufgefordert hatte, mit nach dem Polizei— 
bureau zu kommen. Sie ſtanden da und warteten auf etwas. 
Kaum war er jedoch auf die Treppe gelangt, als er hinter ſich 
Porfiris Stimme hoͤrte. Er drehte ſich um und ſah, daß ihm 
dieſer ganz außer Atem nachgelaufen kam. 

„Nur noch ein Wort, Rodion Romanowitſch! Wie ſich dieſe 
ganze Geſchichte loͤſen wird, das wollen wir Gott anheimgeben; 
aber ich werde Sie uͤber einige Punkte doch noch in der geſetz— 
lichen Form befragen muͤſſen .. . Alſo ſehen wir uns noch, nicht 
wahr?“ 


542 Schuld und Suͤhne 


Porfiri blieb laͤchelnd vor ihm ſtehen. 

„Nicht wahr?“ fuͤgte er noch einmal hinzu. 

Es machte den Eindruck, als wollte er noch weiterreden; aber 
es kam nichts mehr. 

„Ich moͤchte Sie noch um Entſchuldigung bitten, Porfiri Petro— 
witſch, wegen meines Verhaltens von vorhin, ... ich bin etwas 
zu hitzig geworden,“ begann Raſkolnikow; er war ſchon wieder 
ganz dreiſt geworden und verſpuͤrte ein unwiderſtehliches Verlan— 
gen ein bißchen zu ſchauſpielern. 

„O, das tut ja nichts, tut ja gar nichts!“ fiel Porfiri in freu— 
дет Tone ein. „Ich bin ja auch meinerſeits ... Ich habe nun 
einmal ſo einen biſſigen Charakter; ich geſtehe es, ich geſtehe es! 
Nun aber, wir ſehen uns ja noch. So Gott will, ſehen wir uns 
noch recht oft wieder! ...“ 

„Und dann werden wir einander recht genau kennen lernen?“ 
RER Raſkolnikow. 

„Jawohl, recht genau werden wir наб dann kennen lernen,“ 
ſtimmte ihm Porfiri Petrowitſch bei und ſah ihn mit zuſammen— 
gekniffenen Augen ſehr ernſt an. „Sie gehen jetzt zur Feier eines 
Namensfeſtes?“ 

„Nein, zu einer Beerdigung.“ 

„Ja, richtig, zu einer Beerdigung! Achten Sie nur auf Ihre 
Geſundheit; auf die muͤſſen Sie recht ſehr achten ...“ 

„Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich Ihnen nun meinerſeits 
wuͤnſchen ſoll!“ antwortete Raſkolnikow, der ſchon anfing, die 
Treppe hinabzuſteigen, ſich aber wieder zu Porfiri umwandte. 
„Ich moͤchte Ihnen guten Erfolg in Ihrer amtlichen Taͤtigkeit 
wuͤnſchen; aber Sie ſehen ja ſelbſt, wie komiſch Ihr Amt iſt.“ 

„Wieſo komiſch?“ fragte Porfiri Petrowitſch, der ſich gleichfalls 
bereits umgedreht hatte, um fortzugehen, nun aber ſofort die 
Ohren ſpitzte. 


Vierter Teil 543 


„Aber gewiß! Da iſt dieſer arme Nikolai; den haben Sie wahr— 
ſcheinlich in Ihrer pſychologiſchen Manier gequaͤlt und gemartert, 
folange er noch nicht geftand! Tag und Nacht haben Sie ihm 
wahrſcheinlich bewieſen: Du biſt der Moͤrder, du biſt der Moͤr— 
der! ... Na, und nun, wo er es bereits geftanden hat, fangen 
Sie von neuem an, ihn durchzukneten: Du luͤgſt, heißt es jetzt, 
du biſt nicht der Mörder! Du kannſt es nicht fein! Du ſagſt eine 
Lektion auf!‘ Nun, iſt da Ihr Amt nicht komiſch?“ 

„He⸗he⸗he! Das haben Sie alſo gehoͤrt, daß ich vorhin eben 
zu Nikolai ſagte, er ſage eine Lektion auf?“ 

„Natuͤrlich habe ich es gehoͤrt!“ 

„He⸗he! Ein ſcharfſinniger Mann find Sie, ein ſcharfſinniger 
Mann. Alles bemerken Sie! Ein uͤberaus reger Verſtand! Und 
Sie gewinnen einer Sache immer die komiſchſte Seite ab... 
he⸗he! . . . Von den Schriftſtellern beſaß ja wohl Gogol dieſe 
Faͤhigkeit im hoͤchſten Grade?“ 

„Gewiß.“ 

„Ja, ja, Gogol ... Auf angenehmes Wiederſehen!“ 

„Auf angenehmes Wiederſehen!“ 

Raſkolnikow ging geradeswegs nach Hauſe. Er war ſo wirr 
und benommen, daß er, als er nach Hauſe gekommen war, ſich 
auf das Sofa warf und eine Viertelſtunde ſtill daſaß, lediglich 
damit beſchaͤftigt, ſich zu erholen und ſeine Gedanken einiger— 
maßen zu ſammeln. Über die Geſchichte mit Nikolai ins klare 
zu kommen, das verſuchte er gar nicht; er fuͤhlte ſich tief er— 
ſchuͤttert; er fuͤhlte, daß in Nikolais Geſtaͤndnis etwas Unerklaͤr— 
liches, Wunderbares enthalten war, das er jetzt ſchlechterdings 
nicht begreifen koͤnne. Aber Nikolais Geſtaͤndnis war eine wirk— 
liche Tatſache. Die Folgen dieſer Tatſache ftanden ihm ſofort 
klar vor Augen: die Unwahrheit dieſer Selbſtbezichtigung konnte 
nicht verborgen bleiben, und dann hielt man ſich wieder an ihn. 


544 Schuld und Sühne 


Aber bis dahin wenigſtens war er frei und mußte unbedingt 
etwas fuͤr ſich tun; denn die Gefahr drohte ihm mit Sicherheit. 

Aber wie groß war dieſe Gefahr? Die Lage begann ſich zu 
klaren. Während er ſich in großen, allgemeinen Umriſſen die ganze 
Szene ins Gedaͤchtnis zuruͤckrief, die er ſoeben mit Porfiri gehabt 
hatte, fuhr er unwillkuͤrlich noch einmal vor Schreck zuſammen. 
Allerdings, er kannte noch nicht alle Abſichten Porfiris, konnte 
noch nicht alle ſeine Berechnungen durchſchauen. Aber ein Teil 
des Spieles war bereits aufgedeckt, und natuͤrlich konnte niemand 
beſſer als er verſtehen, wie ſchrecklich fuͤr ihn dieſe von Porfiri 
ausgeſpielte Karte war. Nur wenig hatte gefehlt, und er waͤre 
imftande geweſen ſich vollſtaͤndig und unzweideutig zu verraten. 
Porfiri, der die Krankhaftigkeit ſeines Charakters wahrgenommen 
und gleich beim erſten Blick richtig erfaßt und durchſchaut gehabt 
hatte, hatte daraufhin ein zwar etwas zu keckes, aber doch faſt 
ſicheres Spiel geſpielt. Es war nicht zu beſtreiten, daß er, Raſ⸗ 
kolnikow, ſich vorhin ſchon arg kompromittiert hatte; aber bis 
zu Tatſachen war es doch noch nicht gekommen; alles, was vor= 
lag, war immer noch verſchiedener Deutungen faͤhig. Aber faßte 
er auch alles Vorgefallene richtig auf? Irrte er ſich auch nicht? 
Zu welchem Reſultate hatte Porfiri heute eigentlich gelangen 
wollen? Hatte er wirklich heute etwas, das zu feiner Überführung 
dienen konnte, vorbereitet gehabt und im Hintergrunde gehalten? 
Und was konnte das geweſen ſein? Hatte er wirklich auf etwas 
gewartet oder nicht? Wie haͤtte ſich wohl heute ihr Auseinander⸗ 
gehen geſtaltet, wenn die unerwartete Kataſtrophe mit Nikolai 
nicht eingetreten waͤre? 

Porfiri hatte faſt ſein ganzes Spiel gezeigt; das war ja von 
ihm ſehr riskiert; aber er hatte es trotzdem getan, und Raſkol⸗ 
nikow hatte die beſtimmte Vorſtellung: haͤtte Porfiri wirklich noch 
mehr Beweismaterial gehabt, ſo haͤtte er auch das noch aufgedeckt. 


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Vierter Teil 545 


Was hatte es nun mit dieſer „Überraſchung“ für eine Bewandt— 
nis? Hatte er ihn damit nur hinters Licht fuͤhren wollen? War 
etwas Ernſthaftes daran oder nicht? Konnte irgend etwas, was 
einer Tatſache, einem poſitiven, belaſtenden Momente aͤhnlich 
ſah, dahinterſtecken? Der Mann von geſtern vielleicht? Wo war 
der geblieben? Wo war er heute? Wenn Porfiri uͤberhaupt 
irgendwelches poſitive Beweismaterial hatte, ſo ſtand das ſicher— 
lich in Beziehung zu dem Manne von geſtern. 

Er ſaß auf dem Sofa mit tief herabgeſunkenem Kopfe, die 
Ellbogen auf die Knie geſtuͤtzt, das Geſicht mit den Händen ver— 
deckt. Ein nervoͤſes Zittern lief ihm immer noch durch den ganzen 
Koͤrper. Schließlich ſtand er auf, ergriff ſeine Muͤtze, ſtand einen 
Augenblick in Gedanken und ging zur Tuͤr. 

Er hatte die Vorſtellung, daß er wenigſtens fuͤr den heutigen 
Tag ſich mit einiger Sicherheit fuͤr ungefaͤhrdet halten koͤnne. 
Auf einmal empfand er in ſeinem Herzen beinahe ein Gefuͤhl 
der Freude: er wollte ſo ſchnell wie moͤglich zu Katerina Iwa— 
nowna gehen. Zur Beerdigung kam er natuͤrlich zu ſpaͤt; aber 
an dem Gedaͤchtnismahle konnte er noch teilnehmen, und dabei 
wuͤrde er in wenigen Minuten Sofja ſehen. 

Er blieb ſtehen und uͤberlegte ein Weilchen; ein ſchmerzliches 
Laͤcheln ſpielte um ſeine Lippen. 

„Heute noch, heute noch!“ ſagte er vor ſich hin. „Ja, heute 
noch; es muß ſein!“ 

In dem Augenblicke, wo er die Tuͤr oͤffnen wollte, ging ſie 
ploͤtzlich von ſelbſt auf. Zitternd ſprang er zuruͤck. Die Tür öff: 
nete ſich langſam und leiſe, und vor ihm ſtand die Geſtalt des 
Mannes, der ihm geſtern „wie aus der Erde gewachſen“ er— 
ſchienen war. 

Der Mann blieb auf der Schwelle ſtehen, blickte Raſkolnikow 
ſchweigend an und machte einen Schritt in das Zimmer hinein. 
XIX. ss. 


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546 Schuld und Suͤhne 


Seine äußere Erſcheinung war die gleiche wie geſtern, dieſelbe 
Geſtalt, dieſelbe Kleidung; aber in ſeinem Geſichte und Blicke 
war eine ſtarke Veraͤnderung vorgegangen: er ſah jetzt ganz 
nie dergeſchlagen aus, und nachdem er einen Augenblick fo da— 
geſtanden hatte, ſeufzte er tief. Es fehlte nur, daß er dabei die 
Hand gegen die Backe gehalten und den Kopf zur Seite gebeugt 
haͤtte; dann haͤtte er vollſtaͤndig wie ein altes Weib ausgeſehen. 

„Was wuͤnſchen Sie?“ fragte Raſkolnikow, der leichenblaß ge— 
worden war. 

Der Mann ſchwieg noch eine kleine Weile und verneigte ſich 
dann auf einmal tief vor ihm, Гай bis zur Erde; wenigſtens be: 
rührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand. 

„Was wollen Sie?“ rief Raſkolnikow. 

„Verzeihen Sie mir!“ erwiderte der Mann leiſe. 

„Was ſoll ich Ihnen verzeihen?“ 

„Meine boͤſen Gedanken.“ 

Beide blickten einander an. 

„Ich aͤrgerte mich. Als Sie damals kamen, vielleicht wirklich 
in betrunkenem Zuſtande, und die Hausknechte aufforderten, mit 
nach dem Polizeibureau zu kommen, und nach dem Blute ge— 
fragt hatten, da aͤrgerte ich mich, daß man Sie ſo einfach fuͤr 
betrunken hielt und unbehelligt gehen ließ. Und ich aͤrgerte mich 
ſo, daß ich in der Nacht nicht ſchlafen konnte. Und da ich Ihre 
Adreſſe im Kopfe behalten hatte, ſo kam ich geſtern hierher und 
erkundigte mich nach Ihnen . .. Ich habe Sie beleidigt.“ 

„Sie ſind alſo aus jenem Hauſe?“ 

„Ja, ich wohne da. Ich ſtand damals mit den Hausknechten 
im Torweg; erinnern Sie ſich vielleicht? Ich habe da auch meine 
Werkſtatt, ſeit vielen Jahren. Ich bin Kuͤrſchner, Klein buͤrger; 
ich arbeite im Haufe, Und ich aͤrgerte mich ſo ...“ 


Vierter Teil 547 


Nun erinnerte ſich Raſkolnikow auf einmal deutlich an die ganze 
Szene von vorgeſtern im Torweg; er hatte noch im Gedaͤchtnis, 
daß damals außer den Hausknechten dort noch ein paar Leute 
geſtanden hatten, auch eine Frau. Er entſann ſich einer Stimme, 
die den Vorſchlag gemacht hatte, ihn ohne weiteres auf die Polizei 
zu bringen. Auf das Geſicht deſſen, der das geſagt hatte, konnte er 
ſich nicht beſinnen und erkannte ihn auch jetzt in ſeinem Beſucher 
nicht wieder; aber es war ihm erinnerlich, daß er ihm damals 
eine Antwort gegeben und ſich auch nach ihm umgewandt hatte. 

Alſo das war nun die Erklaͤrung des ganzen ſchrecklichen Er— 
lebniſſes von geſtern. Am furchtbarſten war es ihm, ſich ſagen 
zu muͤſſen, daß er infolge eines ſo nichtigen Umſtandes beinahe 
zugrunde gegangen waͤre, ſich beinahe zugrunde gerichtet haͤtte. 
Alſo hatte dieſer Menſch von nichts erzaͤhlen koͤnnen als von dem 
Wohnungmieten und dem Geſpraͤche uͤber das Blut. Folglich 
hatte auch Porfiri kein Beweismaterial außer dieſem „Fieber— 
wahn“, keine Tatſachen, nur „pſychologiſche Beweiſe“, die „ihre 
zwei Seiten haben“, nichts Poſitives. Folglich, wenn keine neuen 
Tatſachen ans Licht kamen (und ſolche durften nicht mehr ans 
Licht kommen, unter keinen Umſtaͤnden !), — was konnte man 
ihm dann anhaben? Wodurch konnte man ihn dann in ausreichen— 
der Weiſe uͤberfuͤhren, ſelbſt wenn man ihn feſtnahm? Und folg— 
lich hatte Porfiri erſt jetzt, erſt ganz vor kurzem von dem Beſuch 
in der Wohnung erfahren und vorher nichts davon gewußt. 

„Da haben Sie alſo heute wohl Porfiri davon erzählt, ... 
daß ich nach Ihrem Hauſe gekommen war?“ rief er, von einem 
Gedanken, der ihm ploͤtzlich gekommen war, uͤberraſcht. 

„Was fuͤr einem Porfiri?“ 

„Dem Unterſuchungskommiſſar.“ 

„Ja, dem habe ich es geſagt. Die Hausknechte wollten damals 
nicht hingehen, und da bin ich hingegangen.“ 


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548 Schuld und Suͤhne 


„Heute?“ 

„Ich war unmittelbar vor Jae da. Und ich habe alles ge— 
hoͤrt, wie er Sie gefoltert hat.“ 

„Wo? Was? Wann?“ 

„Nun dort, bei ihm hinter der Bretterwand; da habe ich die 
ganze Zeit uͤber geſeſſen.“ 

„Wie? Alſo Sie waren die Überraſchung? Aber ich bitte Sie, 
wie iſt denn das zugegangen?“ 

„Als ich ſah,“ erwiderte der Kleinbuͤrger, „daß die Hausknechte 
trotz meines Zuredens nicht hingehen wollten (ſie ſagten, nun 
waͤre es ſchon zu ſpaͤt, und er wuͤrde womoͤglich noch boͤſe werden, 
weil fie nicht ſogleich mit Ihnen hingekommen wären), da aͤrgerte 
ich mich und konnte nicht ſchlafen und wollte mich nach Ihnen 
erkundigen. Und nachdem ich mich geſtern nach Ihnen erkundigt 
hatte, ging ich heute zu dem Unterſuchungskommiſſar hin. Als 
ich zum erſten Male hinkam, war er nicht da; als ich eine Stunde 
ſpaͤter wieder hinkam, empfing er mich nicht; als ich zum dritten 
Male kam, wurde ich vorgelaſſen. Ich berichtete ihm alles, wie 
es ſich zugetragen hatte, und da fing er an, im Zimmer hin und 
her zu rennen und ſich mit der Fauſt gegen die Bruſt zu ſchlagen. 
Ihr nichtswuͤrdige Bande, fagte er,, warum habt ihr mir das 
nicht gleich gemeldet? Haͤtte ich das gewußt, ſo haͤtte ich ihn mir 
durch die Polizei herholen laſſen!“ Darauf lief er hinaus, rief 
jemanden herein und redete mit ihm in einer Ecke; dann wendete 
er ſich wieder zu mir, fragte mich allerlei und ſchimpfte. Er machte 
mir viele Vorwuͤrfe, und ich hatte ihm doch alles berichtet und 
ihm auch geſagt, daß Sie geſtern nicht gewagt haͤtten, mir auf 
meine Worte etwas zu antworten, und daß Sie mich nicht 
wiedererkannt haͤtten. Da fing er wieder an herumzulaufen 
und ſchlug ſich immer gegen die Bruſt und war aͤrgerlich und 
lief umher; und als Sie angemeldet wurden, da ſagte er zu mir: 


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Vierter Teil 549 


„Na, geh mal hinter die Zwiſchenwand, fie da einſtweilen und 
ruͤhre dich nicht, was du auch hören magſt!' und er brachte mir 
ſelbſt einen Stuhl dahin und ſchloß mich ein. ‚Vielleicht werde 
ich dich noch befragen, ſagte er. Als aber Nikolai hereingekommen 
war, da ließ er mich, nachdem Sie weg waren, hinaus. Ich 
werde dich noch einmal vorladen und noch weiter befragen, 
ſagte er. 

„Hat er Nikolai in Ihrer Gegenwart verhoͤrt?“ 

„Nachdem er Sie hinausbegleitet hatte, entließ er mich auch 
ſogleich und fing an, Nikolai zu verhoͤren.“ 

Der Kleinbuͤrger hielt inne, verbeugte ſich nochmals und be— 
ruͤhrte dabei wieder mit dem Finger den Boden. 

„Verzeihen Sie mir, daß ich Sie verleumdet und ſo ſchlecht 
von Ihnen gedacht habe.“ 

„Gott wird es Ihnen verzeihen,“ antwortete Raſkolnikow. 

Sowie er dies geſagt hatte, verbeugte ſich der Kleinbuͤrger 
wieder vor ihm, aber nun nicht bis zur Erde, ſondern nur bis 
zur Hoͤhe des Guͤrtels, drehte ſich langſam um und ging aus 
dem Zimmer. 

„Jetzt hat alles feine zwei Seiten!“ fagte ſich Raſkolnikow 
und verließ mutiger als je das Zimmer. 5 

„Jetzt wollen wir noch unſere Kraͤfte miteinander meſſen,“ 
dachte er mit einem ingrimmigen Laͤcheln, waͤhrend er die Treppe 
hinabſtieg. Der Ingrimm richtete ſich gegen ihn ſelbſt; nur mit 
Geringſchaͤtzung und Beſchaͤmung erinnerte er ſich jetzt ſeines 
Kleinmutes, wie er ſich in Gedanken ausdruͤckte. 


Fünfter Teil 
I. 


er Morgen, welcher auf die für Peter Petrowitſch fo ver: 
D haͤngnisvolle Ausſprache mit Awdotja und Pulcheria Alex— 
androwna folgte, uͤbte auch auf Peter Petrowitſch feine er— 
nüchternde Wirkung aus. Das Ereignis, das ihm noch geſtern 
als etwas Phantaſtiſches und, trotzdem es ſich zugetragen hatte, 
dennoch ſozuſagen als ein Ding der Unmoͤglichkeit erſchienen war, 
dieſes Ereignis mußte er zu ſeinem groͤßten Mißvergnuͤgen all⸗ 
maͤhlich als eine vollendete und nicht mehr ruͤckgaͤngig zu machende 
Tatſache anerkennen. Die ſchwarze Schlange der verletzten Eigen— 
liebe hatte die ganze Nacht über an feinem Herzen genagt. So— 
bald er aus dem Bette aufgeſtanden war, beſah er ſich ſogleich 
im Spiegel. Er fuͤrchtete, es koͤnnte ihm die Galle ins Blut ge— 
treten ſein. In dieſer Hinſicht jedoch war vorlaͤufig alles noch 
in guter Ordnung, und als er ſein vornehmes, weißes und in 
letzter Zeit etwas voller gewordenes Geſicht betrachtete, fuͤhlte 
er ſich ſogar für einen Augenblick getroͤſtet, in der feſten Über: 
zeugung, daß er wohl auch noch anderwaͤrts eine Braut fuͤr ſich 
finden werde, vielleicht ſogar eine noch beſſere; aber ſofort trat 
auch wieder der Gedanke an die ihm widerfahrene Kraͤnkung 
in den Vordergrund, und er ſpuckte energiſch ſeitwaͤrts aus, wo— 
durch er ein ſtillſchweigendes, aber ſpoͤttiſches Laͤcheln bei ſeinem 
jungen Freunde und Stubengenoſſen Andrei Semjonowitſch 
Lebeſjatnikow hervorrief. Peter Petrowitſch bemerkte dieſes 
Laͤcheln und notierte es ſich in Gedanken, um es ſeinem jungen 
Freunde bei Gelegenheit heimzuzahlen. So hatte er ihm in der 
letzten Zeit ſchon gar manches zu dieſem Zwecke aufs Kerbholz 
geſetzt. Sein Arger wuchs noch mehr, als er auf einmal zu der 
Einſicht kam, daß es geſtern toͤricht von ihm geweſen war, von 


Fünfter Teil 551 


—-—- — А 
——— 


dem EEE feines Geſpraͤchs mit der Familie Raſkolnikow 
dieſem Andrei Semjonowitſch Mitteilung zu machen. Das war 
der zweite Fehler, der ihm geſtern paſſiert war; er hatte ihn in 
der Erregung, in einem uͤberfluͤſſigen Drange, ſich auszuſprechen, 
und infolge feiner gereizten Stimmung begangen .. . Weiter 
folgte nun an dieſem Vormittag, gerade als ob das Schickſal es 
darauf hätte angelegt gehabt, eine Unannehmlichkeit auf die 
andre. Sogar beim Appellationsgerichte hatte er einen Miß— 
erfolg in der Prozeßangelegenheit, in der er taͤtig war. In be— 
ſondere Entruͤſtung aber geriet er uͤber den Hauswirt, von dem 
er im Hinblick auf ſeine baldige Verheiratung eine Wohnung ge— 
mietet hatte, die er bereits auf eigene Koſten hatte inſtand 
ſetzen laſſen. Dieſer Wirt, ein reich gewordener deutſcher Hand— 
werker, ließ ſich abſolut nicht darauf ein, den eben erſt abge— 
ſchloſſenen Kontrakt einfach wieder aufzuheben, ſondern forderte 
die volle im Kontrakt vorgeſehene Abſtandsſumme, obwohl ihm 
doch Peter Petrowitſch die Wohnung in faſt vollſtaͤndig reno— 
viertem Zuſtande zuruͤckgab. Ebenſo wollten die Leute in der 
Moͤbelhandlung auch nicht einen Rubel von der Anzahlung für 
die dort gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geſchafften 
Moͤbel zuruͤckgeben. 

„Ich kann mich doch nicht extra um der Moͤbel willen ver— 
heiraten!“ dachte Peter Petrowitſch zaͤhneknirſchend, und gleich— 
zeitig zuckte in ſeinem Gehirn noch einmal ein Hoffnungsſchimmer 
auf: „Iſt denn dort wirklich alles unwiederbringlich verloren und 
zu Ende? Ob ich es nicht doch noch einmal verſuchen kann?“ 
Der Gedanke an Awdotja zog ihm noch einmal verlockend durch 
den Sinn. Es waren qualvolle Augenblicke, die er jetzt durch— 
lebte, und haͤtte Peter Petrowitſch jetzt auf dem Fleck durch den 
bloßen Wunſch Raſkolnikow ermorden koͤnnen, ſo haͤtte er, ohne 
zu zoͤgern, dieſen Wunſch ausgeſprochen. 


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552 Schuld und Suͤhne 


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„Ein Fehler war es auch von mir, daß ich ihnen gar kein Geld 
gegeben habe,“ dachte er, als er truͤben Mutes in Lebeſjatnikows 
Stube zuruͤckkehrte. „Hols der Kuckuck, warum bin ich eigentlich 
ſo ein Jude geworden? Das war eine ganz falſche Sparſamkeit! 
Ich beabſichtigte, ſie recht kurz zu halten und ſie dahin zu bringen, 
daß ſie mich als ihren Schutzgott anſaͤhen, und nun kommen ſie 
mir fol... Scheußlich! .. . Ja, wenn ich dieſe ganze Zeit her 
fo ein anderthalbtauſend Rubel auf fie verwandt hätte, zur Be: 
ſchaffung der Ausſteuer und in Form von Geſchenken, von aller: 
lei Schaͤchtelchen, Neceſſaires, Bijouterien, Kleiderſtoffen und 
anderm Firlefanz, dann waͤre die Sache beſſer geweſen, . .. 
und ich haͤtte mehr Sicherheit gehabt! Dann haͤtten ſie mir jetzt 
nicht ſo leicht aufgekuͤndigt! Solche Leute halten es unbedingt 
fuͤr ihre Pflicht, bei Aufhebung einer Verlobung die Geſchenke 
und das Geld zuruͤckzugeben; und die Ruͤckerſtattung haͤtte doch 
für fie Schwierigkeiten gehabt, hätte ihnen auch bei den Ge— 
ſchenken wohl leid getan! Auch das Gewiſſen wuͤrde ſie beun— 
ruhigt haben: ‚mir koͤnnen doch nicht‘, hätten fie ſich geſagt, 
zeinem Menſchen ſo ohne weiteres den Laufpaß geben, nachdem 
er ſich bisher fo freigebig und zartfuͤhlend gezeigt hat. ... Hm! 
Da habe ich einen Bock geſchoſſen!“ 

Wieder knirſchte Peter Petrowitſch mit den Zaͤhnen und nannte 
ſich einen Dummkopf, natuͤrlich nur ganz im ſtillen. 

So befand er ſich nicht gerade in roſigſter Stimmung. Die 
Vorbereitungen zu dem Gedaͤchtnismahle in Katerina Iwa— 
nownas Zimmer nahmen dann ein wenig ſein Intereſſe in An— 
ſpruch. Er hatte ſchon geſtern etwas von dieſem Gedaͤchtnismahle 
gehoͤrt; er hatte ſogar eine undeutliche Erinnerung, als ob auch 
er dazu eingeladen worden waͤre; aber bei ſeinen eigenen Sor— 
gen und Geſchaͤften hatte er fuͤr nichts andres Aufmerkſamkeit 
übrig gehabt. Schnell erkundigte er ſich jetzt bei Frau Lippe⸗ 


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Fuͤnfter Teil 553 


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wechſel, die in Katerina Iwanownas Abweſenheit (denn dieſe 
war auf dem Kirchhofe) damit beſchaͤftigt war, den Tiſch zurecht: 
zumachen, und erfuhr von ihr, das Gedaͤchtnismahl wuͤrde ſehr 
großartig ſein; faſt alle Mitmieter, darunter auch ſolche, die mit 
dem Verſtorbenen gar nicht bekannt geweſen waͤren, ſeien ein— 
geladen; ſogar Andrei Semjonowitſch Lebeſjatnikow ſei ein— 
geladen, trotz des Streites, den er unlaͤngſt mit Katerina Iwa— 
nowna gehabt haͤtte; endlich ſei auch er ſelbſt, Peter Petrowitſch, 
nicht nur eingeladen, ſondern er wuͤrde ſogar als der vornehmſte 
Gaſt unter allen Mietern mit beſonderer Sehnſucht erwartet. 
Amalia Iwanowna ſelbſt hatte gleichfalls eine hoͤchſt reſpektvolle 
Einladung erhalten, trotz aller vorhergegangenen, unangenehmen 
Zwiſtigkeiten, und arrangierte daher jetzt mit großer Geſchaͤftig— 
keit und nicht ohne Genuß alles fuͤr die Mahlzeit Erforderliche. 
Sie war bereits hoͤchſt geputzt, obwohl es natuͤrlich ein Trauer— 
koſtuͤm war; aber es war ganz neu und von Seide, und ſie war 
ſehr ſtolz darauf. Alle dieſe Tatſachen und Mitteilungen brachten 
Peter Petrowitſch auf einen ganz beſonderen Gedanken, und in 
ſeine Überlegungen vertieft, begab er ſich in ſein, das heißt in 
Herrn Lebeſjatnikows Zimmer. Die Hauptſache war: er hatte 
unter anderm auch erfahren, daß zu den Eingeladenen auch 
Raſkolnikow gehoͤrte. 

Andrei Semjonowitſch war aus irgendwelchem Grunde an 
dieſem Tage den ganzen Vormittag uͤber zu Hauſe. Zwiſchen 
ihm und Peter Petrowitſch beſtand ein eigentuͤmliches Verhaͤlt— 
nis, das jedoch zum Teil ſehr erklaͤrlich war. Peter Petrowitſch 
verachtete und haßte ihn über alle Maßen, faſt gleich von dem 
Tage an, wo er ſich bei ihm einlogiert hatte; gleichzeitig aber 
empfand er vor ihm eine gewiſſe Furcht. Er hatte nach ſeiner 
Ankunft in Petersburg nicht lediglich aus ſchaͤbiger Sparſamkeit 

bei ihm Quartier genommen, wiewohl dies allerdings der Haupt— 


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554 Schuld und Sühne 


grund war; ſondern er hatte dazu noch einen andern Grund ge— 
habt. Schon als er noch in der Provinz wohnte, hatte er uͤber 
Andrei Semjonowitſch, ſeinen fruͤheren Muͤndel, gehoͤrt, er ſei 
einer der hervorragendſten jungen Reformer und ſpiele ſogar in 
manchen intereſſanten, geheimnisvollen Klubs eine bedeutende 
Rolle. Das hatte ihm imponiert. Dieſe maͤchtigen, allwiſſenden 
Klubs, die niemanden fuͤrchteten und jeden geheimen Übeltaͤter 
entlarvten, hatten ihm ſchon laͤngſt eine gewaltige, jedoch ganz 
vage Furcht eingeflößt. Er ſelbſt hatte ſich natürlich, noch dazu 
in der Provinz, von derartigen Vereinen keinen auch nur an— 
naͤhernd genauen Begriff machen koͤnnen. Er hatte, wie alle 
Leute, gehoͤrt, es gebe namentlich in Petersburg ſogenannte 
Reformer, Nihiliſten, Entlarver uſw.; aber gleich vielen andern 
Leuten hatte er mit dieſen Bezeichnungen ganz uͤbertriebene und 
ins Abſurde entſtellte Vorſtellungen verbunden. Am allermeiſten 
fuͤrchtete er, und zwar ſchon ſeit einigen Jahren, die „Ent— 
larvungen“, und dies war die hauptſaͤchlichſte Urſache ſeiner fort— 
waͤhrenden uͤbermaͤßigen Unruhe geweſen, beſonders wenn er 
an eine Verlegung ſeiner Taͤtigkeit nach Petersburg gedacht hatte. 
In dieſer Hinſicht war er, wie man ſich auszudruͤcken pflegt, ver— 
aͤngſtigt, wie einem manchmal veraͤngſtigte kleine Kinder vor: 
kommen. Einige Jahre vorher hatte er in der Provinz (er ſtand 
damals noch im Beginn ſeiner Laufbahn) zwei ſolche Faͤlle von 
grauſamer Entlarvung mit angeſehen; die beiden Betroffenen 
waren recht hochgeſtellte Beamte in der Verwaltung des Gou— 
vernements, und er hatte ſich in ihre Gefolgſchaft begeben ge— 
habt und ſich ihrer Goͤnnerſchaft erfreut. Der eine Fall endete 
fuͤr die entlarvte Perſoͤnlichkeit mit einem großen Skandal, und 
der zweite haͤtte beinahe ein ganz, ganz uͤbles Ende genommen. 
Aus dieſem Grunde hatte ſich Peter Petrowitſch vorgenommen, 
ſich gleich nach ſeiner Ankunft in Petersburg zu erkundigen, was 


Fünfter Zeil 555 


es mit dieſen Klubs für eine Bewandtnis habe, und, wenn es 
erforderlich ſchiene, der Gefahr vorzubeugen und ſich bei „unfrer 
jungen Generation“ einzuſchmeicheln. Fuͤr dieſen Fall hoffte er 
auf Lebeſjatnikows Unterſtuͤtzung, und er hatte, wie er das bei 
dem Beſuche bei Raſkolnikow bewies, bereits gelernt, ein paar 
entlehnte Phraſen klangvoll vorzubringen. 

Allerdings hatte er Andrei Semjonowitſch recht bald als einen 
ſehr gewoͤhnlichen, einfaͤltigen Menſchen durchſchaut. Dadurch 
war aber ſein Glaube an die Macht der Klubs in keiner Weiſe 
erſchuͤttert und ſein Mut nicht gehoben worden. Selbſt wenn er 
ſich uͤberzeugt haͤtte, daß alle Reformer ebenſolche Dummkoͤpfe 
ſeien, auch dann haͤtte ſich ſeine Unruhe nicht gelegt. Im Grunde 
intereſſierten all dieſe Lehren, Ideen und Syſteme, mit denen 
Andrei Semjonowitſch ihn aufs freigebigſte regalierte, ihn nicht 
im geringſten. Er hatte ſein eigenes Ziel. Er wollte nur ſo 
ſchnell wie irgend moͤglich in Erfahrung bringen, was in dieſen 
Klubs vorginge und wie dabei verfahren wuͤrde. Beſaßen dieſe 
Klubiſten eine Macht oder nicht? Hatte er fuͤr ſeine eigene Perſon 
etwas von ihnen zu befürchten oder nicht? Würden fie ihn „ent— 
larven !, wenn er dies oder das unternaͤhme, oder nicht? Und wenn 
fie ſich mit Entlarvungen abgaben, auf welche Handlungsweiſen 
hatten fie es dabei beſonders abgeſehen? Welche Handlungs: 
weiſen machten fie gerade jetzt zum Objekte ihrer entlarvenden 
Taͤtigkeit? Und dann: konnte man ſich nicht auf irgendeine Weiſe 
mit ihnen freundlich ſtellen und ſie dabei duͤpieren, wenn ſie 
wirklich eine Macht beſitzen ſollten? War das erforderlich oder 
nicht? Konnte er nicht vielleicht gerade durch ihre Vermittlung 
in ſeiner Karriere etwas erreichen? Kurz, es draͤngten ſich ihm 
Hunderte von Fragen auf. 

Dieſer Andrei Semjonowitſch war ein Mann von ungeſunder 
Konſtitution, ſkrofuloͤs, von kleiner Statur; er bekleidete irgend» 


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556 Schuld und Suͤhne 


eine Beamtenſtelle; ſein Haar war von auffallend hellblonder 
Farbe; er trug einen Backenbart in Kotelettform, auf den er 
ſehr ſtolz war. Faſt beſtaͤndig litt er an den Augen. Er hatte 
ein ſehr weiches Herz; aber ſein Redeton klang ſehr ſelbſtbewußt 
und manchmal geradezu hochmuͤtig, was ſich bei ſeiner kleinen 
Figur meiſt recht laͤcherlich ausnahm. Amalia Iwanowna be— 
trachtete ihn als einen hochanſtaͤndigen Mieter; denn er trank 
nicht und bezahlte puͤnktlich ſeine Miete. Aber trotz mancher 
guten Eigenſchaften war Andrei Semjonowitſch tatſaͤchlich ein 
bißchen dumm. Er hatte ſich mit leidenſchaftlichem Eifer den 
Reformern und „unſrer juͤngeren Generation“ angeſchloſſen. Er 
gehörte zu der zahlloſen, buntſcheckigen Menge flachkoͤpfiger Men: 
ſchen, klaͤglicher Fruͤhgeburten und duͤnkelhafter Halbwiſſer, die 
ſich eiligſt zu Anhaͤngern der modernſten, landlaͤufigſten Idee 
machen, um ſie ſofort zu verhunzen und alle Beſtrebungen, denen 
ſie (manchmal mit der beſten Abſicht) dienen, in eine Karikatur 
zu verwandeln. 

Übrigens war Herrn Lebeſjatnikow trotz all feiner Gutmuͤtigkeit 
ſein Stubengenoſſe und ehemaliger Vormund Peter Petrowitſch 
gleichfalls recht zuwider geworden. Das hatte ſich von beiden 
Seiten ganz von ſelbſt ſo herausgebildet. Wie einfaͤltig er auch 
war, durchſchaute Andrei Semjonowitſch doch allmaͤhlich, daß 
Peter Petrowitſch gegen ihn nicht aufrichtig war und ihn im 
ſtillen verachtete und daß uͤberhaupt nichts Rechtes an ihm dran 
war. Er verſuchte, ihm Fouriers ſozialiſtiſches Syſtem und die 
Darwinſche Theorie auseinanderzuſetzen; aber Peter Petrowitſch 
hoͤrte, namentlich in der letzten Zeit, mit gar zu ſpoͤttiſcher Miene 
zu und fing in der allerletzten Zeit ſogar an, ihn auszuſchelten. 
Peter Petrowitſch hatte naͤmlich inſtinktmaͤßig herausgefuͤhlt, 
daß Lebeſjatnikow nicht nur ein recht gewoͤhnlicher, ziemlich 
dummer Menſch, ſondern wohl noch dazu ein arger Aufſchneider 


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Fünfter Teil 557 


war und überhaupt keine einflußreichen Beziehungen, nicht ет: 
mal in feinem Klub, beſaß, ſondern nur von weitem etwas hatte 
laͤuten hoͤren; ja, daß er nicht einmal ſein eigentliches Geſchaͤft, 
die Propaganda, ordentlich verſtand, weil er gar zu wirr und 
unverſtaͤndlich redete; wie konnte der ein „Entlarver“ ſein! 
Nebenbei ſei noch bemerkt, daß Peter Petrowitſch in dieſen 
anderthalb Wochen (namentlich am Anfange dieſer Zeit) von 
Andrei Semjonowitſch ganz ſonderbare Lobſpruͤche fuͤr Be— 
ſtrebungen, die dieſer bei ihm vorausſetzte, entgegengenommen 
hatte; er hatte naͤmlich nicht widerſprochen, ſondern ſtillge— 
ſchwiegen, wenn Andrei Semjonowitſch ihm zum Beiſpiel die 
Abſicht zugeſchrieben hatte, die kuͤnftige, baldige Errichtung einer 
neuen ſozialiſtiſchen „Kommune“ nicht weit vom Kanal in der 
Meſchtſchanſkaja-Straße zu foͤrdern, oder auch ſeiner Gattin 
Awdotja nicht hinderlich zu fein, wenn dieſe gleich im erſten 
Monat der Ehe auf den Gedanken kaͤme, ſich einen Liebhaber an— 
zuſchaffen, oder auch ſeine kuͤnftigen Kinder nicht taufen zu laſſen 
uſw. Peter Petrowitſch widerſprach grundſaͤtzlich nicht, wenn ihm 
ſolche Abſichten zugeſchrieben wurden, und ließ es ſich gefallen, 
dafuͤr gelobt zu werden; ſo willkommen war ihm jedes Lob. 
Peter Petrowitſch, der an dieſem Morgen einige fuͤnfprozen— 
tige Staatsſchuldſcheine verkauft hatte, ſaß am Tiſche und zaͤhlte 
die Banknotenpaͤckchen durch. Andrei Semjonowitſch, der faſt 
nie Geld hatte, ging im Zimmer auf und ab und tat, als ob ihn 
der Anblick des vielen Geldes voͤllig kalt ließe und ſogar mit Ver— 
achtung erfuͤlle. Peter Petrowitſch glaubte ganz und gar nicht, 
daß der Anblick einer ſolchen Geldſumme Andrei Semjonowitſch 
wirklich kalt ließe; und Andrei Semjonowitſch ſeinerſeits dachte 
bei ſich voll Erbitterung, daß Peter Petrowitſch vielleicht tat— 
ſaͤchlich eine niedrige, materielle Geſinnung bei ihm vorausſetze 
und ſich nun ein Vergnuͤgen daraus mache, ihn, ſeinen jungen 


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558 Schuld und Suͤhne 


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Freund, durch die nebeneinanderliegenden Banknotenpaͤckchen 
zu reizen und zu verhoͤhnen, indem er ihm dadurch ſeine Un— 
bedeutendheit und den großen zwiſchen ihnen vorhandenen Ab— 
ſtand zu Gemuͤte fuͤhre. | 

Er fand Peter Petrowitſch augenblicklich außerordentlich reiz- 
bar und unaufmerkſam, obwohl er, Andrei Semjonowitſch, an— 
geſetzt hatte, ihm ſein Lieblingsthema, von der Gruͤndung einer 
neuen, eigenartigen Kommune, zu erläutern, Die kurzen Ent: 
gegnungen und Bemerkungen, welche Peter Petrowitſch da— 
zwiſchenwarf, wenn er einen Augenblick aufhoͤrte, die Kuͤgelchen 
an der Rechenmaſchine klappern zu laffen, waren von einem ganz 
unverhohlenen und gefliſſentlich unhoͤflichen Spott durchtraͤnkt. 
Aber Andrei Semjonowitſch, der einer humanen Auffaſſung zu— 
neigte, fuͤhrte dieſe Gemuͤtsſtimmung ſeines Stubengenoſſen auf 
das geſtrige Zerwuͤrfnis mit Awdotja zuruͤck und brannte vor 
Verlangen, ſchnell zu eingehenderer Behandlung ſeines Themas 
zu gelangen; er habe da, ſo bemerkte er, in Sachen der Reform 
und Propaganda ſeinem verehrten Freunde etwas mitzuteilen, 
was dieſen intereſſieren und „zweifellos“ in feiner weiteren Ent⸗ 
wicklung foͤrdern werde. 

„Was iſt denn das fuͤr ein Gedaͤchtnismahl, zu dem da bei 
dieſer ... bei dieſer Witwe Anſtalten getroffen werden?“ fragte 
Peter Petrowitſch auf einmal und unterbrach ſo ſeinen Freund 
bei der intereſſanteſten Stelle der Auseinanderſetzung. 

„Das muͤſſen Sie ja doch wiſſen! Ich habe doch erſt geſtern 
mit Ihnen daruͤber geſprochen und Ihnen meine Anſchauungen 
über all ſolche religiöfen Gebräuche entwickelt ... Und die Frau 
hat Sie ja auch eingeladen; ich habe es mit eigenen Ohren ge—⸗ 
hört. Sie haben ja ſelbſt mit ihr geſtern geſprochen ...“ 

„Ich haͤtte nicht gedacht, daß dieſe powere Naͤrrin das ganze 
Geld, das ſie von dieſem andern Narren, dieſem Raſkolnikow, 


Fünfter Teil 559 


bekommen hat, für ein Gedaͤchtnismahl vergeuden würde. Ich 
war ganz erſtaunt, als ich vorhin eben durch das Zimmer hin— 
durchging: großartige Vorbereitungen; allerlei Weine auf dem 
Tiſche! ... Eine ganze Menge Menfchen find eingeladen; weiß 
der Kuckuck, was das vorſtellen ſoll!“ fuhr Peter Petrowitſch 
fort, der mit beſtimmter Abſicht bei dieſem Gegenſtande zu ver— 
weilen ſchien. „Wie? Sie ſagen, ich waͤre auch eingeladen?“ 
fuͤgte er hinzu und hob den Kopf in die Hoͤhe. „Wann ſollte denn 
das geweſen ſein? Ich kann mich gar nicht erinnern. Übrigens 
werde ich nicht hingehen. Was ſoll ich da? Ich habe geſtern nur 
ſo im Vorbeigehen mit ihr daruͤber geſprochen, daß ſie als be— 
duͤrftige Beamtenwitwe vielleicht eine einmalige Unterſtuͤtzung 
in Hoͤhe des Jahresgehaltes ihres Mannes bekommen koͤnne. 
Sollte fie mich etwa deshalb gleich einladen? He-he-he!“ 

„Ich habe auch nicht vor, hinzugehen,“ ſagte Lebeſjatnikow. 

„Das waͤre ja auch noch ſchoͤner! Wo Sie ſie doch eigenhaͤndig 
durchgeprügelt haben! Sehr begreiflich, daß es Ihnen peinlich 
iſt, hinzugehen, he-he!“ 

„Wer hat wen durchgepruͤgelt?“ fuhr Lebeſjatnikow auf; er 
hatte einen ganz roten Kopf bekommen. 

„Na, Sie haben doch Katerina IJwanowna vor einem Monat 
durchgepruͤgelt! Es iſt mir erzählt worden, noch geftern . 
Ja, ja, ſo iſts mit den theoretiſchen Grundſaͤtzen! Die Frauen— 
frage ſcheint alſo auch noch ſehr im argen zu liegen. He-he-he!“ 

Anſcheinend hoͤchſtlich amuͤſiert, begann Peter Petrowitſch 
wieder an der Rechenmaſchine zu klappern. 

„Das iſt alles Unſinn und Verleumdung!“ brauſte Lebefjat: 
nikow auf, dem jede Erwaͤhnung dieſes Vorfalls ſtets ſehr un— 
angenehm war. „So iſt das gar nicht geweſen! Die Sache war 
ganz anders ... Sie find falſch berichtet worden; das iſt lauter 
Klatſcherei! Ich habe mich damals lediglich verteidigt. Sie ging 


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560 Schuld und Suͤhne 


zuerſt mit den Nägeln auf mich los . .. Den ganzen Backenbart 
riß ſie mir aus. Das iſt denn doch jedem Menſchen erlaubt, hoffe 
ich, ſeine Perſon zu verteidigen. Außerdem laſſe ich mir von 
niemand Gewalttaͤtigkeit gefallen . . . Grundſaͤtzlich nicht. Denn 
das waͤre ja eine Art Deſpotismus. Was haͤtte ich denn tun 
ſollen? Etwa ruhig vor ihr ſtehen bleiben? Ich habe fie nur 
zuruͤckgeſtoßen.“ 

„He⸗he-he!“ lachte Luſchin von neuem in boshafter Weiſe. 

„Daß Sie gegen mich ſo ſticheln, das tun Sie nur deshalb, 
weil Sie ſelbſt Ärger gehabt haben und nun wuͤtend find... 
Aber die Geſchichte mit Katerina Iwanowna ift doch eine toͤrichte 
Lappalie und hat mit der Frauenfrage nicht das geringſte zu 
tun. Sie faſſen die Sache eben ganz falſch auf. Ich habe fruͤher 
ſogar folgendermaßen gedacht: wenn man die Theſe akzeptiert, 
daß die Frau dem Manne in allen Stuͤcken gleichſteht, ſogar hin⸗ 
ſichtlich der Koͤrperkraft (was manche bereits behaupten), jo muß 
auch, wo es ſich um Schlaͤgerei zwiſchen Maͤnnern und Frauen 
handelt, mit gleichem Maße gemeſſen werden. Natuͤrlich aber 
habe ich mir nachher uͤberlegt, daß eine ſolche Frage gar keine 
Exiſtenzberechtigung hat, weil Schlaͤgereien uͤberhaupt keine 
Exiſtenzberechtigung haben und das Vorkommen von Schlaͤge— 
reien in der kuͤnftigen Geſellſchaftsordnung undenkbar iſt,. .. 
und weil es doch ſonderbar waͤre, auf eine Gleichberechtigung 
bei Schlägereien hinzuſtreben. So dumm bin ich nicht, . . . ob⸗ 
wohl Schlägereien doch vorkommen, ... das heißt, ſpaͤter werden 
keine mehr vorkommen, aber jetzt kommen noch welche vor,. 
Donnerwetter, wenn man mit Ihnen redet, wird man ja ganz 
konfus. Dieſer fruͤhere unangenehme Vorfall bildet alſo nicht 
den Grund fuͤr mein Fernbleiben von dem Gedaͤchtnismahle. 
Sondern ich gehe einfach aus Grundſatz nicht hin, um nicht an 
einem ſo toͤrichten, auf ſinnloſen Vorausſetzungen beruhenden 


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Fünfter Teil 561 


Brauche, wie es dieſe Gedaͤchtnismahle find, teilzunehmen; das 
iſt der Grund! Übrigens koͤnnte man ja auch bloß ſo aus Un— 
ſinn hingehen, um ſich darüber luſtig zu machen ... Schade, 
daß keine Popen dabei ſein werden. Sonſt wuͤrde ich jedenfalls 
hingehen.“ 

„Alſo Sie moͤchten die gaſtliche Bewirtung annehmen und 
dann uͤber dieſe Bewirtung und uͤber die Leute, von denen Sie 
eingeladen ſind, Ihren Hohn ausſchuͤtten. So meinen Sie es 
ja wohl?“ 

„Von Hohn iſt nicht die Rede, ſondern von einem Proteſte 
gegen dieſen Brauch. Ich habe dabei ein nuͤtzliches Ziel im Auge. 
Ich kann dadurch indirekt die Entwicklung der Menſchheit und 
die Propaganda foͤrdern. Jeder Menſch hat die Pflicht, die 
geiſtige Entwicklung ſeiner Mitmenſchen zu foͤrdern und Pro— 
paganda zu treiben, und je energiſcher er es tut, um ſo beſſer 
ift es. Ich kann eine Idee wie ein Samenkorn hinſtreuen ... 
Aus dieſer geſaͤten Idee erwaͤchſt dann etwas Tatſaͤchliches. In— 
wiefern kraͤnke ich da die Leute? Und wenn ſie ſich auch zu— 
naͤchſt gekraͤnkt fühlen, fo werden fie nachher doch einſehen, daß 
ich ihnen Nutzen gebracht habe. So wollten manche ſeinerzeit 
dem Fraͤulein Terebjewa (ſie iſt jetzt Mitglied einer Kommune) 
einen Vorwurf machen ; als dieſe nämlich von ihrer Familie fort— 
ging und ... ſich einem Manne hingab, da ſchrieb fie ihrer Mutter 
und ihrem Vater, ſie wolle nicht mehr in veralteten, ſinnloſen 
Anſchauungen weiterleben und gehe eine freie Ehe ein. Da 
meinten nun die Tadler, das ſei doch gar zu grob den Eltern 
gegenuͤber, und ſie haͤtte mit ihnen etwas ruͤckſichtsvoller ver— 
fahren und in milderem Tone ſchreiben koͤnnen. Meiner Anſicht 
nach iſt das alles Unſinn; Milde iſt dabei gar nicht angebracht, 
ſondern vielmehr energiſcher Proteſt. Da ſehen Sie einmal, wie 
es Frau Warenz machte! Sieben Jahre lang hatte ſie mit ihrem 
XIX. se. 


562 Schuld und Suͤhne 


Manne zuſammen gelebt; da verließ ſie ihn und ihre zwei Kinder 
und ſchrieb ihrem Manne in einem Briefe eine kraͤftige Abſage: 
Ich bin zu der Einſicht gelangt, daß ich mit Ihnen nicht gluͤck⸗ 
lich ſein kann. Ich werde es Ihnen nie verzeihen, daß Sie mich 
betrogen haben, indem Sie mir verheimlicht haben, daß es dank 
den Kommunen noch eine andre Geſellſchaftsordnung gibt. Ich 
habe das alles vor kurzem von einem hochgeſinnten Manne er— 
fahren, dem ich mich auch zu eigen gegeben habe, und mit ihm 
zuſammen will ich eine Kommune gruͤnden. Ich rede ganz offen, 
weil ich es fuͤr ehrlos halte, Sie zu betruͤgen. Meinerſeits haben 
Sie voͤllige Freiheit, zu tun, was Sie moͤgen; aber hoffen Sie 
nicht, mich zur Ruͤckkehr zu bewegen; damit iſt es fuͤr Sie zu ſpaͤt. 
Leben Sie gluͤcklich!' In dieſem Stil muͤſſen derartige Briefe 
geſchrieben werden.“ 

„Dieſes Fraͤulein Terebjewa iſt doch dieſelbe, von der Sie neu— 
lich erzählten, daß fie ſchon in der dritten freien Ehe lebe?“ 

„Streng genommen erſt in der zweiten! Aber wenn ſie ſelbſt 
in der vierten oder in der fuͤnfzehnten freien Ehe lebte! Das iſt 
ja alles Nebenſache! Und wenn ich es jemals bedauert habe, daß 
mein Vater und meine Mutter geſtorben ſind, ſo bedauere ich es 
jedenfalls jetzt ganz beſonders. Ich habe mir das ſchon manchmal 
ſo im ſtillen ausgemalt, wie ich ſie, wenn ſie noch am Leben 
mären, mit meinem Proteſte verbluͤffen wollte! Ich hätte аб: 
ſichtlich einen Anlaß geſucht. Ich wuͤrde ihnen die Sache ſchon 
klargemacht haben! Ich haͤtte ſie in Erſtaunen verſetzt! Es iſt 
wirklich jammerſchade, daß ich niemand mehr habe!“ 

„Um ihn in Erſtaunen zu verſetzen? He-he! Na, daruͤber wollen 
wir nicht ſtreiten,“ unterbrach ihn Peter Petrowitſch. „Sagen 
Sie mir lieber: Sie kennen ja die Tochter des Verſtorbenen, 
ſo ein kümmerliches, duͤrftiges Ding; iſt das alles richtig, was 
über fie erzählt wird, ja?“ 


Fünfter Teil 563 


„Nun, was Ш denn dabei? Nach meiner Anficht, das heißt nach 
meiner perſoͤnlichen Überzeugung, iſt das fuͤr eine Frau der 
eigentlich normale Zuſtand. Warum auch nicht? Das heißt: di— 
stinguons! In der jetzigen Geſellſchaftsordnung И dieſer Зи: 
ſtand ſelbſtverſtaͤndlich nicht normal, weil er durch eine Notlage 
herbeigefuͤhrt wird; aber in der kuͤnftigen Geſellſchaftsordnung 
wird er voͤllig normal ſein, weil er da ein freiwilliger iſt. Und 
auch unter jetzigen Verhaͤltniſſen hatte dieſes Maͤdchen ein Recht, 
ſo zu handeln, wie ſie gehandelt hat: ſie litt Not, und ihr Koͤrper 
war ihr Fonds, ſozuſagen ihr Anlagekapital, uͤber das ſie voll— 
ſtaͤndig berechtigt war zu verfuͤgen. Natuͤrlich in der kuͤnftigen 
Geſellſchaftsordnung werden keine Fonds nötig fein; ſondern 
die Stellung der Frau wird anderweitig feſtgeſetzt und in har— 
moniſcher, vernunftgemäßer Weiſe geregelt ſein. Was Sofja 
Semjonowna perjönlich anlangt, jo betrachte ich unter den gegen: 
waͤrtigen Umſtaͤnden ihre Handlungsweiſe als einen energifchen, 
zur Tat gewordenen Proteſt gegen die beſtehende Geſellſchafts— 
ordnung und empfinde vor ihr große Hochachtung deswegen; 
ich freue mich ſogar jedesmal, wenn ich ſie ſehe!“ 

„Mir iſt aber doch erzählt worden, gerade Sie hätten fie де: 
zwungen, aus dieſer Wohnung fortzuzie hen!“ 

Lebeſjatnikow wurde ganz wuͤtend. 

„Das iſt wieder nur ſo eine Klatſcherei!“ ſchrie er. „Die Sache 
war ganz anders, ganz anders! Das hat alles Katerina Iwa— 
nowna damals nur ſo hingeſchwatzt, weil ſie fuͤr meine Be— 
ſtrebungen kein Verſtaͤndnis hatte! Ich bin ganz und gar nicht 
zudringlich gegen Sofja Semjonowna geworden; ich habe ledig— 
lich ihre geiſtige Entwicklung zu foͤrdern geſucht, in ganz uneigen— 
nuͤtziger Weiſe, und habe mich bemuͤht, in ihr den Proteſt zu er— 
wecken. Ich zielte nur auf den Proteſt ab; uͤbrigens konnte Sofja 
Semjonowna ſowieſo in dieſer Wohnung nicht länger bleiben!“ 


** 


564 Schuld und Sühne 


„Haben Sie ſie zum Eintritt in die Kommune aufgefor— 
dert!“ 

„Sie ſpotten fortwaͤhrend; geſtatten Sie mir aber die Be— 
merkung, daß Ihr Spott bei mir durchaus feine Wirkung ver— 
fehlt. Sie verſtehen eben nichts davon! Derartige Berufe fuͤr 
Frauen gibt es in der Kommune nicht. Eben deshalb werden 
die Kommunen gegruͤndet, damit es ſolche Berufe nicht mehr 
gibt. In der Kommune wird dieſer Beruf ſeinen geſamten 
jetzigen Charakter veraͤndern, und was hier dumm iſt, wird dort 
vernünftig fein; was hier unter den jetzigen Verhaͤltniſſen un: 
natürlich iſt, das wird dort durchaus natürlich fein. Es hängt 
alles davon ab, in welcher Umgebung und in welchem Milieu 
ein Menſch lebt. Alles haͤngt von dem Milieu ab; an ſich iſt der 
Menſch nichts, weder gut noch ſchlecht. Mit Sofja Semjonowna 
ſtehe ich mich auch jetzt noch ganz freundſchaftlich, was Ihnen 
als Beweis dafuͤr dienen kann, daß ſie mich nicht als ihren Feind 
und Beleidiger betrachtet hat. Ich ſuche fie jetzt für eine Kom: 
mune zu gewinnen, die aber nach ganz, ganz andern Prinzipien 
eingerichtet werden ſoll! Was iſt Ihnen denn daran laͤcherlich? 
Wir wollen eine eigene, beſondere Kommune gruͤnden, aber auf 
breiteren Grundlagen als die fruͤheren. Wir ſind in unſern An⸗ 
ſchauungen weiter vorgeſchritten. Wir negieren mehr! Wenn 
Dobroljubow“ aus dem Grabe auferſtaͤnde, würde ich gern 
einmal mit ihm diſputieren. Und nun gar Bjelinſki **, na, den 
wuͤrde ich mir ſchoͤn vornehmen! Vorlaͤufig aber fahre ich fort, 
an Sofja Semjonownas geiſtiger Entwicklung zu arbeiten. Sie 
iſt ein herrliches, herrliches Weſen!“ 


* Dobroljubow, geb. 1836, geſt. 1861, liberaler Kritiker und Publi⸗ 
ИП. Anmerkung des Überſetzers. 

** Bjelinſki, geb. 1811, geſt. 1848, namentlich Literarhiſtoriker und 
Philoſoph. Anmerkung des Überſetzers. 


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Fünfter Teil 565 


„Na, und Sie machen ſich dieſes herrliche Weſen auch zunutze, 
wie? He⸗he!“ 

„Nein, nein! O nein! Im Gegenteil!“ 

„Na, na, alſo ſogar im Gegenteil! He-he-he! Sehr ſchoͤn ge: 
ſagt!“ 

„Sie koͤnnen es mir glauben! Weshalb ſollte ich denn vor Ihnen 
heimlich tun, ſagen Sie ſelbſt! Wirklich im Gegenteil; es kommt 
mir ſogar ſelbſt ſonderbar vor: mir gegenuͤber iſt ſie von einer 
unnatuͤrlichen, aͤngſtlichen Schamhaftigkeit und Keuſchheit!“ 

„Und Sie foͤrdern ſelbſtverſtaͤndlich ihre geiſtige Entwicklung, 
he⸗he, und beweiſen ihr, daß dieſe ganze Schamhaftigkeit Un— 
ſinn iſt?“ 

„Durchaus nicht, durchaus nicht! O, in wie plumper, törichter 
Weiſe — verzeihen Sie den Ausdruck! — Sie das Wort Ent— 
wicklung auffaſſen! Sie haben aber auch gar kein, rein gar kein 
Verſtaͤndnis! O Gott, was ſind Sie noch unreif! Wir erſtreben 
fuͤr das Weib die Freiheit, und Sie denken immer nur an das 
eine .. . Ich will mich auf die Streitfrage über Keuſchheit und 
weibliche Schamhaftigkeit nicht weiter einlaſſen (dieſe Dinge 
haben an und fuͤr ſich keinen Wert und beruhen auf vorgefaßten 
Meinungen); aber ich habe gegen Sofja Semjonownas Keuſch— 
heit mir gegenüber abſolut nichts einzuwenden; das iſt Suche 
ihres freien Willens, fie iſt da vollftändig in ihrem Rechte Natür: 
lich, wenn fie ſelbſt zu mir ſagte: ‚ich will dich haben,“ jo würde 
ich meinen, daß mir ein großes Gluͤck zugefallen ſei, weil das 
Maͤdchen mir wirklich ſehr gefaͤllt; aber ſicherlich hat niemals 
jemand ſie hoͤflicher und artiger und mit mehr Achtung vor ihrer 
weiblichen Würde behandelt, als ich es jetzt tue ... Ich warte 
und hoffe nur; weiter gehe ich nicht!“ 

„Sie ſollten ihr lieber etwas ſchenken. Ich moͤchte darauf 
wetten, daß Sie daran noch nicht gedacht haben.“ 


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566 Schuld und Suͤhne 


„Sie haben aber EN? gar kein Verſtaͤndnis; das kann ich Ihnen 
nur wiederholen. Gewiß, ihre Lage iſt ja derart, daß ſie Ge— 
ſchenke gebrauchen koͤnnte; aber hier handelt es ſich um etwas 
andres, um etwas ganz andres. Sie verachten das Maͤdchen ein— 
fach. Weil Sie eine Tatſache ſehen, die Sie irrtuͤmlicherweiſe fuͤr 
ve rachtenswert halten, verſagen Sie ohne weiteres einem menſch—⸗ 
lichen Weſen eine humane Wuͤrdigung. Sie wiſſen noch gar nicht, 
was fuͤr einen trefflichen Charakter ſie hat! Sehr leid tut mir 
nur, daß ſie in der letzten Zeit ſo gut wie ganz aufgehoͤrt hat zu 
leſen und ſich von mir keine Buͤcher mehr geben laͤßt, was ſie 
doch fruͤher tat. Schade iſt auch, daß ſie bei all ihrer Energie und 
bei ihrer bereits einmal bewieſenen Entſchloſſenheit, gegen die 
beſtehende Geſellſchaftsordnung zu proteftieren, doch immer noch 
nicht genug Selbſtaͤndigkeit, ſozuſagen nicht genug Unabhaͤngig— 
keit, nicht genug Drang zum Negieren beſitzt, um ſich von ge— 
wiſſen vorgefaßten Anſchauungen und Dummheiten voͤllig los— 
zureißen. Wiewohl fie für manche Fragen ein vorzuͤgliches Ver: 
ſtaͤndnis bekundet. Ganz vorzüglich hat fie zum Beiſpiel die Frage 
des Handkuſſes begriffen, das heißt, daß der Mann eine Frau, wenn 
er ihr die Hand ВЕ, beleidigt, weil er fie dadurch als ihm nicht 
gleichſtehend bezeichnet. Über dieſe Frage wurde bei uns debattiert, 
und ich habe ihr ſofort davon Mitteilung gemacht. Auch als ich ihr 
etwas uͤber die Arbeiteraſſoziationen in Frankreich vortrug, hoͤrte 
ſie aufmerkſam zu. Jetzt behandle ich mit ihr die Frage des freien 
Eintritts in die Zimmer unter derkuͤnftigen en chaftsordnung.“ 

„Was ſoll das heißen?“ 

„Es wurde in letzter Zeit uͤber die Frage debattiert: iſt ein 
Kommunemitglied berechtigt, jederzeit in das Zimmer eines an⸗ 
dern — männlichen oder weiblichen — Kommunemitgliedes ein⸗ 
zutreten? Und wir kamen zu der Entſcheidung, daß jedes Mit⸗ 
glied dazu berechtigt ſei.“ 


Fünfter Teil 567 


„Na, aber wenn nun das betreffende männliche oder weibliche 
Mitglied gerade in dem Augenblicke mit Erledigung eines not— 
wendigen Beduͤrfniſſes beſchaͤftigt iſt? He-he!“ 

Andrei Semjonowitſch wurde ganz aͤrgerlich. 

„Ja, das bringen Sie jedesmal vor! Immer kommen Sie mir 
mit ein und demſelben, mit dieſen verdammten ‚Beduͤrfniſſen“!“ 
rief er ingrimmig. „Ich aͤrgere mich und bereue es, daß ich da— 
mals, als ich Ihnen das Syſtem auseinanderſetzte, verfruͤht dieſe 
verdammten Beduͤrfniſſe erwaͤhnte! Das iſt immer fuͤr Leute 
von Ihrem Schlage der Stein des Anſtoßes, und das Schlimmſte 
iſt: ſie machen ihre Witze daruͤber, ehe ſie den Kern der Sache 
begriffen haben! Und dann tun ſie noch, als wenn ſie recht haͤtten 
und ſtolz fein koͤnnten! Ich habe ſchon wiederholentlich die Эт: 
ſicht vertreten, daß man Neulingen dieſe ganze Frage erſt ganz 
zuletzt auseinanderſetzen kann, wenn ſie bereits von der Richtig— 
keit des Syſtems uͤberzeugt ſind und eine gewiſſe geiſtige Ent— 
wicklung erreicht haben und ſich auf dem rechten Wege be— 
finden. Ja, ſagen Sie mir doch, bitte, was finden Sie denn zum 
Beiſpiel an einer Apartementsgrube Ekelhaftes oder Gemeines? 
Ich erklaͤre mich als erſter bereit, alle Apartementsgruben, ſo 
viele Sie nur wollen, auszuraͤumen! Da iſt auch nicht einmal 
irgendwelche Selbſtaufopferung dabei! Das iſt einfach eine Ar— 
beit, eine anſtaͤndige, der Geſellſchaft nuͤtzliche Taͤtigkeit, die jeder 
andern an Wert gleichkommt und zum Beiſpiel weit hoͤher ſteht 
als die Tätigkeit eines Raffael oder Puſchkin, weil ſie nuͤtzlicher 
iſt.“ 

„Auch anſtaͤndiger, auch anſtaͤndiger, he-he-he!“ 

„Was heißt ‚anftändiger‘? Ich verſtehe ſolche Ausdruͤcke nicht, 
wenn es ſich um die Definition menſchlicher Taͤtigkeiten handelt. 
„Anſtaͤndiger“, ‚edler‘, das Ш lauter Unſinn, Abgeſchmacktheit, 
veraltete, törichte Worte, die ich negiere! Alles, was der Menſch— 


568 Schuld und Sühne 


heit nuͤtzlich iſt, iſt auch anftändig. Ich laſſe nur das eine Wort 
‚nüßlich‘ gelten! Kichern Sie, fo viel Sie wollen; es iſt doch fo!" 

Peter Petrowitſch lachte laut. Er war mit ſeinen Berechnun— 
gen bereits fertig und hatte das Geld verwahrt; jedoch hatte er 
einen Teil desſelben noch auf dem Tiſche liegen gelaſſen. Die 
Frage der Apartementsgruben hatte trotz ihrer Abſurditaͤt ſchon 
mehrmals Anlaß zu Meinungsverſchiedenheiten und Streit zwi— 
ſchen Peter Petrowitſch und ſeinem jungen Freunde gegeben. 
Sehr dumm war es von Andrei Semjonowitſch, daß er ſich Ча 
ſaͤchlich aͤrgerte. Daruͤber hatte nun Luſchin ſeine wahre Freude, 
und gerade jetzt legte er es beſonders darauf an, Lebeſjatnikow 
wuͤtend zu machen. 

„Die Sache iſt die: Sie ſind wegen Ihres geſtrigen Malheurs 
grimmig und ſuchen nun Haͤndel,“ brach Lebeſjatnikow endlich 
los, der im allgemeinen trotz all ſeiner „Unabhaͤngigkeit“ und 
all ſeiner „Proteſte“ es nicht recht wagte, Peter Petrowitſch 
Oppoſition zu machen, und noch immer von fruͤheren Jahren 
her ihm gegenuͤber einen gewohnheitsmaͤßigen Reſpekt beob⸗ 
achtete. 

„Sagen Sie mir lieber,“ unterbrach ihn Peter Petrowitſch 
hochmuͤtig und aͤrgerlich, „koͤnnen Sie ... oder, beſſer ausge⸗ 
druͤckt, по Sie wirklich mit der vorhin erwähnten jungen Per: 
ſon ſo gut bekannt, daß Sie ſie bitten koͤnnen, jetzt gleich auf einen 
Augenblick in dieſes Zimmer zu kommen? Ich glaube, ſie ſind 
ſchon alle vom Kirchhofe zuruͤck ... Ich höre fo viel gehen... . 
Ich moͤchte gern einmal mit ihr ſprechen, mit dieſer Perſon.“ 

„Was wollen Sie denn von ihr?“ fragte Lebeſjatnikow ver⸗ 
wundert. 

„Weiter nichts Beſonderes. Heute oder morgen ziehe ich aus 
dieſer Wohnung weg, und da moͤchte ich ihr noch etwas mit— 
teilen. Übrigens koͤnnen Sie ruhig während dieſes Gefprächs hier 


Fünfter Zeil 569 


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im Zimmer bleiben. Es Ш ſogar beſſer. Sonſt denken Sie ſich 
womoͤglich noch Gott weiß was.“ 

„Ich denke mir einfach gar nichts. Es war von mir nur eine 
ganz harmloſe Frage. Wenn Sie ihr etwas zu ſagen haben, ſo 
iſt nichts leichter, als ſie herzurufen. Ich will ſofort zu ihr gehen. 
Ich ſelbſt werde Sie bei dem Geſpraͤche nicht ſtoͤren; davon 
wollen Sie uͤberzeugt ſein.“ 

Wirklich kehrte Lebeſjatnikow nach fuͤnf Minuten mit Sofja 
zuruͤck. Dieſe trat aͤußerſt erſtaunt und, wie das in ihrer Gewohn— 
heit lag, ſehr ſchuͤchtern ein. Sie war bei ſolchen Gelegenheiten 
ſtets ſchuͤchtern und fuͤrchtete ſich in hohem Grade vor neuen Ge— 
ſichtern und neuen Bekanntſchaften; dieſe Furcht war ihr ſchon 
fruͤher, ſchon in ihrer Kindheit, eigen geweſen, hatte aber jetzt 
noch zugenommen . .. Peter Petrowitſch empfing fie „freund: 
lich und höflich” und mit einem Anfluge von jovialer Vertrau— 
lichkeit, die nach ſeiner Anſicht einem ſo achtungswerten, ge— 
ſetzten Manne, wie er, wohl anſtand gegenuͤber einem ſo jungen 
und in gewiſſer Hinſicht „intereſſanten“ Weſen, wie ſie. Vor 
allen Dingen bemuͤhte er ſich, ſie zu „ermutigen“, und lud ſie 
ein, an dem Tiſche ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sofia ſetzte 
ſich, ließ ihre Blicke nach allen Seiten herumgehen, zu Lebeſjat— 
nikow, zu dem Gelde, das auf dem Tiſche lag, dann wieder zu 
Peter Petrowitſch und wandte nun die Augen nicht mehr von 
ihm ab, als ob ſie an ihn angeſchmiedet waͤre. Lebeſjatnikow 
ging zur Tuͤr; aber Peter Petrowitſch ſtand auf, bedeutete Sofja 
durch eine Geſte, ſitzen zu bleiben, und hielt Lebeſjatnikow in der 
Tuͤr zuruͤck. 

„Iſt dieſer Raſkolnikow dort? Iſt er gekommen?“ fragte er 
ihn fluͤſternd. 

„Raſkolnikow? Ja, der iſt da. Wieſo? Ja, da iſt er. Er iſt 
eben erſt gekommen; ich habe ihn geſehen. Wieſo?“ 


570 Schuld und Suͤhne 


„Nun, dann moͤchte ich Sie dringend bitten, hier zu bleiben, hier 
bei uns, und mich nicht mit dieſer ... jungen Dame allein zu 
laſſen. Was ich mit ihr zu reden habe, iſt nur eine harmloſe 
Kleinigkeit; aber ſonſt machen die Leute womoͤglich Gott weiß 
was daraus. Ich moͤchte nicht, daß Raſkolnikow ſeinen Ange— 
hoͤrigen etwas erzählen koͤnnte ... Verſtehen Sie, was ich 
meine?“ 

„Gewiß, gewiß!“ erwiderte Lebeſjatnikow verſtaͤndnisvoll. „Ja, 
Sie haben ganz recht. Allerdings gehen Sie, nach meiner per— 
ſoͤnlichen Überzeugung, in Ihren Befuͤrchtungen zu weit; aber 

Sie haben trotzdem recht. Alſo, wenn Sie es wuͤnſchen, fo 
bleibe ich. Ich ſtelle mich dort ans Fenſter und werde Sie nicht 
ſtoͤren ... Meiner Anſicht nach haben Sie recht ...“ 

Peter Petrowitſch kehrte zum Sofa zuruͤck, ſetzte ſich Sofja 
gegenuͤber, richtete einen forſchenden Blick auf ſie und nahm 
auf einmal eine ganz beſonders ehrbare, ſogar etwas ſtrenge 
Miene an, die ungefaͤhr bedeutete: „Machen Sie ſich nur nicht 
etwa ganz falſche Gedanken, mein Fraͤulein!“ Sofja wurde 
hoͤchſt verlegen. 

„Zunaͤchſt möchte ich Sie bitten, боба Semjonowna, mich bei 
Ihrer hochverehrten Frau Mutter zu entſchuldigen .. . Ich bin 
doch wohl recht berichtet? Katerina Iwan owna vertritt bei Ihnen 
Mutterſtelle?“ begann Peter Petrowitſch in ſehr wuͤrdigem, aber 
dabei doch ganz freundlichem Tone. 

Augenſcheinlich hegte er die freundſchaftlichſten Abſichten. 

„Ja gewiß, gewiß; ſie vertritt bei mir Mutterſtelle,“ antwortete 
Sofja haſtig und furchtſam. 

„Nun alſo, dann entſchuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch 
zwingende Umſtaͤnde behindert bin, an dem Gedaͤchtnismahle 
teilzunehmen, zu welchem Ihre Frau Mutter mich fo liebens— 
wuͤrdig eingeladen hat.“ 


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Fünfter Teil 571 


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„Jawohl, . .. ich werde es ausrichten, . .. ich werde es gleich 
ausrichten.“ Sofja ſprang eilig von ihrem Stuhle auf. 

„Ich bin noch nicht zu Ende,“ hielt Peter Petrowitſch ſie zu— 
ruͤck und lächelte über ihre Naivität und über ihre Unkenntnis 
der Umgangsformen. „Sie kennen mich ſchlecht, liebſte Sofja 
Semjonowna, wenn Sie glauben, daß ich aus dieſem unbedeuten— 
den, nur mich betreffenden Grunde jemand wie Sie perſoͤnlich 
bemüht und hergebeten hätte. Mein Zweck war ein anderer.“ 

Sofja nahm eilig wieder Platz. Wieder fiel ihr Blick einen 
Augenblick auf die grauen und regenbogenfarbigen Banknoten, 
die noch auf dem Tiſche lagen; aber ſchnell wandte ſie das Ge— 
ſicht von ihnen weg und ſah wieder Peter Petrowitſch an; es 
kam ihr auf einmal der Gedanke, daß es ſich, namentlich fuͤr ein 
Maͤdchen wie ſie, ganz und gar nicht ſchicke, fremdes Geld anzu— 
blicken. Sie richtete ihren Blick zunaͤchſt auf die goldne Lorgnette, 
die Peter Petrowitſch in der linken Hand hielt, und zugleich auf 
den großen, maſſiv goldenen, ſehr ſchoͤnen Ring mit gelbem Stein, 
den er am Mittelfinger dieſer Hand trug; aber haſtig wendete 
ſie ihre Augen auch davon ab, und da ſie nicht wußte, wo ſie 
mit ihren Blicken bleiben ſollte, ſchaute ſie ſchließlich ihrem Gegen— 
uͤber wieder gerade ins Geſicht. Nach einer kurzen Pauſe fuhr 
Peter Petrowitſch in noch wuͤrdevollerem Tone als vorher fort: 

„Es traf ſich geſtern zufällig, daß ich im Vorbeigehen mit der 
ungluͤcklichen Katerina Iwanowna ein paar Worte wechſelte. 
Dieſe wenigen Worte genuͤgten, um mich erkennen zu laſſen, 
daß ſie ſich in einem, wenn man ſich ſo ausdruͤcken kann, un— 
natürlichen Geiſteszuſtande befindet ...“ 

„Jawohl, in einem unnatürlichen Geiſteszuſtande,“ ſtimmte 
ihm Sofja eilig bei. 

„Oder, um es einfacher und verſtaͤndlicher auszudruͤcken, in 
einem krankhaften Geiſteszuſtande.“ 


572 Schuld und Sühne 


„Ganz richtig. Nun alſo, aus Menſchenfreundlichkeit und ... 
und . . . und ſozuſagen aus Teilnahme, möchte ich mich gern 
meinerſeits irgendwie hilfreich zeigen, im Hinblick auf das trau= 
rige Schickſal, das ihr unvermeidlich bevorſteht. Ich moͤchte 
glauben, daß dieſe ganze arme Familie ſich jetzt einzig und allein 
auf Ihre Unterſtuͤtzung angewieſen ſieht.“ 

„Geſtatten Sie die Frage,“ ſagte Sofja und ſtand dabei plöß- 
lich auf, „was haben Sie ihr geſtern uͤber die Moͤglichkeit, eine 
Penſion zu bekommen, geſagt? Sie hat geſtern zu mir geſagt, 
Sie haͤtten es auf ſich genommen, ihr eine Penſion zu erwirken. 
Iſt das richtig?“ 

„Durchaus nicht; das iſt ſogar in gewiſſer Hinſicht ſinnlos,“ 
erwiderte Peter Petrowitſch und winkte ihr, ſich wieder zu ſetzen. 
„Ich habe nur darauf hingedeutet, daß die Witwe eines im Dienſt 
geſtorbenen Beamten eine zeitweilige Unterſtuͤtzung erhalten 
koͤnne, wenn ſie irgendwelche Protektion habe; es ſcheint jedoch, 
daß Ihr verſtorbener Vater nicht das erforderliche Dienſtalter 
hatte, ja ſogar in der letzten Zeit ſich überhaupt nicht im Dienſte 
befand. Kurz, es mag wohl einige Ausſicht da fein, aber jeden⸗ 
falls iſt ſie aͤußerſt problematiſch; denn ein Recht auf Unter— 
ſtuͤtzung iſt im vorliegenden Falle ganz und gar nicht vorhanden; 
im Gegenteil . . . Und da hat fie gleich auf eine Penſion ſpe⸗ 
kuliert? He-he-he! Die Dame muß ja eine rege Phantaſie haben!“ 

„Ja, ſie hat ſich Hoffnung auf eine Penſion gemacht. Sie iſt 
naͤmlich leichtglaͤubig und gutherzig, und aus Gutherzigkeit glaubt 
Пе alles, und ... und . . . und ihr Verſtand ift ſo ... Ja, dann 
entſchuldigen Sie,“ ſagte Sofja und ſtand wieder auf, um fort: 
zugehen. 

„Erlauben Sie, Sie haben noch nicht alles gehoͤrt, was ich 
ſagen wollte.“ 


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Fünfter Teil 573 


„Ja, ich habe noch nicht alles gehört,“ murmelte Sofia. 

„Alſo nehmen Sie doch Platz!“ 

Sofja wurde entſetzlich verlegen und ſetzte ſich nochmals wieder 
hin. 

„Da ich ſehe, in welcher Lage ſie ſich mit den ungluͤcklichen 
kleinen Kindern befindet, ſo moͤchte ich, wie bereits geſagt, mich 
nach dem Maße meiner Kraͤfte irgendwie hilfreich zeigen, das 
heißt, eben nur, was man ſo nennt, nach dem Maße meiner 
Kraͤfte, nicht in weiterem Umfange. Man koͤnnte zum Beiſpiel 
zu ihren Gunſten eine Kollekte veranſtalten oder ſozuſagen eine 
Lotterie ... oder fo etwas Ähnliches, wie dergleichen immer 
in ſolchen Faͤllen von Naheſtehenden oder auch von Ferner— 
ſtehenden, uͤberhaupt von Hilfsbereiten unternommen wird. Das 
iſt es, woruͤber ich gern mit Ihnen reden wollte. So etwas waͤre 
moͤglich.“ 

„Ach ja, das wäre ſchoͤn ... Gott wird Sie dafuͤr ... ſtammelte 
Sofja und blickte Peter Petrowitſch unverwandt an. 

„Das wäre möglich; aber . .. daruͤber koͤnnen wir ſpaͤter ет: 
mal. . . das heißt, wir koͤnnten auch gleich heute ſchon anfangen. 
Wir wollen heute abend noch einmal zuſammenkommen, uns 
beſprechen und ſozuſagen den Grund legen. Kommen Sie alſo 
ſo gegen ſieben Uhr wieder zu mir hierher. Ich hoffe, Andrei 
Semjonowitſch wird gleichfalls an unſrer Beratung teilnehmen. 
. . . Aber . . . da iſt ein Punkt, der ſchon vorher genau erwogen 
werden muß; und eben deshalb habe ich Sie auch hierher be— 
muͤht, Sofja Semjonowna. Naͤmlich meine Anſicht iſt die: der 
ungluͤcklichen Katerina Iwanowna ſelbſt kann man kein Geld in 
die Haͤnde geben; das iſt ſogar geradezu gefaͤhrlich; als Beweis 
dafuͤr dient gleich das heutige Gedaͤchtnismahl. Es iſt fuͤr morgen 
ſozuſagen keine trockene Brotrinde da, kein Schuhzeug, nichts, — 
aber trotzdem kauft ſie heute Jamaikarum ein und Madeira 


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574 Schuld und Suͤhne 


und ... und . . . und Kaffee. Ich habe es geſehen, als ich durch 
das Zimmer hindurchging. Morgen aber faͤllt wieder die ganze 
Laſt des Unterhaltes der Familie auf Ihre Schultern, und ohne 
Sie haͤtten ſie keinen Biſſen Brot. Ein ſolches Verfahren iſt ja 
geradezu ſinnlos. Daher muß auch eine etwaige Kollekte nach 
meiner perſoͤnlichen Anſicht in der Weiſe veranſtaltet werden, 
daß von dem Gelde die ungluͤckliche Witwe gar nichts erfaͤhrt, 
ſondern etwa nur Sie. Habe ich nicht recht?“ 

„Ich weiß nicht. Es iſt ja nur heute, daß fie fo iſt, . . . nur ein- 
mal im Leben; . . . es lag ihr fo viel daran, ein Gedaͤchtnismahl 
zu veranſtalten, dem Toten eine Ehre zu erweiſen, ſein Andenken 
zu feiern; . . . fie iſt ſonſt ſehr vernünftig. Aber machen Sie es 
ganz, wie es Ihnen gut ſcheint, und ich werde Ihnen ſehr, ſehr, 
. . . fie alle werden Ihnen . .. und Gott wird Sie... und 
die vaterloſen Kinderchen ...“ 

Sofja konnte nicht zu Ende ſprechen; fie brach in Tränen aus: 

„Nun ja. Alſo dann uͤberlegen Sie ſich das; jetzt aber wollen 
Sie fuͤr Ihre Mutter zunaͤchſt von mir perſoͤnlich eine meinen 
Kraͤften entſprechende Summe entgegennehmen. Ich ſpreche 
die dringende Bitte aus, daß mein Name dabei nicht erwaͤhnt 
werden möge. Hier, bitte ... Da ich ſozuſagen ſelbſt meine 
Sorgen habe, bin ich nicht imftande eine größere Summe ...“ 

Und Peter Petrowitſch reichte Sofja einen Zehnrubelſchein 
hin, den er ſorgſam auseinandergefaltet hatte. Sofja nahm ihn, 
wurde rot, murmelte etwas und verabſchiedete ſich haſtig. Peter 
Petrowitſch begleitete ſie wuͤrdevoll bis an die Tuͤr. Endlich 
ſchluͤpfte ſie ganz aufgeregt und abgemattet aus dem Zimmer 
und kehrte in größter Verwirrung zu Katerina Iwanowna zurüd, 

Waͤhrend dieſes ganzen Vorganges hatte Andrei Semjono— 
witſch bald am Fenſter geſtanden, bald war er im Zimmer auf 
und ab gegangen, ohne ſich in das Geſpraͤch hineinzumiſchen; 


Fünfter Teil 575 


als Sofja hinausgegangen war, trat er auf Peter Petrowitſch 
zu und reichte ihm feierlich die Hand. 

„Ich habe alles gehoͤrt und alles geſehen,“ ſagte er, wobei er 
auf das letzte Wort einen beſonderen Nachdruck legte. „Das war 
edel und vornehm von Ihnen gehandelt, das heißt, ich wollte 
fagen, human! Sie wollten die Dankſagungen vermeiden; ich 
habe es wohl geſehen! Und wiewohl ich, offen geftanden, grund: 
ſaͤtzlich kein Freund der privaten Wohltaͤtigkeit bin, weil ſie, ſtatt 
das Übel auszurotten, es ſogar noch ſteigert, ſo muß ich trotzdem 
bekennen, daß ich Ihre Handlungsweiſe mit Vergnuͤgen mit an— 
geſehen habe; ja, wirklich, das hat mir ſehr gefallen.“ 

„Ach, dummes Zeug!“ murmelte Peter Petrowitſch etwas auf— 
geregt und blickte den andern forſchend an. 

„Nein, das iſt kein dummes Zeug! Ein Mann, der wie Sie 
durch den geſtrigen Vorfall gekraͤnkt und aufgebracht iſt und doch 
gleichzeitig imſtande iſt an das Ungluͤck andrer zu denken, ein 
ſolcher Mann — mag er auch durch ſein Tun in ſozialer Hinſicht 
einen Fehler begehen — verdient dennoch Hochachtung! Ich 
hatte das von Ihnen, Peter Petrowitſch, gar nicht erwartet, um 
fo weniger, da nach Ihren Anſchauungen ... Ach, wie ſehr hindern 
dieſe Ihre Anſchauungen Sie noch an richtiger Lebensgeſtaltung! 
Wie arg regen Sie ſich zum Beiſpiel uͤber dieſes geſtrige Malheur 
auf,“ rief der gutmuͤtige Andrei Semjonowitſch, der wieder eine 
verſtaͤrkte Zuneigung zu Peter Petrowitſch empfand. „Aber wo— 
zu haben Sie eigentlich dieſe Ehe, dieſe geſetzliche Ehe, ſo un— 
bedingt noͤtig, liebſter, beſter Peter Petrowitſch? Wozu haben 
Sie ſo unbedingt dieſe Geſetzlichkeit der Ehe noͤtig? Na, wenn 
Sie Luſt haben, koͤnnen Sie mich ja dafuͤr pruͤgeln; aber ich muß 
doch ſagen: ich freue mich, freue mich geradezu, daß aus dieſer 
Ehe nichts geworden iſt, daß Sie frei ſind, daß Sie noch nicht 
ganz fuͤr die Sache der Menſchheit verloren ſind; ich freue 


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576 Schuld und Sühne 
mich . . . Sehen Sie, nun habe ich Ihnen mein Herz ausge— 
ſchuͤttet!“ 


„Wozu ich die geſetzliche Ehe noͤtig habe? Weil ich keine Luſt 
habe, mir in Ihrer freien Ehe Hörner aufſetzen zu laſſen und 
fremde Kinder aufzuziehen. Darum brauche ich die geſetzliche 
Ehe,“ erwiderte Luſchin, um uͤberhaupt eine Antwort zu geben; 
es ging ihm offenbar etwas anderes ſehr im Kopfe herum und 
machte ihm ſorgliche Gedanken. 

„Kinder? Sie ſprachen von Kindern?“ fuhr Andrei Semjono— 
witſch auf, wie ein Schlachtroß, das die Kriegstrompete hoͤrt. 
„Die Kinder, ja, das iſt eine ſoziale Frage von hoͤchſter Wichtig: 
keit; ganz meine Anſicht; aber die Kinderfrage wird ſich in andrer 
Weiſe erledigen. Manche gehen ſo weit, die Kinder vollſtaͤndig 
zu negieren, wie uͤberhaupt alles, was irgendwie mit Familie 
zu tun hat. Wir koͤnnen ja uͤber die Kinder ſpaͤter einmal reden; 
beſchaͤftigen wir uns jetzt lieber zunaͤchſt mit den Hoͤrnern! Ich 
muß geſtehen, daß das ein Lieblingsthema von mir iſt. Dieſer 
haͤßliche Huſarenausdruck, welchen Puſchkin bei uns heimiſch дег 
macht hat, iſt im Woͤrterbuche der Zukunft geradezu undenkbar. 
Was ſind denn eigentlich Hoͤrner? Welche Begriffsverwirrung! 
Was fuͤr Hoͤrner? Wieſo Hoͤrner? Welcher Unſinn! Im Gegen⸗ 
teil, in der freien Ehe wird es Hoͤrner gar nicht geben! Die 
Hoͤrner ſind nur die naturgemaͤße Folge einer jeden geſetzlichen 
Ehe, ſozuſagen eine Korrektur derſelben, ein Proteſt gegen ſie, 
ſo daß ſie in dieſem Sinne durchaus nichts Erniedrigendes haben. 
Und ſollte ich jemals (nehmen wir einmal eine ſolche Abſurditaͤt 
als moͤglich an) in einer geſetzlichen Ehe leben, ſo wuͤrde ich mich 
über dieſe Hörner, von denen Sie und andre fo viel Weſen machen, 
geradezu freuen; ich würde dann zu meiner Frau ſagen: Liebe 
Frau, bisher habe ich dich nur geliebt; jetzt aber fühle ich auch 
Hochachtung vor dir, weil du einſichtsvoll genug geweſen biſt, 


Fünfter Teil 577 


— — — — 


zu proteſtieren!' Sie lachen! Das kommt daher, weil Sie nicht 
die Kraft haben, ſich von Vorurteilen loszureißen! Zum Kuckuck, 
ich begreife recht wohl, inwiefern es unangenehm iſt, in einer 
geſetzlichen Ehe betrogen zu werden; aber das iſt doch nur die 
ſchaͤndliche Folge eines ſchaͤndlichen faktiſchen Zuſtandes, durch 
welchen der Mann und die Frau in gleicher Weiſe erniedrigt 
werden. Wenn aber beim Aufſetzen der Hoͤrner alles ganz offen 
zugeht wie in der freien Ehe, dann gibt es gar keine Hoͤrner 
mehr, ſie haben keine Bedeutung mehr und verlieren auch den 
Namen Hoͤrner. Im Gegenteil, Ihre Frau liefert Ihnen nur 
einen Beweis ihrer Hochachtung, indem ſie Sie fuͤr zu vernuͤnftig 
haͤlt, als daß Sie ihr an ihrem Gluͤcke hinderlich ſein moͤchten, 
und fuͤr ſo vorgeſchritten in der geiſtigen Entwicklung, daß Sie 
ihr das Verhaͤltnis zu dem neuen Manne nicht nachtragen werden. 
Ja, in Zukunftstraͤumereien lege ich mir das manchmal ſo zu— 
recht: wenn ich mich verheiratete (ganz gleich, ob in freier oder 
in geſetzlicher Ehe), ſo wuͤrde ich ſelbſt meiner Frau einen Lieb— 
haber zufuͤhren, wenn ſie zu lange damit wartete, ſich einen an— 
zuſchaffen. ‚Liebe Frau,‘ würde ich zu ihr fagen, ‚ich liebe dich; 
aber ich wuͤnſche auch, daß du mich hochachteſt; hier ... nimm 
ihn!“ Habe ich nicht recht? Habe ich nicht recht?“ 

Peter Petrowitſch kicherte uͤber dieſe Darlegungen, aber ohne 
lebhaftere Teilnahme. Er hatte kaum zugehoͤrt. In Wirklichkeit 
hatte er ganz andre Gedanken im Kopfe, was ſelbſt Lebeſiat— 
nikow ſchließlich bemerkte. Peter Petrowitſch war in Aufregung, 
rieb ſich die Hände und überlegte. Erſt fpäter erinnerte ſich An— 
drei Semjonowitſch an alles dies und verſtand den Zuſammen— 
hang. 


XIX. 27. 


ans 


578 Schuld und Suͤhne 


II 

Es wuͤrde ſchwer ſein, genau die Urſachen anzugeben, die in 
Katerina Iwanownas verwirrtem Kopfe den Plan zu dieſem 
ſinnloſen Gedaͤchtnismahle hatten entſtehen laſſen. In der Tat 
waren darauf faſt zehn Rubel von den mehr als zwanzig ver— 
wendet worden, die fie von Raſkolnikow, eigentlich zu Marme— 
ladows Beerdigung, erhalten hatte. Vielleicht hielt es Katerina 
Iwanowna fuͤr ihre Pflicht dem Verſtorbenen gegenuͤber, ſein 
Andenken „in angemeſſener Form“ zu ehren, damit alle Mit— 
bewohner und ganz beſonders Amalia Iwanowna zu der Er— 
kenntnis kaͤmen, daß er „nicht nur nicht geringer als ſie, ſondern 
ſogar vielleicht etwas weit Beſſeres“ geweſen ſei und daß nie— 
mand von ihnen ein Recht habe, uͤber ihn die Naſe zu ruͤmpfen. 
Moͤglicherweiſe hatte am allermeiſten dazu jener beſondere Stolz 
armer Leute mitgewirkt, welcher bei gewiſſen herkoͤmmlichen 
Feierlichkeiten, die nach unſrer ganzen Lebensordnung nun ет: 
mal fuͤr alle und jeden obligatoriſch ſind, gar manchen armen 
Tropf veranlaßt, mit Aufbietung der letzten Kräfte groß zu tun 
und die letzten geſparten Groſchen dranzuwenden, um nur „nicht 
ſchlechter als andre“ zu ſein und um nur nicht von jenen andren 
„ins Gerede gebracht“ zu werden. Auch типе Katerina Jwa— 
nowna wahrſcheinlich gerade bei dieſem Anlaſſe und gerade in 
dieſem Augenblicke, wo ſie anſcheinend von aller Welt verlaſſen 
war, allen dieſen „niedrigſtehenden, abſcheulichen Mitbewohnern“ 
zu zeigen, daß ſie ſich nicht nur auf gute Lebensart verſtehe und 
Gaͤſte zu bewirten wiſſe, ſondern durch ihre Herkunft uͤberhaupt 
nicht fuͤr ein ſolches Los beſtimmt ſei, daß ſie vielmehr „in dem 
vornehmen, man koͤnnte ſogar ſagen ariſtokratiſchen Hauſe eines 
Beamten im Range eines Oberſten“ ihre Jugend verlebt habe 
und ganz und gar nicht dazu erzogen ſei, ſelbſt den Fußboden 
zu fegen und in der Nacht zerlumptes Kinderzeug zu waſchen. 


Fünfter Teil 579 


Von ſolchen Anfällen eines törichten Stolzes und einer finnlofen 
Prunkſucht werden manchmal gerade ganz arme, tiefgebeugte 
Leute heimgeſucht, und es wird dadurch mitunter bei ihnen ein 
geradezu krankhaftes, unwiderſtehliches Verlangen erregt. Übri— 
gens gehörte Katerina Iwanowna gar nicht zu dieſen Tief— 
gebeugten: die aͤußeren Umſtaͤnde konnten ihr wohl den Tod 
bringen, nicht aber ſie ſeeliſch beugen, das heißt ſie einſchuͤchtern 
und zur Unterordnung unter einen fremden Willen zwingen. | 
Außerdem fagte Sofja von ihr nicht ohne Grund, daß ihr Фей 
geſtoͤrt ſei. Ein beſtimmtes, abſchließendes Urteil war ja zwar 
daruͤber noch nicht moͤglich; aber allerdings hatte in letzter Zeit, 
im ganzen letzten Jahre, ihr armes Hirn zu viel Qualen auszu— 
ſtehen gehabt, als daß es nicht dadurch einigen Schaden hätte er: 
leiden muͤſſen. Auch traͤgt, wie die Arzte ſagen, eine ſtark vorge— 
ſchrittene Schwindſucht zur Stoͤrung der geiſtigen Faͤhigkeiten bei. 
Weine in der Mehrzahl, verſchiedene Sorten Wein, waren 
nicht vorhanden, auch kein Madeira; das war von Luſchin eine 
Übertreibung geweſen; aber Wein war da. Auf dem Tiſche ſtand 
Branntwein, Rum und Liſſaboner Wein, alles von ſchlechteſter 
Qualitaͤt, aber in ausreichender Menge. An Speiſen waren außer 
Kutja * drei oder vier Gerichte vorhanden, darunter auch Pfann— 
kuchen , alles aus der Küche der Wirtin Amalia Iwanowna; 
außerdem waren zwei Samowars zugleich aufgeſtellt, da es nach 
dem Eſſen Tee und Punſch geben ſollte. Die Einkaͤufe hatte 
Katerina Iwanowna felbft mit Hilfe eines andern Mieters be: 
ſorgt, eines verkommenen kleinen Polen, der, weiß Gott warum, 
bei Frau Lippewechſel wohnte. Dieſer hatte ſich ſofort bereit 


Ein bei Gedaͤchtnismahlen uͤbliches Gericht; ſiehe S. 86. 
Anmerkung des Überſetzers. 
Gleichfalls bei Gedaͤchtnismahlen herkoͤmmlich. 3 
Anmerkung des Überſetzers 


* 
rr 
2 „ 


580 Schuld und Suͤhne 


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erklart, für Katerina Iwanowna die erforderlichen Gänge zu 
machen, und war nun den ganzen vorhergehenden Tag und den 
ganzen Vormittag dieſes Tages uͤber Hals und Kopf und mit 
heraushaͤngender Zunge herumgelaufen, wobei er ſich anſchei— 
nend beſondere Muͤhe gab, ſeinen Eifer bemerklich zu machen. 
Wegen jeder Kleinigkeit war er alle Augenblicke zu Katerina 
Iwanowna hingerannt gekommen; ſogar nach dem Baſar war 
er ihr nachgelaufen, um etwas zu fragen; dabei hatte er fie fort- 
waͤhrend pani chorazyna * genannt und war ihr ſchließlich bis 
zum Ekel zuwider geworden, obwohl ſie anfangs geſagt hatte, 
daß ſie ohne dieſen dienſtfertigen, edeldenkenden Menſchen rein 
verloren waͤre. Das lag nun einmal in ihrem Charakter: den 
erſten beſten Menſchen, mit dem ſie zu tun hatte, ſchmuͤckte ſie 
mit den ſchoͤnſten, hellſten Farben aus, lobte ihn ſo, daß mancher 
ſich ſogar darüber beſchaͤmt fühlte, erſann zu feinem Lobe aller: 
lei Dinge, die gar nicht exiſtierten, und glaubte ſelbſt vollkommen 
ehrlich und aufrichtig an deren Vorhandenſein; und dann auf 
einmal kam ſie von ihrer Verblendung zuruͤck, brach die Be— 
ziehungen ab und ſtieß mit allen Zeichen der Verachtung eben 
den Menſchen von ſich, den ſie noch wenige Stunden vorher 
mit Liebenswuͤrdigkeiten uͤberſchuͤttet hatte. Von Natur beſaß 
fie einen heiteren, fröhlichen, friedfertigen Charakter; aber т: 
folge der ununterbrochenen Ungluͤcksfaͤlle und Mißgeſchicke hatte 
ſie angefangen, mit einem wahren Ingrimm zu wuͤnſchen und 
zu fordern, alle Menſchen moͤchten in Frieden und Freude leben 
und ſich nicht erdreiſten, es anders zu machen, und der gering— 
fuͤgigſte Mißklang im Leben, das kleinſte Mißgeſchick verſetzten 
ſie ſofort in ſinnloſe Wut, und nachdem ſie unmittelbar vorher 
lid den fchönften Hoffnungen und Traͤumereien hingegeben 


»Woͤrtlich: „Frau Faͤhnrich“; aber „Faͤhnrich“ iſt ein vornehmer Be⸗ 
amtentitel. Anmerkung des Überſetzers. 


— ET ee a — 
* ai, 


4 * 


Fuͤnfter Teil 581 


hatte, verfluchte ſie dann ihr Schickſal, zerriß und zerſchlug alles, 
was ihr in die Haͤnde kam, und rannte mit dem Kopfe gegen 

die Wand. So hatte auch Amalia Iwanowna plotzlich in Kate 
rina Iwanownas Augen eine außerordentliche Bedeutung er: 
langt und ſich ihre Hochachtung erworben, wohl einzig und allein 
deshalb, weil dieſes Gedaͤchtnismahl in Ausſicht genommen war 
und Amalia Iwanowna ſich von ganzem Herzen bereit erklaͤrt 
hatte, bei der geſamten Zuruͤſtung mitzuhelfen: ſie hatte es 
uͤbernommen, den Tiſch zu decken, Waͤſche, Geſchirr, und was 
ſonſt noch noͤtig war, zu leihen und das Eſſen in ihrer Kuͤche 
zuzubereiten. Katerina Iwanowna hatte ihr weitgehendſte Зо: 
macht erteilt und ihr alles uͤberlaſſen und war ſelbſt nach dem 
Kirchhof gegangen. Und wirklich war alles in denkbar beſter 
Weiſe zugeruͤſtet: auf dem Tiſche lag ein ſauberes Tiſchtuch; 
das Geſchirr, die Gabeln, Meſſer, Glaͤſer, Taſſen, all das ſah ja 
freilich ſehr buntſcheckig aus, von verſchiedener Faſſon und ver— 
ſchiedener Groͤße, da es von verſchiedenen Mietern zuſammen— 
geborgt war; aber alles war zur beſtimmten Stunde auf ſeinem 
gehörigen Platze, und Amalia Iwanowna, die ſich bewußt war, 
ihre Sache ſehr gut gemacht zu haben, begruͤßte die Heim— 
kehrenden ſogar mit einem gewiſſen Stolze. Sie hatte ſich ſehr 
fein gemacht: ſie trug eine Haube mit neuen Trauerbaͤndern und 
ein ſchwarzes Kleid. Aber dieſer Stolz, ſo wohlberechtigt er war, 
erregte doch Katerina Iwanownas Mißfallen: „Wahrhaftig, 
gerade als ob wir ohne Amalia Iwanowna nicht einmal ver: 
ſtanden haͤtten, den Tiſch zu decken!“ Auch die Haube mit den 
neuen Baͤndern mißfiel ihr: „Dieſes dumme deutſche Frauen— 
zimmer iſt wohl am Ende gar noch ſtolz darauf, daß ſie die 
Wirtin iſt und ſich aus Gnade und Barmherzigkeit herbeigelaſſen 
hat, ihren armen Mietern zu helfen? Aus Gnade und Barm— 
herzigkeit! Na, da muß ich doch bitten! Bei meinem Papa, der 


582 Schuld und Suͤhne 


— — — nn 


im Range eines Oberſten ſtand und beinahe Gouverneur war, 
wurde manchmal fuͤr vierzig Perſonen gedeckt, und ſo ein Weibs— 
bild wie Amalia Iwanowna oder, richtiger geſagt, Ludwigowna 
haͤtte man da nicht einmal in die Kuͤche hineingelaſſen.“ Indes 
nahm ſich Katerina Iwanowna vor, ihre Gefuͤhle nicht vor der 
Zeit zum Ausdruck zu bringen, wiewohl ſie im Herzen feſt ent— 
ſchloſſen war, dieſer Amalia Iwanowna unbedingt heute noch 
gehoͤrig ihre Meinung zu ſagen und ihr ihre Stellung zum Be— 
wußtſein zu bringen, damit ſie ſich nicht womoͤglich noch Gott 
weiß was einbildete; vorläufig beſchraͤnkte fie ſich darauf, fie fühl 
zu behandeln. Auch eine andre Unannehmlichkeit hatte mit dazu 
beigetragen, Katerina Iwanowna in eine gereizte Stimmung 
zu verſetzen: zu dem Totenamt war von den dazu eingeladenen 
Hausgenoſſen niemand erſchienen außer dem kleinen Polen, der 
es ſogar nicht unterlaffen hatte, auch nach dem Grabe mit hin— 
zutraben; und zu dem Gedaͤchtnismahle hatten ſich von ihnen 
nur die geringſten und aͤrmſten eingeſtellt, manche davon nicht 
einmal in nuͤchternem Zuſtande, nur ſo die allerniedrigſte Plebs. 
Die vornehmeren, beſſeren Hausgenoſſen dagegen hielten ſich 
ſaͤmtlich wie auf Verabredung fern. Peter Petrowitſch Luſchin 
zum Beiſpiel, wohl der beſtſituierte von allen Mietern, war 
nicht erſchienen; und doch hatte noch geſtern abend Katerina 
Iwanowna allen Leuten, das heißt Amalia Iwanowna, Polenka, 
Sofja und dem kleinen Polen, erzaͤhlt, dieſer ſehr vornehme, 
hochherzige Mann, der ganz vorzuͤgliche Verbindungen und ein 
großes Vermoͤgen beſitze, ſei ein Freund ihres erſten Mannes 
geweſen, habe im Hauſe ihres Vaters verkehrt und habe ihr jetzt 
verſprochen, alle Mittel in Bewegung zu ſetzen, um ihr eine an— 
ſehnliche Penſion zu erwirken. Es ſei hier bemerkt, daß, wenn 
Katerina Iwanowna mit jemandes Verbindungen und Ver: 
moͤgen prahlte, ſie das ohne jedes egoiſtiſche Intereſſe, ohne 


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Fünfter Teil 583 


irgendwelche perſoͤnliche Spekulation tat, ganz uneigennüßig, 
ſozuſagen aus uͤberquellender Herzensguͤte, nur weil es ihr Freude 
machte, den Gelobten noch mehr zu verherrlichen und noch groß— 
artiger erſcheinen zu laſſen. Als zweiter nach Luſchin, und wahr— 
ſcheinlich deſſen Beiſpiele folgend, war auch „dieſer abſcheuliche 
Schurke Lebeſjatnikow“ nicht erſchienen. Was ſich dieſer Menſch 
nur einbildete? Er war doch nur aus Gnade und Barmherzig— 
keit eingeladen worden, weil er mit Peter Petrowitſch in einem 
Zimmer wohnte und mit ihm bekannt war, ſo daß es nicht wohl 
anging, ihn zu uͤbergehen. Nicht erſchienen waren auch eine feine 
Dame und deren Tochter, ein uͤberreifes Maͤdchen; ſie wohnten 
zwar erſt etwa vierzehn Tage bei Amalia Iwanowna, hatten 
ſich aber bereits mehrmals über den Lärm und das Geſchrei Бе: 
klagt, das aus der Marmeladowſchen Stube zu ihnen heruͤber— 
toͤnte, beſonders wenn der Verſtorbene betrunken nach Hauſe 
gekommen war. Von dieſen Beſchwerden hatte Katerina Iwa— 
nowna natuͤrlich bereits durch Amalia Iwanowna Kenntnis er— 
halten, als dieſe ſich mit ihr gezankt und gedroht hatte, die ganze 
Familie hinauszuwerfen, und aus vollem Halſe geſchrien hatte, 
fie beläftigten ihr die vornehmen Mieter, denen fie nicht wert 
feien die Schuhe zu putzen. Katerina Iwanowna hatte ſich jetzt 
abſichtlich dafür entſchieden, dieſe Dame und ihre Tochter, „denen 
ſie nicht wert war die Schuhe zu putzen,“ einzuladen, um ſo 
mehr, da dieſelben bisher bei zufälligen Begegnungen ſich hoch: 
muͤtig von ihr abgewandt hatten, — nun gerade, damit ſie zu 
der Erkenntnis kaͤmen, daß „man hier edler denke und fuͤhle und 
ſie einlade, ohne der erlittenen Kraͤnkung zu gedenken,“ und auch 
damit fie ſaͤhen, daß Katerina Iwanowna in ganz anderen Ver: 
haͤltniſſen zu leben gewohnt ſei. Dies wollte ſie ihnen unter allen 
Umſtaͤnden bei Tiſche auseinanderſetzen, ebenſo auch, daß ihr 
ſeliger Papa faſt das Amt eines Gouverneurs bekleidet habe; 


584 Schuld und Suͤhne 


— — — — 


und gleichzeitig wollte ſie ihnen andeutungsweiſe zu verſtehen 
geben, daß kein Anlaß vorliege, ſich bei Begegnungen wegzu— 
wenden, und daß ein ſolches Benehmen uͤberaus dumm ſei. Auch 
der dicke Oberſtleutnant, in Wirklichkeit Hauptmann a. D., war 
nicht gekommen; aber bei ihm war es zweifelloſe Tatſache, daß 
er noch vom Vormittag des vorhergehenden Tages her völlig 
betrunken war. Kurz, erſchienen waren nur: der kleine Pole; 
dann ein haͤßlicher, ſchweigſamer, uͤbelriechender Kanzliſt, mit 
einem von Puſteln uͤberſaͤten Geſichte, in fettglaͤnzendem Frack; 
ferner noch ein tauber und faſt ganz blinder alter Mann, der 
einmal irgendwo bei der Poſt gedient hatte und den jemand 
ſeit undenklichen Zeiten und aus unbekanntem Grunde bei Amalia 
Iwanowna in Wohnung und Яой unterhielt. Auch hatte ſich 
noch ein betrunkner Leutnant a. D., in Wirklichkeit ein Proviant⸗ 
beamter, eingeſtellt; er kam mit ſehr unpaſſendem, lautem Lachen 
herein und („denken Sie ſich!“) ohne Weſte! Ein anderer 
Gaſt feste ſich ohne weiteres an den Tiſch, ohne Katerina Iwa— 
nowna auch nur zu begruͤßen; und ſchließlich erſchien noch ein 
Individuum, das in Ermanglung andrer Kleider einen Schlaf— 
rock anhatte; aber das war nun doch derart unanſtaͤndig, daß 
dieſer Menſch durch die vereinten Bemuͤhungen Amalia Iwa— 
nownas und des Polen ſchleunigſt wieder hinausbefoͤrdert wurde. 
Der Pole hatte uͤbrigens noch zwei andre Polen mitgebracht, 
die niemals bei Amalia Iwanowna gewohnt hatten und die 
niemand bisher in der Wohnung jemals geſehen hatte. Alles 
dies hatte Katerina Iwanowna in eine hoͤchſt unangenehme, ge— 
reizte Stimmung verſetzt. „Fuͤr wen waren denn ſchließlich alle 
dieſe Vorbereitungen getroffen?“ Um Platz zu gewinnen, waren 
ſogar ſchon die Kinder nicht an den Tiſch genommen worden, 
der auch ohnedies ſchon das Zimmer ausfuͤllte; ſondern es war 
fuͤr ſie hinten in einer Ecke auf einem Kaſten gedeckt worden, 


Fünfter Teil 585 


wobei die beiden kleinen auf einem Baͤnkchen ſaßen, Polenka 
aber als die groͤßte auf ſie achtgeben, ſie fuͤttern und ihnen „als 
Kindern aus guter Familie“ die Naͤschen putzen ſollte. Kurz, da 
nur fo geringes Volk kam, fo legte Katerina Iwanowna beim 
Empfange unwillkuͤrlich eine erhoͤhte Wuͤrde und ſogar einen 
gewiſſen Hochmut an den Tag. Manche muſterte ſie beſonders 
ſtreng und erſuchte ſie dann ſehr von oben herab, am Tiſche 
Platz zu nehmen. Da ſie aber, Gott weiß warum, meinte, an 
dem Ausbleiben aller Nichterſchienenen trage Amalia Iwa— 
nowna die Schuld, ſo fing ſie auf einmal an, dieſe aͤußerſt gering— 
ſchaͤtzig zu behandeln; die letztere bemerkte das ſofort und fühlte 
ſich darüber im hoͤchſten Grade pikiert. Ein ſolcher Anfang ließ 
kein gutes Ende erwarten. Endlich ſaß alles am Tiſche. 
Raſkolnikow war faft in demſelben Augenblicke eingetreten, als 
ſie vom Kirchhofe zuruͤckkehrten. Katerina Iwanowna hatte ſich 
uͤber ſeine Ankunft ganz außerordentlich gefreut, erſtens weil 
er der einzige „Gebildete“ unter allen Gaͤſten war und „bekannt— 
lich in zwei Jahren an der hieſigen Univerſitaͤt eine Profeſſoren— 
ſtelle erhalten werde,“ und zweitens weil er ſich ſofort in reſpekt— 
voller Weiſe bei ihr entſchuldigte, daß er trotz ſeines aufrichtigen 
Wunſches nicht habe an der Beerdigung teilnehmen koͤnnen. Sie 
hatte ihn ordentlich mit Beſchlag belegt, ihm am Tiſche den Platz 
zu ihrer Linken angewieſen (rechts von ihr ſaß Amalia Iwa— 
nowna), und trotz der ſteten Unruhe und Sorge, daß die Ge— 
richte nur auch ja richtig herumgingen und alle Gaͤſte hinreichend 
damit verſehen wuͤrden, trotz des quaͤlenden Huſtens, der ſie alle 
Augenblicke unterbrach und ſie zu erſticken drohte und gerade in 
den letzten zwei Tagen beſonders zugenommen zu haben ſchien, 
wandte fie ſich nun fortwährend an Raſkolnikow und ſchuͤttete 
alles, was ſich an unangenehmen Empfindungen bei ihr an— 
geſammelt hatte, und all ihre gerechte Entruͤſtung uͤber dieſes 


586 Schuld und Suͤhne 


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mißgluͤckte Gedaͤchtnismahl vor ihm aus, wobei die Entruͤſtung 
oft von einem ſehr heiteren, ſehr ungenierten Lachen uͤber die 
verſammelten Gaͤſte, namentlich aber uͤber die Wirtin ſelbſt, ab— 
geloͤſt wurde. 

„An allem iſt dieſe Eule ſchuld. Sie verſtehen wohl, wen ich 
meine: die da, die da!“ Dabei wies Katerina Iwanowna durch 
eine Kopfbewegung nach der Wirtin hin. „Sehen Sie ſie nur 
mal an: ſie reißt die Augen auf; ſie merkt, daß wir von ihr reden, 
kann aber nicht verſtehen und ſperrt nun die Augen weit auf. 
Pfui, fo eine Eule, ha-ha-ha! ... Kche-kche-kche! Und was Ве: 
zweckt fie denn eigentlich mit ihrer Haube? Kche-kche-kche! Haben 
Sie wohl bemerkt, ſie moͤchte gern alle glauben machen, daß 
ſie hier die hohe Goͤnnerin ſei und mir durch ihre Anweſenheit 
eine Ehre erweiſe. Ich hatte ſie, in der Meinung, es mit einer 
anftändigen Dame zu tun zu haben, gebeten, mir zu dieſer Feier 
Leute beſſeren Standes und namentlich die Bekannten des Ver— 
ſtorbenen einzuladen; und nun ſehen Sie nur, wen ſie mir her— 
gebracht hat: wahre Hansnarren! Miſtfinken! Sehen Sie nur 
den da mit dem unreinen Teint; fo ein ое! Und dieſe 
Polacken ... ha-ha-ha! Kche-kche-kche! Kein Menſch hat fie je 
vorher hier zu ſehen bekommen; auch ich habe ſie noch nie ge— 
ſehen; nun frage ich Sie: warum ſind die hergekommen? Sie 
ſitzen ſo huͤbſch brav in einer Reihe nebeneinander! Pan, Sie 
da!“ rief ſie auf einmal einem von ihnen zu. „Haben Sie ſich 
auch Pfannkuchen genommen? Langen Sie doch noch zu! Trin— 
ken Sie Bier! Moͤgen Sie keinen Schnaps? Sehen Sie: er iſt 
aufgeſprungen und verbeugt ſich; ſehen Sie nur, ſehen Sie nur; 
die armen Kerle ſind gewiß ganz ausgehungert. Na immerzu, 
moͤgen ſie eſſen! Wenigſtens machen fie keinen Lärm; aber... 
aber... allerdings .. . ich bin in Sorge um die filbernen Löffel 
der Wirtin! . .. Amalia Iwanowna,“ wandte fie ſich auf einmal 


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Fuͤnfter Teil 587 


ziemlich laut an dieſe, „wenn Ihnen etwa Ihre Loͤffel geſtohlen 
werden ſollten, ſo uͤbernehme ich keine Haftung, das ſage ich 
Ihnen im voraus. — Ha-ha⸗-ha!“ lachte fie, ſich wieder zu Raſkol— 
nikow wendend, auf, machte ihm wieder mit dem Kopfe ein 
Zeichen nach der Wirtin hin und freute ſich uͤber ihre witzige 
Bemerkung. „Sie hat nicht verſtanden, ſie hat wieder nicht ver— 
ſtanden! Sie ſitzt mit aufgeſperrtem Munde da; ſehen Sie nur: 
eine Eule, eine richtige Eule, ein Uhu mit neuen Haubenbaͤndern, 
ha⸗ha⸗ha!“ 

Hier ging das Lachen wieder in einen unerträglichen Huſten 
uͤber, der fuͤnf Minuten lang anhielt. Auf dem Taſchentuche 
zeigten ſich Blutflecke, Schweißtropfen traten ihr auf die Stirn, 
die roten Flecke auf den Wangen wurden ſchaͤrfer. Schweigend 
wies fie Raſkolnikow das Blut; aber kaum hatte fie ſich wieder 
erholt, ſo begann ſie von neuem, ihm mit außerordentlicher Leb— 
haftigkeit zuzufluͤſtern: 

„Sehen Sie, ich hatte ihr den, man kann wohl ſagen, ſehr deli— 
katen Auftrag gegeben, dieſe Dame und ihre Tochter einzuladen; 
wiſſen Sie auch, von wem ich ſpreche? Dabei war ein ſehr takt— 
volles Benehmen, eine beſondere Geſchicklichkeit erforderlich; 
aber ſie hat es ſo toͤricht angegriffen, daß dieſes eben von aus— 
waͤrts angekommene dumme Frauenzimmer, dieſe hochmuͤtige 
Kreatur, dieſe unbedeutende Provinzialin, nur weil ſie eine 
Majorswitwe iſt, — ſie iſt naͤmlich hergekommen, um ſich eine 
Penſion auszuwirken und die Behoͤrden mit ihren Beſuchen zu 
belaͤſtigen; bei ihren fuͤnfundfuͤnfzig Jahren faͤrbt ſie ſich noch 
die Augenbrauen und ſchminkt ſich, das Ш Tatſache, ... und 
eine ſolche Kreatur hat nicht die Gewogenheit gehabt, zu er— 
ſcheinen; ja, ſie hat ſich nicht einmal wegen ihres Ausbleibens 
entſchuldigen laſſen, wie das doch in ſolchen Fällen die gewoͤhn— 
lichſte Hoͤflichkeit erfordert! Ich kann nicht begreifen, warum 


588 Schuld und Suͤhne 


auch Peter Petrowitſch nicht gekommen iſt. Aber wo iſt Sofja? 
Wo mag ſie hingegangen ſein? Ah, da iſt ſie ja, endlich! Nun, 
Sofja, wo biſt du denn geweſen? Wunderlich, daß du ſogar bei 
der Beerdigungsfeier fir deinen Vater fo unpuͤnktlich biſt. Ro: 
dion Romanowitſch, geſtatten Sie, daß ſie neben Ihnen Platz 
nimmt. Da iſt dein Platz, Sofja, . .. lang zu, nimm, was du 
magſt. Nimm von dem Fiſch in Gelee; der iſt recht gut. Du 
ſollſt auch ſofort Pfannkuchen haben. Haben die Kinder auch 
etwas bekommen? Polenka, habt ihr auch alles? Kche-kche-kche! 
Nun, ſchoͤn! Sei recht artig, Lida, und du, Nikolai, ſchlenkere 
nicht mit den Beinen; ſitze, wie es ſich fuͤr ein anſtaͤndiges Kind 
ſchickt. Was ſagſt du, Sofja?“ | 

боба richtete ihr ſchnell Peter Petrowitſchs Entſchuldigung 
aus, wobei ſie ſich Muͤhe gab, recht laut zu ſprechen, damit es 
alle hoͤren koͤnnten, und recht gewaͤhlte, reſpektvolle Ausdruͤcke 
zu gebrauchen, die ſie ſich von Peter Petrowitſch gemerkt hatte 
und noch weiter ausſchmuͤckte. Sie fuͤgte hinzu, Peter Petro— 
witſch habe ihr beſonders aufgetragen zu beſtellen, daß er, ſo— 
bald es ihm irgend moͤglich ſei, ſchleunigſt herkommen werde, 
zum Zwecke ungeſtoͤrter Beſprechung geſchaͤftlicher Angelegen— 
heiten und zum Zwecke von Verabredungen daruͤber, was ſich 
nun weiter tun und unternehmen laſſe, uſw. uſw. 

Sofja wußte, daß dies dazu beitragen werde, Katerina Iwa— 
nowna zu beruhigen und friedlicher zu ſtimmen, da es ihr ſchmei— 
chelte und namentlich ihren Stolz befriedigte. Sie ſetzte ſich 
neben Raſkolnikow, den fie kurz begrüßte und mit einem for— 
ſchenden Blick einen Augenblick lang betrachtete. Die ganze 
uͤbrige Zeit uͤber vermied ſie es aber, ihn anzuſehen und mit 
ihm zu ſprechen. Sie ſchien zerſtreut, wiewohl ſie fortwaͤhrend 
die Augen auf Katerina Iwanownas Geſicht gerichtet hielt, um 
ihr Dienfte zu erweiſen. Weder fie noch Katerina Iwanowna 


Fünfter Teil 589 


waren in Trauertracht, da fie keine derartigen Kleider beſaßen; 
Sofja trug ein ziemlich dunkles braunes Kleid und Katerina 
Iwanowna das einzige, das ſie hatte, ein dunkles, geſtreiftes 
Kattunkleid. Die Nachricht uͤber Peter Petrowitſch machte ſich 
vorzüglich. Nachdem Katerina Iwanowna ſehr wuͤrdevoll Sofjas 
Bericht angehoͤrt hatte, erkundigte ſie ſich ebenſo wuͤrdevoll nach 
Peter Petrowitſchs Befinden. Darauf fluͤſterte ſie ſofort ſehr 
vernehmlich dem neben ihr ſitzenden Raſkolnikow zu, daß es 
einem ſo angeſehenen, wohlſituierten Manne wie Peter Petro— 
witſch allerdings habe peinlich ſein muͤſſen, ſich in eine ſo eigen— 
artige Geſellſchaft zu begeben, trotz ſeiner treuen Anhaͤnglichkeit 
an ihre Familie und ſeiner alten Freundſchaft fuͤr ihren Papa. 

„Eben deswegen bin ich Ihnen beſonders dankbar, Rodion 
Romanowitſch, daß Sie es nicht verſchmaͤht haben, an meinem 
Tiſche einen Biſſen zu genießen, trotz dieſer Umgebung,“ fuͤgte 
fie faft ganz laut hinzu. „Ich bin aber überzeugt, daß nur die 
innige Freundſchaft, die Sie mit meinem armen verſtorbenen 
Gatten verband, Sie bewogen hat, Ihr Wort zu halten.“ 

Sie ließ noch einmal einen wuͤrdevollen, ſtolzen Blick um ihre 
Tafelrunde herumwandern und erkundigte ſich plößlich mit be— 
ſonderer Sorglichkeit laut uͤber den Tiſch hinuͤber bei dem tauben 
alten Manne, ob er nicht noch ein Stuͤckchen Braten moͤge, und 
ob er auch Liſſaboner bekommen habe. Der Alte antwortete 
nicht und konnte lange Zeit nicht begreifen, wonach er eigentlich 
gefragt wurde, obwohl ſeine Nachbarn ihn des Spaßes wegen 
anſtießen, er moͤchte doch antworten. Er blickte nur mit offenem 
Munde um ſich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch 
ſteigerte. 

„Nein, ſo ein Toͤlpel! Sehen Sie nur, ſehen Sie nur! Wozu 
man mir den bloß hergebracht hat! Was aber Peter Petrowitſch 
anlangt, ſo war ich ſtets von ſeiner freundlichen Geſinnung uͤber— 


590 Schuld und Suͤhne 


zeugt,“ fuhr Katerina Iwanowna, zu Raſkolnikow gewendet, 
fort. „Der ſteht natuͤrlich auf einer ganz andern Stufe,“ hier 
wandte ſie ſich mit lauter Stimme, in ſcharfem Tone und mit 
ſehr ſtrenger Miene an Amalia Iwanowna, die darüber ganz 
aͤngſtlich wurde, „auf einer ganz andern Stufe als Ihre beiden 
neuen Mieterinnen, dieſe aufgedonnerten Weibsbilder mit ihren 
langen Schleppen! Solche Frauenzimmer haͤtten in dem Hauſe 
meines Papas nicht einmal als Koͤchinnen dienen duͤrfen, und 
mein verſtorbener Gatte haͤtte ihnen eine Ehre damit erwieſen, 
wenn er ihren Beſuch entgegengenommen haͤtte, was eben nur 
ein Ausfluß ſeiner unerſchoͤpflichen Herzensguͤte geweſen waͤre.“ 

„Trinken, das tat er gern; das liebte er ſehr; ganz gehoͤrig hat 
er getrunken!“ rief auf einmal der verabſchiedete Proviant— 
beamte und goß ſein zwoͤlftes Glas Schnaps hinunter. 5 

„Das war allerdings eine Schwaͤche meines verſtorbenen Gat— 
ten, und ſie war allgemein bekannt,“ antwortete Katerina Iwa— 
nowna ſofort auf dieſe Bemerkung, „aber er war ein guter, edler 
Menſch, der ſeine Familie liebte und ſchaͤtzte; das Ungluͤck war 
nur, daß er in ſeiner Gutherzigkeit allerlei verkommenen Sub— 
jekten zuviel Vertrauen ſchenkte und Gott weiß mit wem zu— 
ſammen trank, mit Leuten zuſammen, die nicht wert waren, ihm 
die Schuhriemen zu loͤſen. Denken Sie ſich, Rodion Romano— 
witſch, wir haben in ſeiner Taſche einen Hahn von Pfefferkuchen 
gefunden. Trotz ſeiner Betrunkenheit hatte er doch noch an die 
Kinder gedacht.“ 


„Einen Hahn? Sagten Sie nicht: einen Hahn?“ rief der 


Proviantbeamte. 

Katerina Iwanowna wuͤrdigte ihn keiner Antwort. Sie war 
nachdenklich geworden und ſeufzte. 

„Sie meinen gewiß auch wie alle, daß ich zu ſtreng gegen ihn 
geweſen ſei,“ fuhr fie, zu Raſkolnikow gewendet, fort. „Aber 


Fünfter Teil 591 


das Ш nicht richtig! Er hat mich hochgeſchaͤtzt; außerordentlich 
hoch hat er mich geſchaͤtzt! Er war eine gute Seele! Und wie 
leid hat er mir manchmal getan! Er ſaß oft ſo in einer Ecke da 
und ſchaute mich an; ſo leid tat er mir; ich waͤre am liebſten 
freundlich zu ihm geweſen; aber ich fagte mir: ‚Wenn du jetzt 
freundlich zu ihm bift, betrinkt er ſich wieder.“ Nur durch Strenge 
war es moͤglich, ihn einigermaßen davon zuruͤckzuhalten.“ 

„Ja, ja, manchmal wurde er auch an den Haaren geriſſen; 
das war nichts Seltenes!“ ſchrie der Proviantbeamte wieder 
und goß noch ein Glas in ſich hinein. 

„Manchen Dummlöpfen wäre es heilſam, wenn fie nicht nur 
an den Haaren geriſſen, ſondern ſogar mit dem Beſenſtiel ge— 
pruͤgelt würden. Ich meine damit nicht den Verſtorbenen!“ er: 
widerte ihm Katerina Iwanowna in ſcharfem Tone. 

Die roten Flecke auf ihren Wangen zeichneten ſich immer greller 
ab; ihre Bruſt atmete ſchwer. Sie war offenbar nahe daran, eine 
Skandalſzene zu beginnen. Viele kicherten; denen haͤtte ſo etwas 
augenſcheinlich das groͤßte Vergnuͤgen gemacht. Sie fingen an, 
den Proviantbeamten anzuſtoßen und ihm etwas zuzufluͤſtern. 
Zweifellos wollten ſie die beiden aneinanderhetzen. 

„Geſtatten Sie mir die Frage: was haben Sie damit gemeint?“ 
begann der Proviantbeamte. „Das heißt, auf wen ... ſollte 
das gehen, . .. was Sie ſoeben bemerkten? .. . Na, uͤbrigens, 
ich will doch lieber nicht ... Dummes Zeug! Eine Witwe! So 
ein armes Tierchen! Ich verzeihe es ihr ... Ich laß es laufen!“ 
Und er griff wieder zum Schnaps. 

Raſkolnikow ſaß da und hoͤrte ſchweigend und voll Widerwillen 
zu. Die guten Biſſen, die ihm Katerina Iwanowna alle Augen— 
blicke auf den Teller legte, ruͤhrte er nur aus Hoͤflichkeit an, nur 
um fie nicht zu kraͤnken. Er blickte unverwandt Sofja an. Sofja 
aber wurde immer unruhiger und aͤngſtlicher; ſie ahnte, daß 


n 
* . 


592 Schuld und Suͤhne 


— ——— 


dieſes Gedaͤchtnismahl kein friedliches Ende nehmen werde, und 
beobachtete voll Furcht, wie die Gereiztheit ihrer Stiefmutter 
immer ſchlimmer wurde. Sofja wußte unter anderm, daß ſie, 
Sofja, ſelbſt die Haupturſache war, weswegen die beiden kuͤrz— 
lich angekommenen Damen Katerina Iwanownas Einladung in 
ſo veraͤchtlicher Weiſe abgelehnt hatten. Sie hatte von Amalia 
Iwanowna ſelbſt gehört, daß die Mutter ſich durch die Ein— 
ladung geradezu beleidigt gefuͤhlt und gefragt habe, wie man ihr 
denn zumuten koͤnne, ihre Tochter neben „dieſes Maͤdchen“ zu 
ſetzen. Sofja vermutete, daß Katerina Iwanowna dies bereits 
auf irgendwelchem Wege erfahren habe, und wußte, daß eine 
beleidigende Außerung über fie, Sofja, auf Katerina Iwanowna 
heftiger wirkte als eine uͤber ſie ſelbſt oder uͤber ihre Kinder 
oder über ihren vornehmen Papa, mit einem Worte ihr als +65: 
liche Beleidigung galt. So ſah denn Sofja voraus, daß Katerina 
Iwanowna jetzt keine Ruhe haben werde, „ehe ſie nicht dieſen 
hoffaͤrtigen Frauenzimmern wuͤrde bewieſen haben, daß ſie alle 
beide uſw. uſw.“ Ungluͤcklicherweiſe ſchickte in dieſem Augenblicke 
jemand vom andern Ende des Tiſches her an Sofja einen Teller, 
auf welchem zwei aus Schwarzbrot geknetete Herzen, von einem 
Pfeil durchbohrt, lagen. Katerina Iwanowna geriet ſofort in 
Wut und bemerkte laut über den Tiſch hinüber, der Überſender 
muͤſſe wohl ein betrunkener Eſel fein. Amalia Iwanowna, die 
gleichfalls ahnte, daß Unheil im Anzuge ſei, und ſich gleichzeitig 
durch Katerina Iwanownas Hochmut in tiefſter Seele gekraͤnkt 
fuͤhlte, beabſichtigte dem Geſpraͤche eine andre Richtung zu geben 
und ſo die unangenehme Stimmung der Geſellſchaft zu beſſern. 
Deshalb, und auch um bei dieſer Gelegenheit ihre eigene Per⸗ 
ſon in der allgemeinen Achtung ſteigen zu laſſen, begann ſie auf 
einmal ohne aͤußere Veranlaſſung zu erzählen, wie ein Be: 
kannter von ihr, „Karl aus der Apotheke“, eines Nachts in einer 


Be 


Fuͤnfter Teil 593 


Droſchke gefahren ſei; der Kutſcher habe ihn ermorden wollen, 
und Karl habe ihn „ſerr, ſerr“ gebeten, ihn doch nicht zu er— 
morden, und habe geweint und die Haͤnde gefaltet, und „er— 
ſchreckt“ und vor Furcht „ſei ihm das Herz gebeben“. Katerina 
Iwanowna bemerkte dazu, wenn auch laͤchelnd, Amalia Iwa— 
nowna taͤte beſſer, keine Geſchichten auf Ruſſiſch zu erzaͤhlen. 
Dieſe fuͤhlte ſich noch mehr gekraͤnkt und erwiderte, ihr Vater, 
ein geborener Berliner, ſei eine ſehr hochgeſtellte Perſoͤnlichkeit 
geweſen und habe immer „beim Gehen ſeine Haͤnde in Taſchen 
geſteckt“. Die ſpottluſtige Katerina Iwanowna konnte ſich nicht 
mehr halten und brach in ein lautes Gelaͤchter aus, ſo daß Amalia 
Iwanowna den letzten Reſt von Geduld verlor und ſich kaum 
noch beherrſchen konnte. 

„Nein, dieſe Eule!“ fluͤſterte Katerina Jwanowna wieder Raſ— 
kolnikow zu; ſie war ordentlich luſtig geworden. „Sie wollte 
ſagen, er habe immer die Haͤnde in den Taſchen gehabt; es klang 
aber fo, als habe er fremde Taſchen ausgeräumt, kche-kche! 
Haben Sie wohl auch ſchon bemerkt, Rodion Romanowitſch, daß 
alle dieſe Auslaͤnder in Petersburg, und ganz beſonders die 
Deutſchen, die hier bei uns zuſammenſtroͤmen, ohne Ausnahme 
duͤmmer ſind als wir? Nun, ſagen Sie ſelbſt, kann ein vernuͤnf— 
tiger Menſch fo erzählen, daß ‚dieſem Karl aus der Apotheke das 
Herz gebeben fei‘, und daß er (fo eine Rotznaſe!), ſtatt dem 
Droſchkenkutſcher die Haͤnde zu binden, die Haͤnde gefaltet und 
geweint und ſehr gebeten habe? Ach, dieſes dumme Frauen— 
zimmer! Sie bildet ſich ein, was ſie da erzaͤhlt, ſei furchtbar 
ruͤhrend, und ahnt gar nicht, wie dumm ſie iſt! Meiner Anſicht 
nach iſt der betrunkene Proviantbeamte da weit kluͤger als dieſe 
Perſon. Bei ihm ſieht man wenigſtens ohne weiteres, daß er 
ein Liedrian iſt und den letzten Reſt ſeines Verſtandes durch 
Trinken ruiniert hat; aber dieſe Deutſchen haben alle ſo etwas 
XIX. as. 


594 Schuld und Suͤhne 


— — — — — — — — — 2 


Affektiertes, Ernſthaftes ... Sehen Sie nur, wie fie daſitzt und 
die Augen aufreißt. Sie aͤrgert ſich! Sie aͤrgert ſich! Ha-ha-ha! 
Kche⸗kche-lche!“ 

Katerina Iwanowna, die nun ſehr vergnuͤgt geworden war, 
kam auf alles moͤgliche zu reden und begann unter anderm zu 
erzaͤhlen, wie ſie mit Hilfe der erwirkten Witwenpenſion in ihrer 
Heimatſtadt T. .. ganz beſtimmt ein vornehmes Mädchen: 
penſionat eröffnen werde. Hiervon hatte Raskolnikow aus Kate— 
rina Iwanownas eigenem Munde bisher noch nichts erfahren 
gehabt, und ſo erging ſie ſich denn alsbald in der Ausmalung 
der verlockendſten Einzelheiten. Auf einmal befand ſich in ihren 
Haͤnden (man wußte gar nicht, woher es ſo ploͤtzlich gekommen 
war) eben jenes Belobigungszeugnis, das noch der verſtorbene 
Marmeladow in der Schenke Raſkolnikow gegenuͤber erwaͤhnt 
hatte, als er ihm erzählte, daß feine Gattin Katerina Iwanowna 
bei der Entlaſſungsfeier aus dem Inſtitut „in Gegenwart des 
Gouverneurs und andrer hoher Perſoͤnlichkeiten“ den Schaltanz 
getanzt habe. Dieſes Belobigungszeugnis wollte Katerina Iwa— 
nowna augenblicklich offenbar dazu benutzen, ihre Berechtigung 
zur Gruͤndung eines Penſionates nachzuweiſen; hauptſaͤchlich 
aber hatte fie es in der Abſicht bereitgehalten, „den beiden auf: 
gedonnerten Weibsbildern mit den langen Schleppen“ gehoͤrig 
das Maul zu ſtopfen, wenn ſie zum Gedaͤchtnismahle kaͤmen, 
und ihnen klar zu beweiſen, daß ſie „aus einem ſehr vornehmen, 
man konnte ſogar ſagen ariſtokratiſchen Haufe ſtamme, die Toch— 
ter eines im Oberſtenrange ſtehenden Beamten und jedenfalls 
etwas weit Beſſeres ſei als ſo manche abenteuernden Frauens— 
perſonen, von denen es in neuerer Zeit wimmele“. Das Bes 
lobigungszeugnis ging ſofort unter den betrunkenen Gaͤſten von 
Hand zu Hand, was Katerina Iwanowna nicht verhinderte, weil 
darin wirklich en toutes lettres angegeben war, daß fie die Хоф: 


Fünfter Teil 595 


— u 


ter eines Hofrates, Ritters mehrerer Orden, und fomit tatſaͤch— 
lich beinahe die Tochter eines im Oberſtenrange ſtehenden Be— 
amten ſei. Einmal in Feuer geraten, ging Katerina IJwanowna 
unverzuͤglich dazu uͤber, alle Einzelheiten des kuͤnftigen ſchoͤnen, 
ruhigen Lebens in T. . . zu ſchildern; fie ſprach von den Фут: 
naſiallehrern, die ſie auffordern werde, in ihrem Penſionat 
Unterricht zu erteilen, dann von einem hochangeſehenen alten 
Herrn, einem Franzoſen Mangot, bei dem noch Katerina Iwa— 
nowna ſelbſt, als ſie das Inſtitut beſuchte, Franzoͤſiſch gelernt 
hatte und der auch jetzt noch in X... feinen Lebensabend ver: 
bringe und gewiß fuͤr einen ſehr maͤßigen Preis an ihrer Anſtalt 
unterrichten werde. Schließlich kam ſie auch auf Sofja zu ſprechen, 
die mit ihr zuſammen nach T. .. ziehen und ihr dort in allem 
zur Hand gehen werde. Aber hier pruſtete auf einmal jemand 
am Ende des Tiſches vor Lachen los. Katerina Iwanowna tat 
zwar, als wolle ſie dieſes Lachen aus Verachtung ignorieren, 
degann aber ſofort mit abſichtlich lauterer Stimme eine be— 
zeiſterte Lobrede uͤber Sofjas unzweifelhafte Befaͤhigung, ihr 
als Gehilfin zu dienen, uͤber ihre Sanftmut, Geduld, Selbſt— 
verleugnung, vornehme Geſinnung und Bildung; dabei ſtand ſie 
auf, klopfte ihr die Wange und kuͤßte ſie zweimal auf das herz— 
lichſte. Sofja wurde gluͤhendrot; Katerina Iwanowna aber brach 
ploͤtzlich in Traͤnen aus und ſagte von ſich ſelbſt, ſie ſei eine 

nervoͤſe, dumme Perſon, und ihr Nervenſyſtem fei jetzt gar zu 
ſehr angegriffen. Übrigens ſei es Zeit, zum Schluß zu kommen, 
und da das Eſſen zu Ende ſei, ſolle der Tee gebracht werden. 
In dieſem Augenblick wagte Amalia Iwanowna, hoͤchſt ver— 
droſſen, daß ſie bei der ganzen Unterhaltung nicht zu Worte 
gekommen war und man ihr gar nicht einmal hatte zuhoͤren 
mögen, einen letzten Verſuch und erlaubte ſich, ihren Arger ver: 
hehlend, an Katerina Iwanowna die durchaus vernuͤnftige, geiſt— 


596 Schuld und Sühne 


reiche Bemerkung zu richten, es muͤſſe in dem kuͤnftigen Pen— 
ſionat beſondere Aufmerkſamkeit auf die reine Waͤſche der jungen 
Maͤdchen verwandt werden, und es ſei unbedingt eine tuͤchtige 
Dame erforderlich, um ordentlich auf die Waͤſche zu achten, und 
auch darauf, daß die jungen Maͤdchen nicht heimlich bei Nacht 
Romane laͤſen. Katerina Iwanowna, die tatſaͤchlich ſehr ab: 
geſpannt und muͤde war und das Gedaͤchtnismahl voͤllig ſatt 
hatte, entgegnete ihr ſchroff, daß ſie Unſinn ſchwatze und nichts 
davon verſtehe. Die Sorge fuͤr die Waͤſche ſei Sache der Kaſtel— 
lanin und nicht der Vorſteherin eines vornehmen Penſionates, 
und was ihre Bemerkung uͤber das Romanleſen anlange, ſo ſei 
dieſe einfach taktlos, und ſie muͤſſe ſie erſuchen zu ſchweigen. 
Amalia Iwanowna bekam einen roten Kopf und bemerkte biſſig, 
ſie habe es nur gut gemeint, und ſie habe es immer mit ihr ſehr 
gut gemeint, habe aber ſchon ſeit langer Zeit nicht die Miete fuͤr 
die Wohnung erhalten. Katerina Iwanowna fand ſofort eine 
kräftige Erwiderung: Amalia Iwanowna luͤge, wenn fie ſage, 
daß ſie es gut meine; denn noch geſtern, als die Leiche noch auf 
dem Tiſche gelegen habe, habe ſie ihr wegen der Miete zugeſetzt. 
Darauf bemerkte Amalia Iwanowna ohne jeden inneren Zu: 
ſammenhang, fie habe in Katerina Iwanownas Auftrag jene 
beiden Damen eingeladen ; aber die Damen ſeien nicht gekommen, 
weil ſie feine Damen ſeien und nicht zu unfeinen Damen gehen 
koͤnnten. Demgegenuͤber wies Katerina Iwanowna ſie nach— 
druͤcklich darauf hin, daß ſie eine Drecklieſe ſei und uͤber wahre 
Feinheit gar kein Urteil habe. Amalia Iwanowna nahm das 
nicht fo hin, ſondern erklaͤrte, ihr Vater, ein geborener Berliner, 
ſei eine ſehr hochgeſtellte Perſoͤnlichkeit geweſen und habe immer 
beim Gehen die Haͤnde in Taſchen geſteckt und immer ſo gemacht: 
„Puh, puh!“ Und um das Verhalten ihres Vaters anſchaulicher 
zu vergegenwaͤrtigen, ſprang Amalia Smanomna vom Stuhle auf, 


Fünfter Teil 597 


ftedte beide Hände in die Taſchen, blies die Backen auf und ſtieß 
mit dem Munde unartikulierte Laute aus, die wie „puh, puh“ 
klangen, unter dem lauten Gelaͤchter aller Mieter, welche, in der 
Hoffnung, daß es zu einer Pruͤgelei kommen werde, Amalia 
Iwanowna abſichtlich durch ihren Beifall anſpornten. Katerina 
Iwanowna jedoch, der dieſe alberne Prahlerei zu arg war, rief 
ſo laut, daß es alle hoͤrten, Amalia Iwanowna habe vielleicht 
nie einen Vater gehabt, ſondern ſei einfach eine verſoffne Peters— 
burger Finnlaͤnderin und habe ſicherlich fruͤher irgendwo als 
Koͤchin gedient, wenn ſie nicht noch etwas Schlimmeres geweſen 
ſei. Amalia Iwanowna wurde rot wie ein Krebs und kreiſchte, 
das traͤfe vielleicht fuͤr Katerina Iwanowna zu, daß ſie uͤber— 
haupt keinen Vater gehabt habe; ſie ſelbſt aber habe einen Vater 
gehabt, der aus Berlin geweſen ſei und einen ganz langen Rock 
getragen und immer „puh, puh, puh“ gemacht habe. Katerina 
Iwanowna bemerkte veraͤchtlich, ihre eigene Abkunft ſei allen 
bekannt, und in dieſem Belobigungszeugnis ſtehe gedruckt zu 
leſen, daß ihr Vater Oberſtenrang gehabt habe; Amalia Iwa— 
nownas Vater aber, wenn ſie uͤberhaupt einen gehabt habe, ſei 
ſicherlich ein Petersburger Finnlaͤnder geweſen, der Milch ver— 
kauft habe. Das Wahrſcheinlichſte aber ſei, daß ſie uͤberhaupt 
keinen Vater gehabt habe, da bis auf den heutigen Tag niemand 
wiſſe, wie Amalia Iwanowna eigentlich mit Vatersnamen heiße: 
Iwanowna oder Ludwigowna. Da nun aber geriet Amalia Iwa— 
nowna vollends in Wut; ſie ſchlug mit der Fauſt auf den Tiſch 
und kreiſchte, fie heiße Amalia Iwanowna und nicht Ludwigowna; 
ihr Vater habe Johann geheißen und ſei Dorfſchulze geweſen; 
Katerina Iwanownas Vater dagegen ſei uͤberhaupt nie 
Dorfſchulze geweſen. Katerina Iwanowna ſtand vom Stuhle 
auf und bemerkte ihr in ſtrengem Tone mit anſcheinend ruhiger 
Stimme, wiewohl ſie ganz blaß war und ihre Bruſt ſich heftig 


598 Schuld und Suͤhne 


hob und ſenkte: wenn ſie ſich noch ein einziges Mal erdreiſte, 
ihren Lumpenkerl von Vater mit ihrem Papa auf eine Stufe 
zu ſtellen, ſo wuͤrde ſie, Katerina Iwanowna, ihr die Haube ab— 
reißen und mit Füßen treten. Als Amalia Iwanowna das hörte, 
fing ſie an im Zimmer hin und her zu rennen und ſchrie aus 
vollem Halſe, fie ſei die Wirtin, und Katerina Iwanowna ſolle 
augenblicklich aus der Wohnung ausziehen. Dann ſtuͤrzte ſie 
zum Tiſche und raffte die ſilbernen Loͤffel zuſammen. Ein graͤß— 
licher Laͤrm und Skandal entſtand; die Kinder fingen an zu 
weinen. Sofja bemühte ſich, Katerina Iwanowna zuruͤckzuhalten, 
aber als in Amalia Iwanownas Gekreiſche auch etwas von dem 
gelben Scheine vorkam, ſtieß Katerina Iwanowna Sofja von 
ſich und ſtuͤrzte auf Amalia Iwanowna los, um ihre Drohung 
betreffs der Haube unverzuͤglich zur Ausfuͤhrung zu bringen. 
In dieſem Augenblicke oͤffnete ſich die Tuͤr, und auf der Schwelle 
des Zimmers erſchien Peter Petrowitſch Luſchin. Er ſtand einen 
Moment ſtill und muſterte mit ſcharfem, pruͤfendem Blicke die 
ganze Geſellſchaft. Katerina Iwanowna ſtuͤrzte zu ihm hin. 


III 


„Peter Petrowitſch!“ ſchrie ſie. „Schuͤtzen Sie mich! Machen 
Sie dieſer dummen Kreatur klar, daß ſie ſich nicht unterſtehen 
darf, ſich gegen eine vornehme Dame, die ins Ungluͤck geraten 
iſt, fo zu benehmen; ſagen Sie ihr, daß es ein Gericht gibt ... 
An den Generalgouverneur ſelbſt werde ich mich wenden ... 
Sie wird ſich zu verantworten haben ... Gedenken Sie der 
Gaſtfreundſchaft, die Sie bei meinem Vater genoſſen haben, und 
ſchuͤtzen Sie uns in unſerer Verlaſſenheit!“ 

„Erlauben Sie, Madame .. . Erlauben Sie, erlauben Sie, 
Madame,“ wehrte Peter Petrowitſch ſie von ſich ab. „Ihren 
Herrn Vater habe ich, wie Sie wiſſen, gar nicht die Ehre ge⸗ 


23 
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Fünfter Teil 599 


habt зи kennen ... Erlauben Sie, Madame!“ (Hier lachte je: 
mand laut auf.) „Und mich in Ihre ewigen Zaͤnkereien mit 
Amalia Iwanowna hineinzumengen, liegt durchaus nicht in 
meiner Abſicht .. . Mich führt eine eigne Angelegenheit her, 
und ich möchte ſofort mit Ihrer Stieftochter боба... Iwanowna 
ſprechen, ſo iſt ja wohl der Name. Erlauben Sie mir, naͤher— 
zutreten.“ 

Nach dieſen Worten ging Peter Petrowitſch ſeitwaͤrts um 
Katerina Iwanowna herum und begab ſich in die entgegen— 
geſetzte Ecke, wo ſich Sofja befand. 

Katerina Iwanowna blieb wie vom Donner gerührt ſtarr auf 
demſelben Fleck ſtehen. Es war ihr unbegreiflich, wie Peter 
Petrowitſch in Abrede ſtellen konnte, bei ihrem Papa Gaſt— 
freundſchaft genoſſen zu haben. Nachdem ſie ſich die Geſchichte 
von dieſer Gaſtfreundſchaft einmal ausgedacht hatte, glaubte ſie 
ſelbſt ſteif und feſt daran. Auch Peter Petrowitſchs geſchaͤfts— 
maͤßiger, trockner Ton, in dem ſogar etwas Veraͤchtliches, Drohen— 
des lag, verſetzte ſie in Beſtuͤrzung. Auch die anderen Anweſen— 
den waren bei ſeinem Erſcheinen alle allmaͤhlich ſtill geworden. 
Ganz abgeſehen davon, daß dieſer „ernſte Geſchaͤftsmann“ einen 
ſchneidenden Kontraſt gegen die ganze uͤbrige Geſellſchaft bildete, 
war auch klar, daß er aus irgendeinem wichtigen Anlaſſe ge— 
kommen war, daß nur eine außerordentliche Urſache ihn in dieſe 
Geſellſchaft hatte führen koͤnnen und daß ſomit gleich etwas 
paſſieren mußte. Raſkolnikow, der neben Sofja ſtand, trat zur 
Seite, um ihn vorbeizulaſſen; Peter Petrowitſch bemerkte ihn 
anſcheinend gar nicht. Einen Augenblick darauf erſchien auch 
Lebeſjatnikow auf der Schwelle; ins Zimmer hinein kam er 
nicht, ſondern blieb, lebhaft intereſſiert, beinahe verwundert, 
dort ſtehen; er hoͤrte zu, ſchien ſich aber lange Zeit aus dem, 
was da vorging, nicht vernehmen zu koͤnnen. 


600 Schuld und Suͤhne 


— — —— nꝝj— —tI:gj . 


„Entſchuldigen Sie, wenn ich vielleicht ſtoͤre; aber es iſt eine 
ziemlich wichtige Angelegenheit,“ bemerkte Peter Petrowitſch 
für alle Anweſenden, ohne ſich an jemand im beſonderen zu 
wenden. „Es iſt mir ſogar recht erwuͤnſcht, eine größere Зи: 
hoͤrerſchaft zu haben. Amalia Iwanowna, ich bitte Sie in Ihrer 
Eigenſchaft als Wirtin der Wohnung ganz ergebenſt, dem Ge— 
ſpraͤche, das ich jetzt mit Sofja Iwanowna haben werde, Ihre 
Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Sofja Iwanowna,“ fuhr er fort, 
indem er ſich nunmehr direkt an die hoͤchſt erſtaunte und ſchon 
im voraus erſchrockene Sofja wandte, „von meinem Tiſche im 
Zimmer meines Freundes Andrei Semjonowitſch Lebeſjatni— 
kow iſt, wie ſich unmittelbar nach Ihrem Beſuche herausgeſtellt 
hat, eine mir gehoͤrige Reichsbanknote im Werte von hundert 
Rubeln verſchwunden. Wenn Sie auf irgendwelche Weiſe wiſſen 
und uns zeigen, wo ſie ſich jetzt befindet, ſo verſichere ich Ihnen 
mit meinem Ehrenworte und nehme alle Anweſenden dafuͤr als 
Zeugen, daß die Sache damit abgetan ſein wird. Im entgegen— 
geſetzten Falle werde ich mich genötigt ſehen, zu ſehr ernſten 
Maßregeln zu greifen, und dann .. . wuͤrden Sie ИФ den 
Schaden ſelbſt zuzuſchreiben haben.“ 

Im Zimmer herrſchte abſolutes Schweigen. Sogar die weinen: 
den Kinder waren ſtill geworden. Sofja ſtand leichenblaß da, 
blickte Luſchin an und war unfaͤhig, etwas zu antworten. Sie 
ſchien ihn noch gar nicht verſtanden zu haben. So vergingen 
einige Sekunden. 

„Nun alſo, wie iſts?“ fragte Luſchin und blickte ſie feſt an. 

„Ich weiß nicht ... ich weiß von nichts ...“ erwiderte Sofja 
endlich mit ſchwacher Stimme. 

„Nicht? Sie wiſſen es nicht?“ fragte Luſchin noch einmal und 
ſchwieg wieder ein paar Sekunden. „Beſinnen Sie ſich, Made⸗ 
moiſelle,“ fuhr er dann in ſtrengem Tone fort, aber immer noch 


Е. 
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Fünfter Teil 601 


fo, als ob er ihr ins Gewiſſen redete, „denken Sie nach; ich bin 
gern bereit, Ihnen noch etwas Zeit zur Überlegung zu laſſen. 
Bitte, erwaͤgen Sie dies: wenn ich nicht ſo feſt uͤberzeugt waͤre, 
ſo haͤtte ich als erfahrener Mann ſelbſtverſtaͤndlich nicht gewagt, 
Sie ſo geradezu zu beſchuldigen; denn fuͤr eine derartige direkte, 
oͤffentliche Beſchuldigung wuͤrde ich, wenn ſie luͤgenhaft oder 
auch nur irrtuͤmlich waͤre, ſelbſt in gewiſſem Sinne verantwort— 
lich ſein; das weiß ich ſehr wohl. Heute morgen habe ich fuͤr 
meine perſoͤnlichen Beduͤrfniſſe einige fuͤnfprozentige Staats— 
ſchuldſcheine, zuſammen im Nominalwerte von dreitauſend 
Rubeln, verkauft. Die Berechnung daruͤber ſteht in meinem 
Notizbuche eingetragen. Als ich nach Hauſe gekommen war, be— 
gann ich — das kann Andrei Semjonowitſch bezeugen — das 
Geld nachzuzaͤhlen, und nachdem ich zweitauſenddreihundert 
Rubel abgezaͤhlt hatte, ſteckte ich dieſe Summe in meine Brief— 
taſche und die Brieftaſche in die Seitentaſche meines Rockes. 
Auf dem Tiſche blieben gegen fuͤnfhundert Rubel liegen, in 
Banknoten, darunter drei Banknoten zu je hundert Rubeln. In 
dieſem Augenblicke kamen Sie, auf meine Aufforderung hin, 
herein und befanden ſich dann waͤhrend der ganzen Zeit Ihres 
Zuſammenſeins mit mir in auffallender Aufregung, ſo daß Sie 
ſogar dreimal mitten im Geſpraͤche aufſtanden und ohne ver— 
ſtaͤndlichen Grund eilig weggehen wollten, obgleich unſere Unter— 
redung noch nicht beendet war. Alles dies kann Andrei Se— 
mjonowitſch bezeugen. Wahrſcheinlich werden Sie ſelbſt, Made— 
moiſelle, ſich nicht weigern, als wahr zuzugeben und anzu— 
erkennen, daß ich Sie durch Andrei Semjonowitſch einzig und 
allein zu dem Zwecke zu mir rufen ließ, um mit Ihnen uͤber 
die hilfloſe, verzweifelte Lage Ihrer Stiefmutter Katerina Iwa— 
nowna, zu der ich nicht zum Gedaͤchtnismahle kommen konnte, 
Ruͤckſprache zu nehmen und mit Ihnen zu erwaͤgen, ob es ſich 


602 Schuld und Sühne 


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nicht empfehlen wuͤrde, zu ihren Gunſten eine Kollekte, eine 
Lotterie oder dergleichen zu veranſtalten. Sie haben mir ge— 
dankt und ſogar Tränen vergoſſen (ich erzähle alles fo, wie es 
ſich zugetragen hat, erſtens um Sie daran zu erinnern, und 
zweitens um Ihnen zu zeigen, daß auch nicht die geringſte 
Einzelheit meinem Gedaͤchtniſſe entſchwunden iſt). Hierauf nahm 
ich einen Zehnrubelſchein vom Tiſche und haͤndigte ihn Ihnen 
zugunſten Ihrer Stiefmutter als meinen perſoͤnlichen Beitrag 
und als eine erſte Beihilfe ein. Dies alles hat Andrei Semjono— 
witſch geſehen. Darauf begleitete ich Sie bis an die Tuͤr, wobei 
an Ihnen noch immer dieſelbe Aufregung zu bemerken war. 
Als ich dann mit Andrei Semjonowitſch allein geblieben war, 
unterhielt ich mich etwa zehn Minuten lang mit ihm, worauf er 
hinausging. Nun trat ich von neuem zu dem Tiſche und dem 
darauf liegenden Gelde, in der Abſicht, es nochmals nachzu— 
zaͤhlen und dann, wie ich mir ſchon vorher vorgenommen hatte, 
geſondert zu verwahren. Zu meinem Erſtaunen fehlte unter den 
Banknoten ein Hundertrubelſchein. Ich bitte alſo, uͤberlegen Sie 
ſich die Sache: auf Andrei Semjonowitſch kann ich unter keinen 
Umſtaͤnden Verdacht haben; ſchon des bloßen Gedankens daran 
ſchaͤme ich mich. Auch kann ich mich nicht in der Berechnung ge— 
irrt haben, da ich, kurz bevor Sie kamen, mit der ganzen Зе: 
rechnung fertig geworden war und das Reſultat richtig befunden 
hatte. Sie werden ſelbſt zugeben muͤſſen: wenn ich an Ihre Auf— 
regung und an Ihre Eile fortzukommen denke, ſowie daran, 
daß Sie Ihre Haͤnde eine Zeitlang auf dem Tiſche liegen hatten, 
und wenn ich ferner Ihre geſellſchaftliche Stellung und die da— 
mit verknuͤpften Gewohnheiten in Betracht ziehe, ſo ſehe ich 
mich ſozuſagen zu meinem eigenen Schrecken und ſogar wider 
meinen Willen genoͤtigt, bei dieſem Verdachte zu verharren, der 
allerdings entſetzlich, aber — begründet ift! Ich füge hinzu und 


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Fünfter Teil 603 


wiederhole noch einmal: trotz meiner beſtimmten Überzeugung 
muß ich mir doch ſagen, daß meine jetzige Beſchuldigung ein 
gewiſſes Riſiko fuͤr mich einſchließt. Aber wie Sie ſehen, habe 
ich doch nicht ſchweigen moͤgen; ich bin gegen Sie aufgetreten 
und will Ihnen auch den Grund ſagen: einzig und allein, Made— 
moiſelle, einzig und allein wegen Ihres ſchwarzen Undanks! 
Wie? Ich lade Sie im Intereſſe Ihrer armen Stiefmutter zu 
einer Beſprechung ein; ich uͤberreiche Ihnen eine meinen Ver— 
haͤltniſſen entſprechende Gabe von zehn Rubeln, und Sie danken 
mir gleich auf demſelben Fleck, gleich in demſelben Augenblick 
fuͤr all dies durch eine derartige Handlungsweiſe! Nein, das iſt 
denn doch gar zu haͤßlich! Dafuͤr muͤſſen Sie eine Lektion er— 
halten. Nun uͤberlegen Sie; ja, als Ihr aufrichtiger Freund 
(denn einen beſſern Freund koͤnnen Sie in dieſem Augenblicke 
nicht haben) bitte ich Sie: kommen Sie zur Beſinnung! Sonſt 
werde ich unerbittlich ſein! Nun, wie iſts?“ 

„Ich habe Ihnen nichts weggenommen,“ fluͤſterte Sofja in 
hoͤchſtem Entſetzen. „Sie haben mir zehn Rubel gegeben; hier, 
bitte, nehmen Sie fie zuruͤck.“ 

Sie zog ihr Taſchentuch aus der Taſche, ſuchte den Knoten, 
knuͤpfte ihn auf, nahm den Zehnrubelſchein heraus und hielt 
ihn Luſchin hin. 

„Und wegen der uͤbrigen hundert Rubel wollen Sie kein Ge— 
ſtaͤndnis ablegen?“ ſagte er im Tone des Vorwurfs und der 
eindringlichen Mahnung, ohne die Banknote zu nehmen. 

Sofja blickte ſich ringsum. Alle ſchauten mit ſo furchtbaren, 
ſtrengen, ſpoͤttiſchen, feindſeligen Geſichtern nach ihr hin. Sie 
richtete ihre Augen auf Raſkolnikow, . .. dieſer ftand an der 
Wand, die Arme uͤber der Bruſt verſchraͤnkt, und ſah ſie mit 
flammendem Blicke an. 

„O Gott!“ ſtoͤhnte ſie unwillkuͤrlich auf. 


— 


604 Schuld und Suͤhne 


„Amalia Iwanowna, es wird erforderlich ſein, die Polizei zu 
benachrichtigen, und deshalb bitte ich Sie ergebenſt, zunaͤchſt den 
Hausknecht rufen zu laſſen,“ ſagte Luſchin leiſe und ſogar in 
freundlichem Tone. 

„Gott der Barmherzige! Das habe ich mir doch gedacht, daß 
ſie ſtiehlt!“ rief Amalia Iwanowna und ſchlug die Haͤnde zu— 
ſammen. 

„So? Das haben Sie ſich gedacht?“ fragte Luſchin ſchnell. 
„Alſo hatten Sie auch fruͤher ſchon irgendwelche Gruͤnde zu 
ſolcher Annahme. Ich bitte Sie, verehrteſte Amalia Iwanowna, 
ſich Ihrer Worte zu erinnern, die Sie ja uͤbrigens auch in Gegen— 
wart von Zeugen geſprochen haben.“ 

Auf allen Seiten erhob ſich nun ploͤtzlich lautes Reden. Alle 
kamen in lebhafte Bewegung. 

„Wie? Wie?“ ſchrie auf einmal Katerina Iwanowna, die von 
ihrer erſten Beſtuͤrzung wieder zu ſich gekommen war, und ſtuͤrzte 
wie ein Hund, der ſich von der Kette losgeriſſen hat, auf Luſchin 
los. „Wie? Sie beſchuldigen ſie des Diebſtahls? Meine Sofja? 
O, Sie Schurke, Sie Schurke!“ 

Sie eilte zu Sofja hin und umſchlang ſie feſt, ganz feſt mit 
ihren abgemagerten Armen. 

„Sofja, wie haſt du die zehn Rubel von ihm annehmen koͤnnen! 
O, du Einfaͤltige! Gib ſie her! Gib gleich dieſe zehn Rubel her! 
Da! Nehmen Sie!“ 

Katerina Iwanowna riß Sofja die Banknote aus der Hand, 
knitterte ſie zu einem Knaͤuel zuſammen und ſchleuderte ihn, 
ausholend, Luſchin gerade ins Geſicht. Der Knaͤuel traf ihn ins 
Auge und fiel zuruͤckprallend auf den Fußboden. Amalia та: 
nowna ſprang hinzu und hob das Geld auf. Peter Petrowitſch 
wurde zornig. 

„Haltet die Verruͤckte feſt!“ rief er. 


Fünfter Teil 605 


In der Tür erſchienen in dieſem Augenblicke neben Lebeſjat— 
nikow noch einige Perſonen, zwiſchen denen auch die beiden 
neulich angekommenen Damen hervorſchauten. 

„Wie? Verruͤckt? Ich ſoll verruͤckt ſein? Du Eſel!“ kreiſchte 
Katerina Iwanowna. „Du biſt ſelbſt ein Eſel, ein Rechtsver— 
dreher, ein grundgemeiner Menſch! Sofja, Sofja wird ihm Geld 
wegnehmen! Sofja eine Diebin! Eher koͤnnte ſie dir etwas 
geben, du Eſel!“ Katerina Iwanowna brach in ein hyſteriſches 
Lachen aus. „Habt ihr ſchon je einen ſolchen Eſel geſehen?“ 
wandte ſie ſich ringsum an alle und zeigte auf Luſchin. „Wie? 
Du auch?“ es fiel ihr gerade die Wirtin in die Augen. „Du 
altes Hoͤkerweib, auch du willſt das beſtaͤtigen, daß ſie geſtohlen 
hat? Du greulicher preußiſcher Affe in der großen Krinoline! 
O, ihr Lumpenbande! Sie iſt ja ſeitdem gar nicht aus dem 
Zimmer hinausgegangen; gleich als ſie von dir, du Schurke, 
zuruͤckkam, hat fie ſich ganz in meiner Nähe an den Tiſch geſetzt; 
das haben alle geſehen. Da neben Rodion Romanowitſch hat 
ſie geſeſſen! Alſo viſitiert ſie doch! Da ſie nirgends hingegangen 
iſt, muͤßte ſie ja das Geld noch bei ſich haben! Viſitiere ſie nur, 
viſitiere ſie nur! Aber wenn du nichts findeſt, Freundchen, dann 
ſollſt du zur Verantwortung gezogen werden! Zum Zaren, zum 
Zaren ſelbſt laufe ich hin; er iſt barmherzig; ich werfe mich ihm 
zu Füßen, gleich, heute noch! Ich bin ein ſchutzloſes Weib! Man 
wird mich vorlaſſen! Denkſt du etwa, ich werde nicht vorgelaſſen 
werden? Da irrſt du dich, ich werde ſchon zu ihm gelangen! 
Du haſt wohl darauf gerechnet, daß ſie ſo ſchuͤchtern iſt? Darauf 
haſt du wohl deine Hoffnung geſetzt? Aber dafuͤr bin ich um ſo 
kuͤhner, Bruͤderchen! Du wirſt den kuͤrzeren ziehen! So viſitiere 
ſie doch! Immer zu! Nur zu!“ 

Und Katerina Iwanowna packte in ihrer Wut Luſchin an und 
zerrte ihn zu Sofja hin. 


606 Schuld und Suͤhne 


„Ich bin bereit, es darauf ankommen zu laſſen, und will die 
Verantwortung auf mich nehmen, . .. aber benehmen Sie ſich 
ruhiger, Madame, benehmen Sie ſich ruhiger. Daß Sie kuͤhn 
find, ſehe ich nur zu gut .. . Indeſſen, eine Viſitierung, ... 
das ... das .. . geht doch nicht fo," murmelte Luſchin, „das 
muß in Gegenwart der Polizei geſchehen, . . . es find ja freilich 
auch jetzt Zeugen genug vorhanden .. . Ich bin bereit, es darauf 
ankommen zu laſſen .. . Aber in jedem Falle iſt das für einen 
Mann eine mißliche Sache, ... wegen des Geſchlechts ... 
Wenn es unter Amalia Iwanownas Beihilfe geſchehen koͤnnte, 

. allerdings iſt das kein ordnungsmaͤßiges Verfahren ... 
Sicherlich nicht!“ 

„Beſtimmen Sie ſelbſt, wer ſie viſitieren ſoll! Mag es tun, 
wer da will!“ ſchrie Katerina Iwanowna. „Sofja, wende ihnen 
deine Taſchen um! Da, da! Sieh, du Scheuſal, da, ſie iſt leer, 
hier ſteckte das Taſchentuch drin, die Taſche iſt leer, ſiehſt du! 
Da iſt die andre Taſche, da, da! Siehſt du, ſiehſt du!“ 

Dabei wandte Katerina Iwanowna die beiden Taſchen eine 
nach der andern um oder riß ſie vielmehr nach außen. Aber aus 
der zweiten, der rechten Taſche, flog ploͤtzlich eine Banknote 
heraus, beſchrieb in der Luft einen Bogen und fiel dann vor 
Luſchins Fuͤßen auf den Boden. Alle hatten es geſehen; viele 
ſchrien auf. Peter Petrowitſch buͤckte ſich, nahm die Banknote 
mit zwei Fingern vom Fußboden auf, hob ſie in die Hoͤhe, ſo 
daß es alle ſahen, und faltete ſie auseinander. Es war ein auf 
den achten Teil ſeiner Groͤße zuſammengelegter Hundertrubel— 
ſchein. Peter Petrowitſch bewegte ſeinen Arm im Kreiſe herum 
und zeigte die Banknote allen. 

„Eine Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!“ 
heulte Amalia Iwanowna. „Nach Sibirien muͤſſen ſie geſchickt 
werden! Hinaus!“ 


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Fünfter Teil 607 


Von allen Seiten erſchollen Ausrufe des Staunens und der 
Entruͤſtung. Raſkolnikow ſchwieg und wendete die Augen nicht 
von Sofja ab; nur ſelten warf er Luſchin einen ſchnellen Blick 
zu. Sofja war wie beſinnungslos auf demſelben Fleck ſtehen 
geblieben; fie ſchien kaum erſtaunt zu fein. Ploͤtzlich uͤbergoß 
eine gluͤhende Roͤte ihr ganzes Geſicht; fie ſchrie auf und ет: 
barg das Geſicht in den Haͤnden. 

„Nein, ich bin es nicht geweſen! Ich habe nichts genommen! 
Ich weiß von nichts!“ rief ſie mit einem herzzerreißenden Auf— 
ſchrei und ſtuͤrzte zu Katerina Iwanowna hin. 

Dieſe ſchlang die Arme um ſie und druͤckte ſie feſt an ſich, 
als wollte ſie ſie mit ihrer Bruſt gegen alle verteidigen. 

„Sofja, Sofja, ich glaube es nicht! Siehſt du wohl, ich glaube 
es nicht!“ rief fie allem Augenſchein zum Trotz, ſchuͤttelte fie in 
den Armen wie ein Kind, kuͤßte ſie unzaͤhlige Male, ergriff ihre 
Haͤnde und bedeckte auch dieſe mit heißen Kuͤſſen. „Du ſollteſt 
das genommen haben? Ach, was ſind das fuͤr dumme Menſchen! 
O Gott! Dumm ſeid ihr, dumm!“ rief ſie, zu allen gewendet. 
„Ihr wißt noch gar nicht, ihr habt keine Ahnung davon, was fuͤr 
ein Herz ſie hat, ein wie gutes Maͤdchen ſie iſt! Sie ſollte je— 
mandem etwas wegnehmen, ſie! Eher zieht ſie ſich das letzte 
Kleid vom Leibe und verkauft es und geht barfuß und gibt euch 
alles hin, wenn ihr in Not ſeid; ſo iſt ſie! Auch den gelben Schein 
hat ſie nur deshalb genommen, weil meine Kinder vor Hunger 
umkamen; um unſertwillen hat fie ſich verkauft! ... Ach, du 
Dahingeſchiedener! Ach, du Dahingeſchiedener! Siehſt du wohl? 
Siehſt du wohl? Das iſt nun dein Gedaͤchtnismahl! O Gott! 
So verteidigt ſie doch; was ſteht ihr alle da? Rodion Romano— 
witſch! Warum treten denn Sie, Sie nicht fuͤr ſie ein? Glauben 
Sie es etwa auch? Ihr alle ſeid nicht ſo viel wert wie ihr fleiner 
Finger, ihr alle, ihr alle! O Gott! Schuͤtze du ſie endlich doch!“ 


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608 Schuld und Suͤhne 


Das Weinen der armen ſchwindſuͤchtigen, hilfloſen Katerina 
Iwanowna ſchien doch auf die Anweſenden ſtarken Eindruck zu 
machen. Es lag ein ſolcher Jammer, ein ſolches Leid in dieſem 
ſchmerzverzerrten, abgemagerten, ſchwindſuͤchtigen Geſichte, in 
dieſen eingeſchrumpften, noch blutigen Lippen, in dieſer heiſer 
kreiſchenden Stimme, in dieſem aufſchluchzenden Weinen, das 
wie Kinderweinen klang, in dieſem vertrauensvollen, kindlichen 
und dabei doch verzweifelten Flehen um Schutz, daß, wie es 
ſchien, alle mit der Ungluͤcklichen Mitleid empfanden. Peter 
Petrowitſch wenigſtens beeilte ſich, „ſein Bedauern auszu— 
ſprechen“. 

„Madame, Madame!“ rief er mit erhobener Stimme. „Sie 
ſelbſt werden ja durch das Geſchehene gar nicht beruͤhrt! Nie— 
mand beſchuldigt Sie der Anſtiftung oder der Teilnehmerſchaft, 
um ſo weniger, als Sie ja durch das Umwenden der Taſchen 
die Überführung bewerkſtelligt haben; daraus geht ja klar Бег: 
vor, daß Sie nichts Übles vermuteten. Ich bin bereit, mein 
außerordentliches Bedauern auszuſprechen, wenn, um mich ſo 
auszudruͤcken, es die bittre Armut geweſen iſt, wodurch ſich Sofja 
Semjonowna hat verleiten laſſen; aber warum, Mademoiſelle, 
wollten Sie denn kein Geſtaͤndnis ablegen? Fuͤrchteten Sie die 
Schande? Es war wohl Ihr erſter Schritt geweſen? Sie waren 
vielleicht zu faſſungslos? Alles begreiflich, ſehr begreiflich! ... 
Aber andrerſeits, warum haben Sie ſich auch auf ſolche Dinge 
eingelaſſen? Meine Herrſchaften!“ wandte er ſich an alle An— 
weſenden, „meine Herrſchaften! Aus Mitleid und ſozuſagen aus 
Teilnahme an dieſem Schmerze bin ich bereit zu verzeihen, 
ſelbſt jetzt noch, trotz der perſoͤnlichen Beleidigungen, die mir 
widerfahren ſind. Moͤge Ihnen, Mademoiſelle, die jetzige Be⸗ 
ſchaͤmung als Lehre fuͤr die Zukunft dienen,“ wandte er ſich an 
Sofja; „ich meinerſeits werde von weiteren Maßregeln abſehen; 


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Fünfter Teil 609 


meinetwegen mag die Sache hiermit abgetan fein. Alfo genug 
davon!“ 

Peter Petrowitſch ſchielte verſtohlen zu Raſkolnikow hin; ihre 
Blicke begegneten einander. Raſkolnikows flammender Blick 
drohte den andern zu Aſche zu verbrennen. Katerina Iwanowna 
ſchien uͤberhaupt nichts mehr gehoͤrt zu haben; ſie umarmte und 
kuͤßte Sofja wie eine Wahnſinnige. Auch die Kinder umſchlangen 
von allen Seiten Sofja mit ihren Armchen, und Polenka, die 
übrigens nicht recht verſtand, um was es ſich handelte, war 
ganz in Traͤnen aufgeloͤſt, verging faſt vor Schluchzen und ver— 
barg ihr vom Weinen geſchwollenes huͤbſches Geſichtchen an 
Sofjas Schulter. 

„Iſt das eine Gemeinheit!“ rief ploͤtzlich eine laute Stimme in 
der Tuͤr. 

Peter Petrowitſch blickte ſich haſtig um. 

„Iſt das eine Gemeinheit!“ ſagte Lebeſjatnikow noch einmal 
und blickte ihm unverwandt in die Augen. 

Peter Petrowitſch zuckte ordentlich zuſammen. Alle bemerkten 
es und erinnerten ſich deſſen ſpaͤter. Lebeſjatnikow trat ins 
Zimmer herein. 

„Und Sie haben ſich erdreiſtet, mich als Zeugen anzurufen?“ 
ſagte er, indem er auf Peter Petrowitſch zutrat. 

„Was ſoll das bedeuten, Andrei Semjonowitſch? Wovon reden 
Sie?“ murmelte dieſer. 

„Das bedeutet, daß Sie ein Verleumder ſind! Das habe ich 
gemeint!“ ſagte Lebeſjatnikow erregt und blickte ihn zornig mit 
feinen ſchwachſichtigen Augen an. 

Er war furchtbar ergrimmt. Raſkolnikow ließ keinen Blick von 
ihm, als ob er jedes Wort auffinge und auf die Wagſchale legte. 
Wieder herrſchte Schweigen. Peter Petrowitſch hatte faſt ganz 
ſeine Faſſung verloren, namentlich im erſten Augenblick. 

XIX. ao. 


610 Schuld und Suͤhne 


— — 


„Wenn Sie mir damit ... begann er ſtotternd. „Aber was 
haben Sie denn? Sind Sie bei Sinnen?“ 

„Ich bin ſchon bei Sinnen; aber Sie ſind ein Schurke! Ach, 
was iſt das fuͤr eine Gemeinheit! Ich habe hier jetzt den ganzen 
Vorgang mit angehoͤrt; ich habe abſichtlich immer noch gewartet, 
um uͤber die Sache voͤllig klar zu werden; denn ich muß geſtehen, 
ſelbſt jetzt durchſchaue ich den logiſchen Zuſammenhang noch 
nicht ganz .. . Warum haben Sie denn eigentlich das alles ge= 
tan? Das iſt mir unbegreiflich!“ 

„Aber was ſoll ich denn getan haben? So hoͤren Sie doch auf, 
in ſinnloſen Raͤtſeln zu ſprechen! Oder find Sie vielleicht Бе: 
trunken?“ 0 

„Sie moͤgen vielleicht trinken, Sie gemeiner Menſch, ich nicht. 
Ich trinke uͤberhaupt nie Schnaps, weil das meinen ganzen An— 
ſchauungen widerſtreitet! Denken Sie ſich,“ hier wandte Lebe— 
ſjatnikow ſich an alle Anweſenden, „er ſelbſt hat eigenhändig 
dieſen Hundertrubelſchein Sofja Semjonowna gegeben. Ich habe 
es geſehen, ich bin Zeuge, ich kann es beſchwoͤren! Er ſelbſt, er 
ſelbſt!“ 

„Sie find wohl uͤbergeſchnappt, Sie Milchbart?“ kreiſchte Zus 
ſchin. „Da ſteht fie Ihnen ja ſelbſt perfönlich gegenüber, und fie 
ſelbſt hat hier ſoeben in Gegenwart aller ausgeſagt, daß ſie 
außer den zehn Rubeln nichts von mir bekommen hat. Wie 
koͤnnen Sie denn da behaupten, daß ich ihr den Schein gegeben 
haͤtte?“ 

„Ich habe es geſehen, ich habe es geſehen!“ rief Lebeſjatnikow 
nachdruͤcklich. „Und obwohl das Schwoͤren meinen Anſchauungen 
widerſtreitet, fo bin ich doch bereit, ſofort vor Gericht jeden Бе: 
liebigen Eid darauf abzulegen; denn ich habe geſehen, wie Sie 
ihr die Banknote heimlich zuſteckten! Nur dachte ich Dummkopf, 
Sie wollten ihr damit eine Wohltat erweiſen! Als Sie ſich in 


Fünfter Teil 611 


der Tuͤr von ihr verabſchiedeten und fie ſich ummwandte und Sie 
ihr mit der einen Hand die Hand druͤckten, da haben Sie mit der 
andern Hand, mit der linken, ihr heimlich die Banknote in die 
Taſche geſteckt. Ich habe es geſehen, ich habe es geſehen!“ 

Luſchin wurde blaß. 

„Was ſchwatzen Sie da zuſammen!“ ſchrie er dreiſt. „Wie 
haͤtten Sie uͤberhaupt, da Sie doch am Fenſter ſtanden, die 
Banknote erkennen koͤnnen! Das war wohl eine Augentaͤuſchung; 
Sie mit Ihrer Schwachſichtigkeit! Sie faſeln!“ 

„Nein, es war keine Augentaͤuſchung! Und obwohl ich weit 
weg ſtand, ſo habe ich doch alles geſehen, ja, alles; und obwohl 
es vom Fenſter aus allerdings ſchwer war, die Banknote zu er— 
kennen (darin haben Sie recht), ſo wußte ich doch infolge eines 
beſonderen Zufalls genau, daß es gerade ein Hundertrubelſchein 
war; denn als Sie Sofja Semjonowna den Zehnrubelſchein 
gaben, da nahmen Sie (das habe ich ſelbſt geſehen) gleichzeitig 
einen Hundertrubelſchein vom Tiſche. Das habe ich geſehen, weil 
ich damals gerade in der Naͤhe ſtand; und da mir dabei ſofort 
ein beſtimmter Gedanke kam, ſo vergaß ich es nicht, daß Sie die 
Banknote in der Hand hatten. Sie hatten ſie zuſammengefaltet 
und hielten ſie die ganze Zeit uͤber in der geſchloſſenen Hand. 
Spaͤter hatte ich es ſchon beinahe wieder vergeſſen; aber als 
Sie aufſtanden, nahmen Sie die Banknote aus der rechten Hand 
in die linke und haͤtten ſie dabei beinahe hinfallen laſſen; da 
erinnerte ich mich wieder, weil mir wieder derſelbe Gedanke 
kam, daß Sie ihr naͤmlich, ohne daß ich es merken ſollte, eine 
Wohltat erweiſen wollten. Sie koͤnnen ſich vorſtellen, wie ich 
nun aufpaßte, — na, und da [аб ich, wie es Ihnen gelang, 
ihr die Banknote in die Taſche zu ſchieben. Ich habe es geſehen, 
ich habe es geſehen, und ich will es beſchwoͤren.“ 

Lebeſjatnikow war faft außer Atem gekommen. Von allen 


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612 Schuld und Suͤhne 


Seiten erſchollen Ausrufe verſchiedener Art, meisten des 
Staunens; jedoch waren auch ſolche darunter, die einen drohen— 
den Ton annahmen. Alle draͤngten ſich zu Peter Petrowitſch 
hin. Katerina Iwanowna ſtuͤrzte auf Lebeſjatnikow zu. 

„Andrei Semjonowitſch! Ich habe Sie verkannt! Beſchuͤtzen 
Sie ſie! Sie ſind der einzige, der fuͤr ſie eintritt! Sie iſt eine 
Waiſe; Gott hat Sie ihr gefandt! Andrei Semjonowitſch, beſter 
Freund, Vaͤterchen!“ 

Bei dieſen Worten warf ИФ Katerina Iwanowna, die kaum 
noch wußte, was ſie tat, vor ihm auf die Knie. 

„So ein Bloͤdſinn!“ ſchrie Luſchin raſend vor Wut. „Sie 
ſchwatzen Blödfinn, mein Herr! .. . Ich vergaß, ich erinnerte 
mich, ich erinnerte mich, ich vergaß‘, was hat das für Wert! 
Alſo ich haͤtte ihr die Banknote abſichtlich zugeſteckt? Wozu? 
Welchen Zweck ſollte © dabei gehabt haben? Was habe ich zu 
ſchaffen mit dieſer .. 

„Wozu? Das iſt es ja eben, was ich ſelbſt nicht verſtehe; aber 
daß ich eine wahre Tatſache erzaͤhle, das iſt ſicher! Ich irre mich 
ganz und gar nicht, Sie abſcheulicher Menſch, Sie Verbrecher; 
ganz im Gegenteil erinnere ich mich genau, wie mir aus dieſem 
Anlaß gleich damals eine beſtimmte Frage in den Kopf kam, 
naͤmlich als ich Ihnen dankte und Ihnen die Hand druͤckte. Ich 
fragte mich naͤmlich, warum Sie es ihr eigentlich heimlich in 
die Taſche geſteckt haͤtten. Das heißt, warum gerade heimlich? 
Sollten Sie das wirklich nur deswegen getan haben, weil Sie 
es vor mir verheimlichen wollten, da Sie wußten, daß ich der 
entgegengeſetzten Meinung bin und die private Wohltaͤtigkeit ver: 
werfe, die ja doch nie eine radikale Heilung herbeifuͤhrt? Na, 
ich kam ſchließlich zu der Meinung, Sie möchten ſich wohl tat: 
ſaͤchlich vor mir darüber ſchaͤmen, daß Sie einen ſolchen Batzen 
Geld weggaͤben, und außerdem dachte ich, Sie wollten ihr viel— 


Fünfter Teil 613 


leicht eine Überrafchung bereiten und fie in Staunen verſetzen, 
wenn fie in ihrer Taſche ganze hundert Rubel fände; denn 
manche Wohltaͤter lieben es ſehr, ihren Wohltaten in ſolcher 
Weiſe noch einen beſonderen Anſtrich zu geben; das weiß ich 
recht wohl. Dann kam mir auch der Gedanke, daß Sie fie viel— 
leicht auf die Probe ſtellen wollten, ob ſie wohl, wenn ſie das 
Geld faͤnde, kommen wuͤrde, um ſich zu bedanken. Dann, daß 
Sie vielleicht dem Danke aus dem Wege gehen wollten, .. 
na, wie man fo fagt, daß die rechte Hand nicht wiſſen ſoll, . .. 
kurz, etwas in dieſer Art. Nun alſo, es kamen mir damals eine 
ganze Menge verſchiedener Gedanken in den Sinn, ſo daß ich 
beſchloß, uͤber alles dies ſpaͤter nachzudenken; ich hielt es aber 
fuͤr taktlos, Ihnen zu verlautbaren, daß ich um Ihr Geheimnis 
wiſſe. Gleich darauf jedoch fiel mir ein, Sofja Semjonowna 
koͤnnte am Ende gar das Geld verlieren, ehe ſie von ſeinem 
Vorhandenſein etwas gemerkt hätte; darum beſchloß ich, hierher: 
zugehen, ſie herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß ihr ein 
Hundertrubelſchein in die Taſche geſteckt worden ſei. Da ich aber 
dabei an dem Zimmer der Kobuͤljatnikowſchen Damen vorbei— 
kam, fo ging ich vorher noch zu ihnen herein, um ihnen die ‚All: 
gemeine Kritik der poſitiven Methode‘ zu überbringen und ihnen 
beſonders einen Artikel von Piderit (übrigens auch einen von 
Wagner) zu empfehlen; dann kam ich hierher und wurde hier 
Zeuge dieſer abſcheulichen Szene! Haͤtte ich denn nun alle dieſe 
Gedanken haben und alle dieſe Überlegungen anſtellen koͤnnen, 
wenn ich nicht tatſaͤchlich haͤtte geſehen gehabt, daß Sie ihr die 
hundert Rubel in die Taſche ſteckten?“ 

Als Andrei Semjonowitſch ſeine wortreichen Erlaͤuterungen 
mit einer ſo logiſchen Folgerung abgeſchloſſen hatte, war er 
ganz matt geworden, und der Schweiß rann ihm vom Geſichte. 
Denn leider beſaß er nicht die Faͤhigkeit, ſeine Gedanken auf 


614 Schuld und Suͤhne 


ruſſiſch klar und deutlich darzulegen (uͤbrigens konnte er auch 
feine andere Sprache), fo daß er jetzt nach feiner ſachwalteriſchen 
Großtat auf einmal ganz erſchoͤpft war; ja, es ſah ſogar ſo aus, 
als ob er davon magerer geworden waͤre. Trotzdem hatte ſeine 
Rede ganz außerordentlich gewirkt. Er hatte mit ſo lebhaftem 
Affekt und in ſo echtem Tone eigener Überzeugung geſprochen, 
daß ihm offenbar alle glaubten. Peter Petrowitſch fuͤhlte, daß 
ſeine Sache ſchlecht ſtand. 

„Was kuͤmmert es mich, was Ihnen da für dumme ‚Fragen‘ 
in den Kopf gekommen ſind,“ rief er. „Das iſt kein Beweis! 
Das koͤnnen Sie alles getraͤumt haben; weiter nichts! Und ich 
ſage Ihnen, mein Herr, daß Sie luͤgen! Sie luͤgen und ver— 
leumden mich, weil Sie auf mich wuͤtend ſind, namentlich aus 
Arger darüber, daß ich von Ihren freidenkeriſchen, gottlofen 
ſozialiſtiſchen Plaͤnen nichts wiſſen wollte. Das iſt der ganze 
Grund!“ | 

Aber dieſe Ausrede brachte ihm keinen Nutzen; im Gegenteil 
wurde auf allen Seiten ein unwilliges Murren laut. 

„Aha, ſo willſt du dich herausreden!“ rief Lebeſjatnikow. 
„Aber da irrſt du dich! Rufe nur die Polizei, dann will ich einen 
Eid ſchwoͤren! Nur das eine kann ich nicht begreifen, warum er 
eine ſo gemeine Handlung riskiert hat! So ein abſcheulicher, 
niedertraͤchtiger Menſch!“ 

„Ich kann es erklaͤren, warum er eine ſolche Handlung gewagt 
hat, und werde noͤtigenfalls auch meinerſeits einen Eid ablegen,“ 
ſagte nun endlich Raſkolnikow mit feſter Stimme und trat vor. 

Er war anſcheinend ruhig und feſten Sinnes. Schon bei ſeinem 
bloßen Anblicke wurde es allen klar, daß er wirklich wußte, wie 
die Sache zuſammenhing, und daß die Loͤſung des Raͤtſels jetzt 
erfolgen werde. 

„Jetzt iſt mir alles völlig verſtaͤndlich geworden,“ fuhr Raſkol⸗ 


Fünfter Teil 615 


nikow fort und wandte ſich dabei direkt an Lebeſjatnikow. 
„Gleich vom Beginne dieſer Szene an argwoͤhnte ich, daß irgend— 
ein ſchaͤndlicher Betrug dahinterſtecke; dieſer Argwohn gruͤndete 
ſich auf gewiſſe beſondere Umſtaͤnde, die nur mir allein bekannt 
ſind und die ich ſofort allen darlegen werde; aus dieſen Um— 
ftänden erklart ſich die ganze Sache. Sie, Andrei Semjonowitſch, 
haben durch Ihre wertvolle Ausſage mir zu einem reſtloſen Ver— 
ſtaͤndnis verholfen. Ich bitte alle, alle, mir zuzuhoͤren. Diefer 
Herr“ (er zeigte auf Luſchin) „verlobte ſich vor kurzem mit einem 
jungen Maͤdchen, naͤmlich mit meiner Schweſter Awdotja Roma— 
nowna Raſkolnikowa. Aber nach ſeiner Ankunft in Petersburg 
geriet er vorgeſtern bei unſerm erſten Zuſammenſein in Streit 
mit mir, und ich wies ihm die Tuͤr, wofuͤr ich zwei Zeugen habe. 
Er hat einen ſehr ſchlechten Charakter ... Vorgeſtern wußte ich 
noch nicht, daß er hier in dieſer Wohnung bei Ihnen, Andrei 
Semjonowitſch, logiert und daß er ſomit an demſelben Tage, 
wo wir den Streit gehabt hatten, das heißt, vorgeſtern, Zeuge 
war, wie ich als Freund des verſtorbenen Herrn Marmeladow 
feiner Gattin Katerina Iwanowna etwas Geld zum Begraͤbniſſe 
uͤbergab. Er ſchrieb ſofort einen Brief an meine Mutter und 
teilte ihr mit, ich hätte das Geld nicht Katerina Iwanowna, 
ſondern Sofja Semjonowna gegeben, und bediente ſich dabei 
der gemeinſten Ausdruͤcke über... . über Sofja Semjonownas 
Charakter, das heißt, er machte Andeutungen uͤber die Art 
meiner Beziehungen zu Sofja Semjonowna, — alles das, wie 
Sie leicht ſelbſt ſehen, mit der Abſicht, mich mit meiner Mutter 
und Schweſter zu verfeinden, wenn er ſie zu dem Glauben 
brachte, daß ich ihr letztes Geld, womit fie mich unterſtuͤtzt hatten, 
zu unwuͤrdigen Zwecken vergeudete. Geſtern abend ſtellte ich 
meiner Mutter und meiner Schweſter gegenuͤber in ſeiner Gegen— 
wart die Wahrheit feſt, indem ich bewies, daß ich das Geld 


616 Schuld und Sühne 


Katerina Iwanowna zur Beſtreitung der Begraͤbniskoſten, und 
nicht Sofja Semjonowna, uͤbergeben habe und daß ich mit 
Sofja Semjonowna vorgeſtern uͤberhaupt noch nicht bekannt 
war und ſie vorher ſogar noch nie geſehen hatte. Dabei fuͤgte 
ich hinzu, daß er, Peter Petrowitſch Luſchin, trotz all ſeiner 
vorzuͤglichen Fähigkeiten noch nicht jo viel wert ſei wie der kleine 
Finger von боба Semjonowna, über die er fo abfaͤllig geſprochen 
habe. Auf ſeine Frage, ob ich wohl Sofja Semjonowna auf⸗ 
fordern wuͤrde, neben meiner Schweſter Platz zu nehmen, ant⸗ 
wortete ich, daß ich es bereits an eben dem Tage getan haͤtte. 
Erbittert daruͤber, daß meine Mutter und meine Schweſter nicht 
auf ſeine Verleumdungen hin ſich mit mir verfeinden wollten, 
begann er im weiteren Wortwechſel ihnen unverzeihliche Frech⸗ 
heiten zu ſagen. Es kam zu einem vollſtaͤndigen Bruche, und 
er wurde aus dem Hauſe gewieſen. Alles dies begab ſich geſtern 
abend. Jetzt bitte ich Sie, ganz beſonders aufzumerken: ſtellen 
Sie ſich vor, es waͤre ihm jetzt gelungen zu beweiſen, daß Sofja 
Semjonowna eine Diebin ſei, ſo haͤtte er doch damit zugleich 
meiner Mutter und meiner Schweſter bewieſen, daß er mit 
ſeiner uͤblen Beurteilung nahezu recht gehabt habe und daß er 
mit Fug und Recht uͤber die von mir beliebte Gleichſtellung 
meiner Schweſter und Sofja Semjonownas empoͤrt geweſen ſei, 
und daß er ſomit durch einen Angriff auf mich die Ehre meiner 
Schweſter, ſeiner Braut, verteidigt und geſchuͤtzt habe. Kurz, 
durch alles dies haͤtte er mich von neuem mit meinen Angehoͤrigen 
entzweien koͤnnen, und er hoffte beſtimmt, auf dieſe Art wieder 
mit ihnen in ein freundliches Verhaͤltnis zu gelangen. Davon 
will ich ſchon gar nicht einmal reden, daß er ſich dabei auch an 
mir perſoͤnlich raͤchen wollte, weil er Grund zu der Annahme 
hatte, daß Sofja Semjonownas Ehre und Gluͤck mir ſehr teuer 
ſeien. Das alſo war ſein ganzer wohluͤberlegter Plan! So faſſe 


Fünfter Teil 617 


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ich die Sache auf. Das war der ganze Grund für fein Handeln; 
ein anderer kann nicht exiſtieren.“ 

So oder ungefaͤhr ſo ſchloß Raſkolnikow ſeine Rede, die oft— 
mals durch Ausrufe ſeiner aufmerkſamen Zuhoͤrer unterbrochen 
worden war. Aber trotz aller Unterbrechungen hatte er energiſch, 
ruhig, beſtimmt, klar und feſt geſprochen. Seine ſcharfe Stimme, 
ſein uͤberzeugter Ton und ſein ernſter Geſichtsausdruck machten 
auf alle einen gewaltigen Eindruck. 

„Ja, ja, [о muß es geweſen ſein!“ pflichtete ihm Lebeſjatnikow, 

ganz hingeriſſen, bei. „So muß es geweſen ſein; denn gleich 
nachdem Sofja Semjonowna zu uns ins Zimmer getreten war, 
fragte er mich ausdruͤcklich, ob Sie hier waͤren, ob ich Sie nicht 
unter Katerina Jwanownas Gaͤſten geſehen Бане. Er rief mich 
dazu beiſeite, ans Fenſter, und fragte mich dort leiſe. Folglich 
war ihm fuͤr die Ausfuͤhrung ſeines Vorhabens Ihre Anweſen— 
heit notwendig. Das iſt richtig, das iſt alles ganz richtig!“ 

Luſchin ſchwieg und laͤchelte veraͤchtlich. Indes ſah er ſehr blaß 
aus. Er ſchien zu uͤberlegen, wie er ſich wohl aus der Affaͤre 
ziehen koͤnne. Vielleicht haͤtte er mit Vergnuͤgen alles auf ſich 
beruhen laſſen und waͤre davongegangen; aber das war im 
gegenwaͤrtigen Augenblicke ſo gut wie unmoͤglich; damit haͤtte 
er geradezu die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Beſchuldi— 
gungen zugegeben, auch in dem Punkte, daß er Sofja Semjo— 
nowna verleumdet habe. Außerdem war auch das Publikum, 
das ſowieſo ſchon angetrunken war, allzu aufgeregt. Der 
Proviantbeamte, der uͤbrigens nicht alles verſtanden hatte, ſchrie 
am allermeiſten und brachte einige Maßnahmen in Vorſchlag, 
die fuͤr Luſchin ſehr unangenehm geweſen waͤren. Es waren aber 
auch Leute da, die nicht betrunken waren; denn aus allen 
Zimmern waren die Mieter zuſammengeſtroͤmt. Die drei Polen 
waren ganz beſonders ergrimmt und ſchrien ihm fortwaͤhrend 


618 Schuld und Suͤhne 


—D— — . — — — — ——ü 22 


zu: „Pan lajdak!“ (Sie Lump, wobei fie noch allerlei Drohungen 
auf polniſch murmelten. Sofja hatte geſpannt zugehoͤrt, ſchien 
aber gleichfalls nicht alles verſtanden zu haben; ſie machte den 
Eindruck, als ſei ſie ſoeben aus einer Ohnmacht erwacht. Sie 
wandte ihre Augen von Raſkolnikow nicht ab, in dem Gefühle, 
daß er ihr einziger Schuß ſei. Katerina Iwanowna atmete muͤh— 
ſam und pfeifend und befand ſich allem Anſcheine nach in einem 
Zuſtande furchtbarer Erſchoͤpfung. Am duͤmmſten ſtand Amalia 
Iwanowna da; ſie hielt den Mund geoͤffnet und konnte ſich 
offenbar aus der Sache abſolut nicht vernehmen. Das einzige, 
was ſie begriff, war, daß Peter Petrowitſch irgendwie in die 
Klemme geraten ſein muͤſſe. Raſkolnikow bat, noch etwas hinzu— 
fuͤgen zu duͤrfen; aber man ließ ihn nicht weiterreden; alle 
ſchrien und draͤngten ſich unter Schimpfworten und Drohungen 
um Luſchin herum. Dieſer aber zeigte ſich nicht feige. Da er 
ſah, daß er in betreff der gegen Sofja erhobenen Beſchuldigung 
ſein Spiel verloren hatte, ſo nahm er ſeine Zuflucht ohne weiteres 
zur Unverſchaͤmtheit. 

„Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie; draͤngen Sie 
nicht ſo; laſſen Sie mich hindurch!“ ſagte er, indem er ſich durch 
den Haufen hindurcharbeitete. „Und tun Sie mir den Gefallen, 
Ihre Drohungen zu unterlaſſen; ich verſichere Sie, das iſt ganz 
zwecklos, Sie erreichen dadurch nichts; aͤngſtlich bin ich nicht; im 
Gegenteil werden Sie, meine Herren, dafuͤr zur Verantwortung 
gezogen werden, daß Sie ein Kriminalvergehen in Schutz ge— 
nommen haben. Die Diebin iſt voͤllig uͤberfuͤhrt, und ich werde die 
Sache weiter verfolgen. Die Herren vom Gericht ſind nicht ſo blind 
und . . . nicht betrunken und werden nicht zwei ſolchen notoriſchen 
Gottesleugnern, Revolutionären und Freidenkern Glauben ſchen— 
ken, die mich aus perſoͤnlicher Rachſucht beſchuldigen, was ſie 
ja in ihrer Dummheit ſelbſt eingeſtehen ... Alſo erlauben Sie!“ 


Fünfter Teil 619 


„Ziehen Sie ſofort aus meinem Zimmer aus und laſſen Sie 
ſich nie wieder bei mir blicken; zwiſchen uns beiden iſt alles zu 
Ende! Und wenn ich bedenke, wie ich mich abgequaͤlt habe, ihm 
unſer ganzes Syſtem auseinanderzuſetzen, ... volle zwei Wochen 
lang! ...“ 

„Ich habe Ihnen doch vorhin, als Sie mich noch zuruͤckhalten 
wollten, ſelbſt geſagt, Andrei Semjonowitſch, daß ich auszuziehen 
beabſichtigte; jetzt fuͤge ich nur noch hinzu, daß Sie ein Dumm— 
kopf ſind. Ich wuͤnſche Ihnen guten Erfolg fuͤr eine Kur Ihrer 
phyſiſchen und geiſtigen Sehkraft. Erlauben Sie, meine Herren!“ 

Er draͤngte ſich durch; aber ihn ſo leichten Kaufs, lediglich unter 
Schimpfwoͤrtern, wegzulaſſen, das war nicht im Geſchmacke des 
Proviantbeamten; er nahm ein Glas vom Tiſche, holte aus und 
warf damit nach Peter Petrowitſch. Indeſſen flog das Glas 
Amalia Iwanowna gerade an den Kopf. Sie kreiſchte auf; der 
Proviantbeamte aber, der bei dem Schwunge das Gleichgewicht 
verloren hatte, ſank ſchwerfaͤllig unter den Tiſch. Peter Petro— 
witſch begab ſich in ſein Zimmer und hatte bereits eine halbe 
Stunde darauf das Haus verlaſſen. Die von Natur aͤngſtliche 
Sofja hatte ſchon von jeher gewußt, daß niemand leichter ins 
Verderben zu bringen war als fie und daß jeder fie faſt ſtraf— 
los beleidigen konnte; trotzdem aber hatte ſie es bis auf dieſe 
Stunde fuͤr moͤglich gehalten, dem Ungluͤck durch Vorſicht, durch 
Sanftmut und durch Demut allen und jedem gegenuͤber zu ent— 
gehen. Die jetzige Enttaͤuſchung war ihr gar zu ſchmerzlich. Sie 
war allerdings imſtande, geduldig und ohne Murren alles, auch 
dies, zu ertragen; aber im erſten Augenblick fiel es ihr doch gar 
zu ſchwer. Als der erſte Schreck und die erſte Betaͤubung vor— 
uͤber waren und ſie alles begriff und ſich vergegenwaͤrtigte, da 
preßte ihr, trotz ihres Triumphes und des voͤlligen Beweiſes 
ihrer Schuldloſigkeit, das Gefuͤhl der Hilfloſigkeit und der er— 


620 Schuld und Sühne 


littenen F doch das Herz qualvoll N, Ein Wein⸗ 
frampf befiel ſie. Schließlich konnte fie es nicht länger aushalten; 
fie ſtürzte aus dem Zimmer und lief nach Haufe. Das geſchah, 
gleich nachdem Luſchin weggegangen war. Amalia Iwanowna 
mochte, als ihr unter lautem Gelaͤchter der Anweſenden das 
Glas gegen den Kopf flog, es auch nicht ruhig hinnehmen, daß 
ſie ſo fuͤr fremde Suͤnden buͤßen ſollte. Kreiſchend ſtuͤrzte ſie 
wie eine Raſende auf Katerina Iwanowna los, der ſie die Schuld 
an allem beimaß. 

„Hinaus aus der Wohnung! Augenblicklich! Marſch, hinaus!“ 

Mit dieſen Worten fing ſie an, alles, was ihr von Katerina 
Iwanownas Sachen unter die Haͤnde kam, auf dem Fußboden 
in einen Haufen zuſammenzuwerfen. Katerina Iwanowna, 
ohnehin ſchon völlig erſchoͤpft, halb ohnmaͤchtig, atemlos und 
blaß, ſprang von dem Bette, auf das ſie kraftlos niedergeſunken 
war, in die Höhe und warf ſich gegen Amalia Iwanowna. Aber 
der Kampf war zu ungleich; dieſe ſtieß ſie wie eine Feder von 
ſich. 

„Wie? Nicht genug daran, daß man uns auf das gottloſeſte 
verleumdet hat, will auch dieſe Kreatur ihr Muͤtchen an mir 
kuͤhlen? Wie? Am Begraͤbnistage meines Mannes, nachdem ſie 
eben an meinem gaſtlichen Tiſche geſeſſen hat, jagt ſie mich aus 
der Wohnung, auf die Straße, mit den vaterloſen Waiſen? Ja, 
wo ſoll ich denn bleiben?“ ſtoͤhnte das arme Weib ſchluchzend 
und keuchend. „O Gott!“ rief ſie auf einmal, und ihre Augen 
funkelten, „gibt es denn keine Gerechtigkeit? Wenn du uns arme 
Verlaſſene nicht ſchuͤtzeſt, wen willſt du denn dann ſchuͤtzen? 
Aber wir wollen einmal ſehen! Es gibt noch Recht und Ge— 
rechtigkeit auf der Welt, und ich werde ſie zu finden wiſſen! 
Und ſofort! Warte nur, du gottloſes Geſchoͤpf! Polenka, bleibe 
bei den Kindern; ich komme bald wieder. Wartet auf mich, 


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wenns nicht anders ift, auf der Straße! Wir wollen doch einmal 
ſehen, ob es noch Gerechtigkeit auf der Welt gibt!“ 

Katerina Iwanowna warf dasſelbe gruͤne Tuch von drap de 
dame um den Kopf, das der verſtorbene Marmeladow in feiner 
Erzählung Raſkolnikow gegenüber erwähnt hatte, drängte ſich 
durch den wuͤſten, betrunkenen Schwarm der Gaͤſte hindurch, 
die noch immer das Zimmer erfuͤllten, und lief weinend und 
wehklagend auf die Straße hinaus, in der feſten Abſicht, irgend— 
wo ſofort unter allen Umſtaͤnden und um jeden Preis Gerechtig— 
keit zu finden. Polenka verkroch ſich in ihrer Angſt mit den 
Kindern in die Ecke auf den Kaſten, umſchlang, am ganzen 
Leibe zitternd, die beiden Kleinen und wartete ſo auf die Ruͤck— 
kehr der Mutter. Amalia Iwanowna tobte im Zimmer umher, 
kreiſchte, jammerte, ſchleuderte alles, was ihr in die Haͤnde kam, 
auf den Fußboden und vollfuͤhrte einen greulichen Spektakel. 
Die Mieter ſchrien durcheinander: manche redeten uͤber das Vor— 
gefallene, ſoweit fie es verſtanden hatten; andere zankten ſich 
und ſchimpften einander; einige fingen an zu ſingen. 

„Jetzt wird es auch fuͤr mich Zeit,“ dachte Raſkolnikow. „Nun 
wollen wir einmal ſehen, Sofja Semjonowna, was Sie jetzt 
ſagen werden!“ 

Er ging nach Sofjas Wohnung. 


Fünfter Teil 621 


IV 


Raſkolnikow war ein energiſcher und mutiger Fürfprecher 
Sofjas gegen Luſchin geweſen, trotzdem er ſo viel eigne Angſt 
und eignes Leid in ſeiner Seele mit ſich herumtrug. Aber nach 
alledem, was er am Vormittag durchgemacht hatte, war er 
ordentlich erfreut geweſen uͤber die Gelegenheit, an die Stelle 
der ihm unertraͤglich gewordenen Empfindungen andere ſetzen 


622 Schuld und Suͤhne 


zu koͤnnen, ganz abgeſehen von der perſoͤnlichen, herzlichen Teil— 
nahme, die ihn zu ſeinem Eintreten fuͤr Sofja veranlaßt hatte. 
Dabei hatte er jedoch fortwaͤhrend an die bevorſtehende Zu— 
ſammenkunft mit Sofja denken muͤſſen, und dieſer Gedanke 
hatte ihn zeitweiſe ſchrecklich beunruhigt; er mußte, mußte ihr 
ſagen, wer Liſaweta ermordet hatte, ahnte im voraus, welche 
ſchreckliche Qual ihm dies bereiten wuͤrde, und ſtraͤubte ſich gegen 
dieſe Qual gleichſam mit vorgeſtreckten Haͤnden. Als er Katerina 
Iwanownas Wohnung verließ und ausrief: „Nun, was werden 
Sie jetzt ſagen, Sofja Semjonowna?“ da befand er ſich offenbar 
noch in einem Zuſtande aͤußerlicher Erregung; er fühlte ſich 
mutig, kampfluſtig und ſtolz auf den Sieg, den er ſoeben uͤber 
Luſchin davongetragen hatte. Aber es ging ihm ſeltſam. Als 
er zu Kapernaumows Wohnung gelangt war, merkte er, daß 
ihn eine ploͤtzliche Schwaͤche und Furcht uͤberkam. Unſchluͤſſig 
blieb er vor der Tuͤr ſtehen und legte ſich die ſonderbare Frage 
vor: „Iſt es wirklich notwendig, daß ich ſage, wer Liſaweta er— 
mordet hat?“ Sonderbar war die Frage allerdings, weil er 
gleichzeitig fuͤhlte, daß nicht nur ein Verſchweigen, ſondern ſelbſt 
ein Aufſchub, auch nur auf kurze Zeit, geradezu unmoͤglich ſei. 
Er wußte nicht, warum das unmoͤglich ſei, er fuͤhlte es nur, 
und dieſes qualvolle Bewußtſein ſeiner Schwaͤche gegenuͤber der 
Notwendigkeit druͤckte ihn ganz nieder. Um dem Schwanken 
und der Qual ein Ende zu machen, oͤffnete er ſchnell die Tuͤr 
und ſuchte von der Schwelle aus mit ſeinen Blicken Sofja. Sie 
ſaß an dem Tiſchchen, hatte die Ellbogen darauf geſtuͤtzt und hielt 
ihr Geſicht in den Haͤnden verborgen; aber als ſie Raſkolnikow 
erblickte, ſtand ſie ſchnell auf und kam ihm entgegen, als ob ſie 
ihn erwartet haͤtte. 

„Was waͤre ohne Sie aus mir geworden!“ ſagte ſie haſtig, 
als ſie in der Mitte des Zimmers mit ihm zuſammentraf. 


Fünfter Teil 623 


— 


Offenbar hatte ſie lebhaft gewuͤnſcht, ihm dies fo bald als möge 
lich zu ſagen, und eben deshalb auf ihn gewartet. 

Raſkolnikow trat an den Tiſch und ſetzte ſich auf den Stuhl, 
von dem ſie ſoeben aufgeſtanden war. Sie ſtellte ſich zwei Schritte 
entfernt vor ihn hin, genau wie tags zuvor. 

„Nicht wahr, Sofja?“ ſagte er und ſpuͤrte auf einmal, daß ihm 
die Stimme bebte. „Dieſe ganze Anſchuldigung war doch nur 
‚infolge Ihrer geſellſchaftlichen Stellung und der damit ver: 
knuͤpften Gewohnheiten“ möglich. Haben Sie das vorhin ver— 
ſtanden?“ 

Ein tiefſchmerzlicher Ausdruck uͤberzog ihr Geſicht. 

„Ach, ſprechen Sie doch nicht zu mir ſo wie geſtern!“ unter— 
brach ſie ihn. „Bitte, fangen Sie nicht von neuem davon an. 
Die Qual iſt fo ſchon groß genug ...“ 

Sie laͤchelte, ſo ſchnell ſie es vermochte, aus Furcht, daß dieſer 
Vorwurf vielleicht ſein Mißfallen erregen koͤnnte. 

„Es war dumm von mir,“ fuhr ſie fort, „daß ich von dort weg— 
ging. Wie mag es da jetzt zugehen? Ich wollte eben wieder hin— 
gehen; aber ich dachte immer, daß ... daß Sie herkommen 
wuͤrden.“ 

Er erzählte ihr, daß Amalia Iwanowna die Familie aus der 
Wohnung hinauswerfe und daß Katerina Iwanowna пед: 
gelaufen ſei, um „Gerechtigkeit zu ſuchen“. 

„Ach, mein Gott!“ rief Sofja erſchrocken. „Wir wollen ſchnell 
hingehen ...“ 

Sie griff nach ihrer Mantille. 

„Immer dieſelbe Geſchichte!“ rief Raſkolnikow in gereiztem 
Tone. „Sie haben fuͤr niemand Gedanken als fuͤr Ihre An— 
gehoͤrigen! Bleiben Sie jetzt doch bei mir!“ 

„Aber ... was wird aus Katerina Iwanowna?“ 

„Katerina Iwanowna wird Ihnen ſicher nicht davonlaufen; 


624 Schuld und Sühne 


die wird ſchon von ſelbſt zu Ihnen kommen, da ſie einmal von 
Hauſe weggerannt iſt,“ fuͤgte er muͤrriſch hinzu. „Und wenn ſie 
Sie dann hier nicht trifft, fo find Sie daran ſchuld . ..“ 

Sofja ſetzte ſich in qualvoller Unſchluͤſſigkeit auf einen Stuhl. 
Raſkolnikow ſchwieg, blickte auf den Fußboden und [апп über 
etwas nach. 

„Allerdings hat es Luſchin jetzt nicht gewollt,“ begann er, ohne 
Sofja anzublicken. „Wenn er es aber gewollt haͤtte oder es 
irgendwie in ſeine Plaͤne hineingepaßt haͤtte, ſo wuͤrde er Sie 
ohne mein und Lebeſjatnikows zufaͤlliges Dazwiſchenkommen 
ins Gefaͤngnis gebracht haben. Nicht wahr?“ 

„Ja,“ ſagte ſie mit ſchwacher Stimme. „Ja!“ wiederholte ſie 
zerſtreut und unruhig. | 

„Und es waͤre doch ſehr leicht möglich geweſen, daß ich nicht 
da war. Und was nun gar Lebeſjatnikow betrifft, fo kam der 
nur ganz zufaͤllig dazu.“ 

Sofja ſchwieg. 

„Nun, und wenn Sie ins Gefaͤngnis gekommen waͤren, was 
dann? Erinnern Sie ſich an das, was ich geſtern zu Ihnen 
ſagte?“ 

Sie antwortete wieder nicht. Er wartete ein Weilchen. 

„Ich dachte ſchon, Sie wuͤrden wieder aufſchreien: Ach, ſagen 
Sie doch fo etwas nicht, hören Sie auf!“ ſpottete Raſkolnikow, 
aber es klang gekuͤnſtelt. „Nun, Sie ſchweigen wieder?“ fragte 
er nach einer kleinen Pauſe. „Wir muͤſſen doch uͤber irgend etwas 
miteinander reden. Da waͤre es mir nun gerade intereſſant, zu 
ſehen, wie Sie jetzt eine ‚Frage‘ (um Lebeſjatnikows Ausdruck 
zu gebrauchen) loͤſen wuͤrden.“ Er ſchien in Verwirrung zu ge— 
raten. „Nein, wirklich, ich rede im Ernſt. Stellen Sie ſich einmal 
vor, Sofja, Sie wuͤßten alle Abſichten Luſchins vorher, Sie 
müßten, wuͤßten ſicher, daß Katerina Iwanowna und die Kinder 


Fünfter Teil 625 


durch die Verwirklichung dieſer Abſichten völlig zugrunde де: 
richtet werden wuͤrden (nebenbei auch Sie ſelbſt; aber da Sie 
ſich ſelbſt fuͤr nichts achten, ſo erwaͤhne ich Sie eben nur neben— 
bei), auch Polenka, denn ſie wuͤrde ja dieſen ſelben Weg ein— 
ſchlagen muͤſſen. Nun alſo: wenn Sie dann daruͤber zu ent— 
ſcheiden haͤtten, ob er am Leben bleiben ſolle oder jene, ich meine, 
ob Katerina Iwanowna ſterben oder Luſchin durch den Tod an 
der Veruͤbung ſeiner Schaͤndlichkeiten gehindert werden ſolle, 
wie wuͤrden Sie dann entſcheiden? Wer von ihnen ſoll ſterben? 
Das frage ich Sie!“ 

Sofja ſah ihn beunruhigt an; ſie glaubte, daß bei dieſer un— 
ſicheren, weit ausholenden Rede irgend etwas Beſonderes im 
Hintergrunde verborgen ſei. 

„Es ahnte mir ſchon, daß Sie nach ſo etwas fragen wuͤrden,“ 
ſagte ſie und blickte ihn forſchend an. 

„Schoͤn, meinetwegen; aber wie wuͤrden Sie entſcheiden?“ 

„Warum fragen Sie nach etwas, was doch ganz unmoͤglich 
iſt?“ erwiderte Sofja mit ſichtlichem Widerſtreben. 

„Alſo iſt es beſſer, daß Luſchin am Leben bleibt und ſeine 
Schaͤndlichkeiten veruͤbt? Wagen Sie auch darauf keine be— 
ſtimmte Antwort zu geben?“ 

„Ich kenne doch Gottes Ratſchluͤſſe nicht ... Wozu fragen Sie 
Dinge, auf die es doch keine Antwort gibt? Wozu dieſe nutz— 
loſen Fragen? Wie koͤnnte der Fall eintreten, daß ſo etwas von 
meiner Entſcheidung abhinge? Und wer hat mich hier zum 
Richter daruͤber geſetzt, wer leben bleiben и. und wer nicht 
leben bleiben ſoll?“ 

„Ja, wenn Sie Gottes Ratſchluß da mit hineinmengen, dann 
iſt freilich nichts zu machen,“ murmelte Raſkolnikow grimmig. 

„Sagen Sie doch lieber offen, was Sie eigentlich wollen!“ 
rief Sofja ſchmerzlich. „Sie zielen wieder auf irgend etwas hin. 
XIX. 0. 


626 Schuld und Suͤhne 


. . . Sind Sie denn nur darum hergekommen, um mich zu 
quaͤlen?“ 

Sie konnte ſich nicht mehr halten und brach in bittere Traͤnen 
aus. Duͤſter und gramvoll blickte er ſie an. So vergingen wohl 
fuͤnf Minuten. 

„Du haſt recht, Sofja!“ ſagte er endlich leiſe. 

Er war ploͤtzlich ein ganz anderer geworden. Der gemachte, 
freche und trotz des Gefuͤhls der Kraftloſigkeit herausfordernde 
Ton war verſchwunden. Selbſt ſeine Stimme war auf einmal 
ſchwaͤcher geworden. 

„Ich habe dir geſtern ſelbſt geſagt, ich wuͤrde nicht herkommen, 
um dich um Verzeihung zu bitten, und doch habe ich eigentlich 
gleich damit begonnen, um Verzeihung zu bitten ... Denn 
was ich da von Luſchin und Gottes Ratſchluß ſagte, das war in 
meinem Intereſſe geſprochen ... Darin lag eine Bitte um Зет: 
zeihung, Sofja ...“ 

Er wollte lächeln; aber nur ein kraftloſer, unvollendeter An⸗ 
ſatz zu einem Laͤcheln wurde auf ſeinem blaſſen Geſichte ſicht— 
bar. Er ließ den Kopf ſinken und verbarg das Geſicht in den 
Haͤnden. 

Und ploͤtzlich erfuͤllte ein ſeltſames, unerwartetes Gefühl fein 
Herz, eine Art von grimmigem Haſſe gegen боба. Selbſt ет 
ſtaunt und erſchrocken uͤber dieſes Gefuͤhl, hob er ſchnell den 
Kopf in die Hoͤhe und blickte ſie forſchend an; aber er begegnete 
ihrem verftörten Blicke, der in qualvoller Sorge auf ihn gerichtet 
war; heiße Liebe ſprach aus dieſem Blicke, und ſein ſcheinbarer 
Haß verſchwand wie ein Geſpenſt. Es war nicht Haß geweſen; 
er hatte ein Gefuͤhl fuͤr ein anderes gehalten. Die Urſache war nur 
geweſen, daß jetzt der verhaͤngnisvolle Augenblick gekommen war. 

Wieder bedeckte er ſein Geſicht mit den Haͤnden und ließ den 
Kopf ſinken. Ploͤtzlich uͤberzog eine Blaͤſſe ſein Geſicht; er ſtand 


Fünfter Teil 627 


vom Stuhle auf, {аб Sofja an und feste ſich, ohne ein Wort zu 
reden und ohne ſelbſt zu wiſſen, was er tat, auf ihr Bett. 

Dieſer Augenblick hatte fuͤr ſeine Empfindung eine entſetzliche 
Ahnlichkeit mit jenem Augenblicke, als er hinter der Alten ſtand, 
bereits das Beil aus der Schlinge losgemacht hatte und ſich 
ſagte, daß nun keine Sekunde mehr zu verlieren ſei. 

„Was iſt Ihnen?“ fragte Sofja, der ganz bange geworden war. 

Er konnte kein Wort hervorbringen. Den Hergang bei der Er— 
oͤffnung, die er ihr machen wollte, hatte er ſich ganz, ganz anders 
im voraus vorgeſtellt gehabt und begriff ſelbſt nicht, was jetzt 
in ihm vorging. Sie ging leiſe zu ihm hin, ſetzte ſich neben ihn 
auf das Bett und wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. 
Ihr Herz ſchlug heftig und drohte zu zerſpringen. Die Lage 
wurde unerträglich; er wandte fein totenblaſſes Geſicht zu ihr 
hin; ſeine Lippen verzogen ſich kraftlos in dem Bemuͤhen, ein 
Wort herauszubringen. Sofja wurde von Entſetzen gepackt. 

„Was iſt Ihnen?“ fragte ſie noch einmal und bog ſich dabei 
ein wenig von ihm weg. 

„Nichts, Sofja! Angſtige dich nicht ... Unſinn! Wirklich, 
wenn man es vernuͤnftig uͤberlegt, es iſt Unſinn!“ murmelte er 
mit der Miene eines Fieberkranken, der von ſich nichts weiß. 
„Warum bin ich eigentlich hergekommen, wenn ich dich doch nur 
quälen will?“ fügte er ploͤtzlich hinzu und blickte fie an. „Wirk: 
lich, warum? Das frage ich mich fortwährend, Sofja . ..“ 

Er hatte ſich dieſe Frage vor einer Viertelſtunde vielleicht tat— 
ſaͤchlich vorgelegt; aber jetzt redete er das in völliger Kraftloſig— 
keit nur ſo hin; er wußte kaum von ſich ſelbſt und fuͤhlte ein 
unaufhoͤrliches Zittern und Froͤſteln im ganzen Koͤrper. 

„Ach, wie ſchwer Sie leiden!“ ſagte ſie mit ſchmerzlicher Teil— 
nahme, indem ſie ihn betrachtete. 

„Es iſt ja alles Unſinn! . . . Шо höre mal, Sofja,“ er lächelte 


RR 


628 Schuld und Sühne 


wieder (fo ein blaſſes, mattes Lächeln von ganz kurzer Dauer), 
„erinnerft du dich, was ich dir geftern ſagen wollte?“ 

Sofja wartete in großer Unruhe. 

„Ich ſagte zu dir beim Fortgehen, daß ich vielleicht fuͤr immer 
von dir Abſchied naͤhme; wenn ich aber heute wiederkaͤme, ſo 
würde ich dir ſagen, . . . wer Liſaweta ermordet hat.“ 

Sie begann am ganzen Leibe zu zittern. 

„Nun, alſo ich bin hergekommen, um es dir zu ſagen.“ b 

„Haben Sie das wirklich geſtern .. .“, fluͤſterte fie mit Эт: 
ſtrengung. „Woher wiſſen Sie es denn?“ fragte ſie haſtig, als 
ſammelte ſie auf einmal wieder ihre Gedanken. 

Ihr Atem ging ſchwer; ihr Geſicht wurde immer blaſſer und 
blaſſer. 

„Ich weiß es.“ 

Sie ſchwieg etwa eine Minute lang. 

„Hat man ihn herausbekommen?“ fragte ſie ſchuͤchtern. 

„Nein, man hat ihn nicht herausbekommen.“ 

„Wie koͤnnen Sie denn dann wiſſen, wer es geweſen iſt?“ 
fragte ſie wieder kaum hoͤrbar und wieder nach einem Schweigen, 
das faſt eine Minute dauerte. 

Er wandte ſich zu ihr um und blickte ſie ſcharf und un— 
verwandt an. g 

„Rate!“ antwortete er mit dem fruͤheren verzerrten, matten 
Laͤcheln. 

Krampfhafte Zuckungen liefen durch ihren ganzen Koͤrper. 

„Warum ... warum ... erſchrecken Sie mich ... denn ſo?“ 
fragte fie und lächelte dabei wie ein Kind. 

„Ich muß doch wohl ſehr nahe befreundet mit ihm ſein,. .. 
da ich es weiß,“ fuhr Raſkolnikow fort und ſah ihr dabei un— 
ausgeſetzt ins Geſicht, als koͤnnte er ſeine Augen gar nicht von 
ihr abwenden. „Er wollte dieſe Liſaweta ... nicht ermorden. 


Fünfter Teil 629 


. . . Er hat ſie ... nur zufällig ermordet ... Er wollte bloß 
die alte Frau ermorden, ... weil er wußte, daß fie allein war, 
. . . darum war er hingegangen ... Und da kam Liſaweta 
dazu .. . Da ermordete er auch ſie.“ 

Es verging noch eine entſetzliche Minute; beide ſahen ein— 
ander an. 

„Du kannſt es alſo nicht raten?“ fragte er auf einmal mit einer 
Empfindung, als ob er ſich von einem Turme herabſtuͤrzte. 

„Nein,“ flüfterte Sofja kaum hörbar. 

„Sieh einmal ordentlich her!“ 

Sobald er das geſagt hatte, ließ eine Empfindung, die er ſchon 
von fruͤher her kannte, ihm ploͤtzlich wieder das Herz zu Eis er— 
ſtarren: er blickte ſie an, und es war ihm auf einmal, als ſaͤhe 
er in ihrem Geſichte das Geſicht Liſawetas. Er erinnerte ſich 
deutlich an Liſawetas Geſichtsausdruck, als er damals mit dem 
Beile auf ſie zutrat und ſie vor ihm nach der Wand zuruͤckwich, 
die Hand ein wenig vorſtreckend, mit einem geradezu kinder— 
haften Ausdruck von Angſt im Geſicht, ganz genau wie kleine 
Kinder, die, auf einmal etwas in Furcht verſetzt, den Gegenſtand 
ihrer Furcht ſtarr und aͤngſtlich anblicken, zuruͤckweichen und, die 
Händchen vorſtreckend, zu weinen anfangen. Faſt ganz ebenſo 
ging es jetzt bei Sofja. Ebenſo kraftlos, mit der gleichen Angſt 
ſah ſie ihn eine Weile an; dann ſtreckte ſie auf einmal die linke 
Hand vor, beruͤhrte ganz leiſe, wie abwehrend, mit den Fingern 
ſeine Bruſt und begann ganz langſam ſich vom Bette zu erheben, 
wobei ſie immer mehr vor ihm zuruͤckwich und ihr auf ihn ge— 
richteter Blick immer ſtarrer wurde. Ihr Entſetzen teilte ſich auch 
ihm mit: ganz dieſelbe Angſt zeigte ſich auch auf ſeinem Ge— 
ſichte, und er ſchaute ſie ganz ebenſo an, beinahe ſogar mit dem 
gleichen kinderhaften Laͤcheln. 

„Haſt du es geraten?“ fluͤſterte er endlich. 


630 Schuld und Suͤhne 


„O Gott!“ rang ſich ein furchtbarer Klageſchrei aus ihrer Bruſt. 

Kraftlos ſank ſie auf das Bett zuruͤck, mit dem Geſicht in die 
Kiſſen. Aber im naͤchſten Augenblick richtete ſie ſich ſchnell wieder 
auf, ruͤckte ihm eilig naͤher, ergriff ſeine beiden Haͤnde, druͤckte 
ſie mit ihren duͤnnen Fingerchen, ſo feſt ſie konnte, und ſah ihm 
wieder ſtarr, als koͤnnte ſie die Augen gar nicht von ihm los— 
bekommen, ins Geſicht. Mit dieſem letzten, verzweiflungsvollen 
Blicke wollte ſie die letzte Hoffnungsmoͤglichkeit, falls es eine 
ſolche noch für fie gäbe, erſpaͤhen und erhafchen. Aber es war 
nichts mehr zu hoffen; es blieb kein Zweifel uͤbrig; alles war ſo, 
wirklich ſo! Selbſt nachher, in ſpaͤteren Zeiten, wenn ſie ſich an 
dieſen Augenblick erinnerte, erſchien es ihr ſeltſam und wunder— 
bar, woran ſie eigentlich damals ſofort mit ſolcher Sicherheit 
geſehen habe, daß keinerlei Zweifel mehr beſtehen koͤnne. Sie 
konnte gewiß nicht ſagen, daß ſie etwas Derartiges vorhergeahnt 
haͤtte. Und doch hatte ſie jetzt, nachdem er ihr eben erſt dieſe 
Mitteilung gemacht hatte, das Gefühl, als hätte fie tatſaͤchlich 
gerade dies vorhergeahnt. 

„Laß es genug ſein, Sofja, hoͤr auf! Quaͤle mich nicht!“ bat 
er in tiefſtem Schmerze. 


Er hatte ihr die Eröffnung in ganz, ganz anderer Weiſe machen | 


wollen, und nun war es fo gekommen. 

Wie von Sinnen ſprang ſie auf und ging haͤnderingend bis 
in die Mitte des Zimmers; aber dann wendete ſie ſich ſchnell 
um und ſetzte ſich wieder neben ihn, ſo daß ihre Schulter faſt 
die feine beruͤhrte. Ploͤtzlich fuhr fie zufammen, wie wenn ihr 
jemand einen heftigen Stich verſetzt haͤtte, ſchrie auf und warf 
ſich, ohne ſelbſt zu wiſſen, warum ſie das tat, vor ihm auf die 
Knie. 

„Wie haben Sie, Sie das uͤbers Herz bringen koͤnnen!“ rief 
ſie in Verzweiflung. 


Fünfter Teil 631 


Sie ſprang von den Knien auf, fiel ihm um den Hals, umfchlang 
ihn und druͤckte ihn mit ihren Armen feſt an ſich. 

Raſkolnikow machte ſich von ihr los und blickte ſie mit truͤbem 
Laͤcheln an. 

„Wie ſonderbar du biſt, Sofja! Du umarmſt und kuͤßt mich, 
nachdem ich dir das von mir geſagt habe. Du weißt wohl gar 
nicht, was du tuſt.“ 

„Nein, nein, auf der ganzen Welt gibt es jetzt keinen ungluͤck— 
licheren Menſchen als dich!“ rief fie wie eine Raſende, ohne feine 
Bemerkung gehoͤrt zu haben, und brach dann in ein ſchluchzendes 
Weinen aus, das ſie krampfhaft ſchuͤttelte. 

Ein Gefuͤhl, das er ſeit langer Zeit nicht mehr gekannt hatte, 
flutete wie eine maͤchtige Welle in ſein Herz hinein und machte 
es weich und milde. Er widerſtrebte dieſem Gefuͤhle nicht: zwei 
Traͤnen quollen aus ſeinen Augen und blieben an den Wimpern 
haͤngen. 

„Du willſt mich alſo nicht verlaſſen, Sofja?“ ſagte er und blickte 
ſie mit einem Schimmer von Hoffnung an. 

„Nein, nein, nie und nirgend!“ rief Sofja. „Ich folge dir, 
ich folge dir uͤberallhin! O Gott! . . . Ach, ich Ungluͤckliche! ... 
Und warum, warum habe ich dich nicht fruͤher gekannt? Warum 
biſt du nicht fruͤher gekommen? O Gott!“ 

„Nun, jetzt bin ich doch gekommen.“ 

„Jetzt! O, was iſt jetzt zu tun! ... Wir bleiben zuſammen, 
wir bleiben zuſammen!“ rief ſie wie von Sinnen und umarmte 
ihn von neuem. „Ich gehe mit dir zuſammen zur Zwangsarbeit 
nach Sibirien!“ 

Es gab ihm einen ploͤtzlichen Ruck; das fruͤhere veraͤchtliche, 
hochmuͤtige Laͤcheln trat auf ſeine Lippen. 

„Vielleicht beabſichtige ich noch gar nicht in die Zwangsarbeit 
zu gehen, Sofja,“ ſagte er. 


632 Schuld und Sühne 


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Nach dem erſten Sturm leidenſchaftlichen, qualvollen Mit: 
gefuͤhls mit dem Unglüdlichen erſchreckte fie nun wieder die 
furchtbare Vorſtellung von dem Morde. In dem veraͤnderten 
Tone, in dem er die letzten Worte geſprochen hatte, hoͤrte ſie 
den Moͤrder. Erſtaunt blickte ſie ihn an. Sie wußte von der Tat 
noch gar nichts weiter, weder warum, noch wie, noch wozu er 
ſie begangen hatte. Jetzt blitzten alle dieſe Fragen auf einmal 
in ihrem Bewußtſein auf. Und damit zugleich kam wieder der 
unglaͤubige Zweifel: „Er ein Moͤrder? Er? War das denn moͤg— 
lich?“ 

„Was iſt denn nur? Wo bin ich denn?“ fagte fie in tiefer Зе: 
nommenheit, als ob ſie noch gar nicht zu ſich gekommen waͤre. 
„Wie haben Sie, ein Menſch wie Sie, . .. wie haben Sie ſich 
nur zu ſo etwas entſchließen koͤnnen? Wie iſt das moͤglich?“ 

„Nun, um zu rauben! Hoͤr auf, Sofja!“ antwortete er muͤde 
und mit einem Beiklang von Ärger. 

Sofja ſtand wie betaͤubt da; aber ploͤtzlich rief ſie: 

„Du warſt hungrig! Du . .. du wollteſt deiner Mutter helfen? 
Ja?“ 

„Nein, Sofja, nein,“ murmelte er und ließ den Kopf ſinken, 
„ich war nicht fo hungrig, . .. meiner Mutter wollte ich aller— 
dings helfen, aber... auch das war nicht der eigentliche Grund. 
. . . Quaͤle mich nicht, Sofja.“ | 

Sofja ſchlug die Hände zuſammen. 

„Iſt denn das alles wirklich, wirklich wahr? O Gott, wie ent— 
ſetzlich! Wer kann das glauben? ... Und wie ſtimmt das зи: 
ſammen: Sie geben ſelbſt Ihr Letztes fort, und Sie haben ge— 
mordet, um zu rauben! O!“ ſchrie fie ploͤtzlich auf. „Das Geld, 
das Sie Katerina Iwanowna gegeben haben, ... o Gott, ... 
war das auch .. . war das auch . ..“ 


Fünfter Teil 633 


— — — чнниининиинивнинныи 


„Nein, Sofja,“ unterbrach er ſie ſchnell, „dieſes Geld ſtammte 
nicht daher; daruͤber magſt du dich beruhigen! Dieſes Geld hatte 
mir meine Mutter durch Vermittlung eines Kaufmanns ge— 
ſchickt, und ich hatte es erhalten, waͤhrend ich krank lag, an dem— 
ſelben Tage, an dem ich es dann fortgegeben Бабе... Raſu— 
michin hat es geſehen; er hat es ſogar fuͤr mich in Empfang 
genommen. Dieſes Geld war mein; es gehoͤrte mir, war mein 
rechtmaͤßiges Eigentum.“ 

Sofja hoͤrte ihm verſtaͤndnislos zu und ſtrengte ihren Kopf 
an, um die Sache zu begreifen. 

„Jenes andere Geld . . . ich weiß übrigens gar nicht einmal, 
ob auch Geld dabei war,“ fuͤgte er leiſe und wie nachſinnend 
hinzu, „ich habe ihr damals einen Beutel, den ſie am Halſe trug, 
weggenommen, einen ledernen Beutel, er war ganz voll und 
prall, ... aber ich habe nicht hineingeſehen; ich hatte wohl keine 
Zeit dazu. Nun, und die Wertſachen, allerlei Knoͤpfchen und 
Ketten, . .. all dieſe Sachen und den Beutel habe ich auf einem 
fremden Hofe am Wofſneſenſki-Proſpekt unter einem Steine ver: 
borgen, gleich am andern Morgen ... Da liegt auch jetzt noch 
alles ...“ 

Sofia hörte mit geſpannter Aufmerkſamkeit zu. 

„Aber warum ſagten Sie denn ... wie koͤnnen Sie denn ſagen, 
Sie haͤtten es getan, um zu rauben, und doch haben Sie gar 
nichts fuͤr ſich behalten?“ fragte ſie ſchnell; ſie griff gleichſam 
nach einem Strohhalm. 

„Ich weiß noch nicht, . .. ich habe mich noch nicht entſchieden, 
. . ob ich dieſes Geld nehmen ſoll oder nicht,“ antwortete er, 
wieder wie nachſinnend; aber plößlich kam er zu ſich und lachte 
haſtig und kurz auf. „Ach, was fuͤr eine Dummheit habe ich da 
eben hingeredet, nicht wahr?“ 

Durch Sofjas Kopf zuckte der Gedanke: „Iſt er auch nicht etwa 


634 Schuld und Sühne 


gar irrſinnig?“ Aber fie wies dieſen Gedanken fofort wieder von 
ſich: „Nein, dies hier muß etwas anderes ſein.“ Aber was hier 
eigentlich vorlag, das verſtand fie nicht, ſchlechterdings nicht! 

„Weißt du, Sofia,” fagte er plöglich wie infolge einer Ein: 
gebung, „ich will dir etwas jagen: wenn ich nur deshalbgemordet 
hätte, weil ich hungrig war“ (er betonte jedes einzelne Wort 
und ſah ſie mit einem raͤtſelhaften, aber innigen Blicke an), 
„dann waͤre ich jetzt gluͤcklich! Das kannſt du mir glauben! ... 
Und was haͤtteſt du denn davon, was haͤtteſt du denn davon,“ 
rief er einen Augenblick darauf wie verzweifelt, „wenn ich jetzt 
ohne weiteres zugaͤbe, ſchlecht gehandelt zu haben? Was haͤtteſt 
du von dieſem toͤrichten Triumphe uͤber mich? Ach, Sofja, bin 
ich denn deshalb jetzt zu dir gekommen?“ 

Sofja wollte wieder etwas ſagen; aber ſie ſchwieg. 

„Darum forderte ich dich auch geſtern auf, mit mir zu gehen, 
weil du der einzige Menſch biſt, der mir noch geblieben iſt.“ 

„Wohin ſoll ich denn mitgehen?“ fragte Sofja. 

„Nicht zum Stehlen und Morden, ſei unbeſorgt, nicht zu 
ſolchen Dingen,“ erwiderte er bitter laͤchelnd. „Wir ſind zu 
verſchiedene Naturen ... Und weißt du, Sofja, ich Бабе ей 
jetzt, erſt in dieſem Augenblicke begriffen, wohin ich dich eigent— 
lich geſtern aufforderte mitzukommen! Geſtern aber, als ich dich 
aufforderte, wußte ich ſelbſt nicht, wohin. Nur eins hatte ich 
bei meiner Bitte geſtern und bei meinem Kommen heute im 
Auge: verlaß mich nicht. Du wirſt mich nicht verlaſſen, Sofja?“ 

Sie druͤckte ihm die Hand. 

„Warum habe ich es ihr nur geſagt, warum habe ich es ihr 
nur entdeckt!“ rief er einen Augenblick darauf ganz verzweifelt 
aus und ſah ſie mit grenzenloſer Qual an. „Nun erwarteſt du 
Erklaͤrungen von mir, Sofja; nun ſitzeſt du da und warteſt; 
das ſehe ich; aber was ſoll ich dir ſagen? Es wird dir ja doch 


* 


nichts davon begreiflich ſein; du wirſt dich nur zu Tode graͤmen 
. . . um meinetwillen! Siehſt du, nun weinſt du und umarmſt 
mich wieder, — warum umarmſt du mich denn? Weil ich ſelbſt 
die Laſt nicht laͤnger zu ertragen vermochte und herkam, um ſie 
einem andern auf die Schultern zu buͤrden: ‚Leide auch du, 
davon wird mir leichter werden!“ Und kannſt du einen ſolchen 
Schurken lieben?“ 

„Leideſt du denn nicht auch Qualen?“ rief Sofja. 

Wieder flutete eben jenes Gefuͤhl wie eine gewaltige Woge 
in ſein Herz hinein und machte es wieder fuͤr einen Augenblick 
ſanft und weich. 

„Sofja, ich habe ein boͤſes Herz; beachte das wohl, daraus er— 
klaͤrt ſich vieles. Ich bin auch nur darum hergekommen, weil 
ich ein boͤſer Menſch bin. Mancher waͤre nicht hergekommen. 
Ich aber bin ein Feigling und ... ein Schurke! Aber . . . laſſen 
wir das. Um all das handelt es ſich jetzt nicht . . . Ich muß jetzt 
reden und weiß nicht, wie ich anfangen ſoll . ..“ 

Er hielt inne und uͤberlegte. 

„Ja, wir beide ſind zu verſchiedene Naturen!“ rief er wieder. 
„Wir paſſen nicht zueinander. Warum, ja warum bin ich nur 
hergekommen! Das kann ich mir nie verzeihen!“ 

„Nein, nein, es iſt gut, daß du gekommen biſt!“ rief Sofja. 
„Es iſt beſſer, daß ich es erfahren habe, viel beſſer!“ 

Er ſchaute ſie voll Schmerz an. 

„Und was war denn eigentlich der Grund?“ ſagte er, als ob 
er mit ſeiner Überlegung fertig geworden waͤre. „Ja, der Grund 
war der! Hoͤre: ich wollte ein Napoleon werden, darum habe 
ich einen Mord begangen .. . Nun, iſt es dir jetzt verſtaͤndlich?“ 

„Nein,“ fluͤſterte Sofja naiv und ſchuͤchtern. „Aber ſprich 
nur weiter, ſprich nur weiter! Soviel mir noͤtig iſt, werde ich 
ſchon davon verſtehen!“ bat ſie ihn. 


Fünfter Teil 635 


RT 
5 


636 Schuld und Sühne 


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„Wirſt du das? Nun gut, wir wollen ſehen!“ 

Er ſchwieg und uͤberlegte lange. 

„Die Sache iſt die: ich legte mir einmal die Frage vor, wenn 
zum Beiſpiel Napoleon an meiner Stelle geweſen waͤre und, 
um ſeine Laufbahn zu beginnen, weder Toulon noch Agypten 
noch den Übergang uͤber den St. Bernhard gehabt haͤtte, ſondern 
wenn ſtatt all dieſer ſchoͤnen, großartigen Dinge einfach nur ein 
laͤcherliches altes Weib, eine Regiſtratorwitwe, dageweſen waͤre, 
die er uͤberdies noch haͤtte ermorden muͤſſen, um aus ihrem 
Kaſten Geld zu entwenden (um der Laufbahn willen, verſtehſt 
du?), nun alſo, haͤtte er ſich dann wohl dazu entſchloſſen, wenn 
er auf andre Weiſe nicht haͤtte in ſeine Laufbahn eintreten 
koͤnnen? Wuͤrde ihm dieſes Mittel zuwider geweſen ſein, weil 
es gar zu wenig großartig und . . . und weil es ſuͤndhaft wäre? 
Ich muß dir geſtehen, daß ich mich mit dieſer „Frage ſchrecklich 
lange abgequaͤlt habe, ſo daß ich, als ich ſchließlich die Loͤſung 
fand (ich fand fie ganz ploͤtzlich), mich meiner Schwerfaͤlligkeit 
ſchaͤmte. Die Loͤſung war aber die: das Mittel waͤre ihm nicht 
nur nicht zuwider geweſen, ſondern er waͤre uͤberhaupt nicht 
einmal auf den Gedanken gekommen, daß dieſe Tat nicht groß— 
artig ſei, ... er hätte gar nicht verſtanden, was einem daran 
zuwider ſein koͤnnte. Und wenn er auf keine andre Weiſe in 
feine Laufbahn hätte eintreten koͤnnen, fo hätte er die Alte аб: 
gewuͤrgt, ehe ſie auch nur einen Laut haͤtte von ſich geben 
koͤnnen, ohne alles Bedenken! Nun, und da .. . ließ auch ich 
meine Bedenken fallen, . .. ich tötete ſie ... nach dem Bei⸗ 
ſpiele einer ſolchen Autoritaͤt. So war der Hergang, ganz ge— 
nau fo! Kommt dir das lächerlich vor? Ja, Sofja, das Laͤcher— 
lichſte iſt dabei eben dies, daß die Sache wirklich ſo zuging.“ 

Dem Mädchen kam es ganz und gar nicht lächerlich vor. 

„Sprechen Sie zu mir lieber ganz geradezu, ... ohne Bei⸗ 


Fünfter Teil 637 


ſpiele,“ bat fie ihn noch ſchuͤchterner und mit kaum hoͤrbarer 
Stimme. 

Er wandte ſich zu ihr um, blickte ſie traurig an und erfaßte 
ihre Haͤnde. 

„Du haſt wieder recht, Sofja. Das iſt ja alles Unſinn, nur 
leeres Geſchwaͤtz! Siehſt du: du weißt ja, daß meine Mutter 
ſo gut wie nichts beſitzt. Meine Schweſter hat eine gute Bildung 
erhalten (eigentlich hat ſich das zufällig [о gemacht) und Ш nun 
dazu verurteilt, ſich als Gouvernante durchzubringen. All ihre 
Hoffnungen ſetzten die beiden auf mich. Ich ſtudierte, konnte 
mich aber auf der Univerſitaͤt nicht erhalten und ſah mich ge— 
nötigt, vorläufig auszutreten. Und wenn ich mich auch weiter 
haͤtte durchſchleppen koͤnnen, ſo haͤtte ich doch nur hoffen koͤnnen, 
in zehn, zwoͤlf Jahren, falls ſich die Umſtaͤnde guͤnſtig geſtalteten, 
Lehrer oder Beamter mit tauſend Rubeln Gehalt zu werden ...“ 
(Er ſprach, als ſagte er eine auswendig gelernte Lektion auf.) 
„Aber bis dahin waͤre meine Mutter vor Kummer und Sorgen 
zugrunde gegangen, und es waͤre mir doch nicht gelungen, ihr 
ein ruhiges Daſein zu verſchaffen, und meine Schweſter ... 
mit der hätte es noch ſchlimmer gehen koͤnnen! ... Und was 
iſt das fuͤr eine Exiſtenz, wenn man ſein ganzes Leben lang an 
allen Freuden vorbeigehen, ſich von allen Genuͤſſen abwenden 
muß, ſeiner Mutter nicht helfen kann und es ſich demuͤtig ge— 
fallen laſſen muß, daß die Schweſter beleidigt wird? Was hat 
ein ſolches Leben fuͤr einen Zweck? Etwa daß man, nachdem 
man ſeine Angehoͤrigen begraben hat, ſich neue anſchafft, eine 
Frau und Kinder, und dieſe dann auch ohne einen Groſchen 
Geld und ohne einen Biſſen Brot zuruͤcklaͤßt? Alſo ... alſo da 
beſchloß ich, mich des Geldes der alten Frau zu bemaͤchtigen, 
um fuͤr die naͤchſten Jahre meine Exiſtenz zu ermoͤglichen, ohne 
daß meine Mutter ſich fuͤr mich abquaͤlen muͤßte, naͤmlich um 


9 


638 Schuld und Suͤbne 


——— 


die Fortſetzung meines Studiums ſicherzuſtellen und mir die 
erſten Schritte nach Beendigung des Studiums zu erleichtern, — 
und ich wollte das alles großzügig und in durchgreifender Weiſe 
machen, um mir eine voͤllig neue Lebenslaufbahn zu ſchaffen 
und einen neuen Weg einzuſchlagen, auf dem ich von niemand 
abhängig wäre... Alſo .. . alſo, das iſt alles ... Nun, daß 
ich die alte Frau ermordete, das war ja ſelbſtverſtaͤndlich ſchlecht 
von mir, . .. genug davon!“ 

Als er ſeine Erzaͤhlung zu Ende gebracht hatte, war er ganz 
erſchoͤpft und ließ den Kopf ſinken. 

„Ach, das iſt nicht richtig, das iſt nicht richtig,“ rief Sofja in 
tiefem Schmerze. „Kann man denn überhaupt fo .. Nein, es 
muß anders geweſen ſein, ganz anders!“ 

„Und doch habe ich dir alles aufrichtig erzaͤhlt; ich habe die 
Wahrheit geſprochen!“ 

„Wie kann das die Wahrheit ſein! O Gott!“ 

„Ich habe ja doch nur eine Laus getoͤtet, Sofja, eine nutzloſe, 
garſtige, ſchaͤdliche Laus.“ 

„Ein Menſch iſt keine Laus!“ 

„Das weiß ich auch, daß er keine Laus iſt,“ antwortete er und 
ſchaute ſie ſonderbar an. „Übrigens ſchwatze ich ſinnlos, Sofja,“ 
fügte er hinzu, „ich rede ſchon ſeit langer Zeit fo finnlos ... 
Es iſt alles nicht richtig; du haſt darin ganz recht. Ich hatte ganz 
andere Beweggruͤnde, ganz andere, ganz andere! .. . Ich habe 
[ей [о langer Zeit mit niemand geſprochen, Sofja ... Der Kopf 
tut mir jetzt ſehr weh.“ 

Seine Augen brannten in fieberhaftem Feuer. Er begann faſt 
irre zu reden; ein unruhiges Laͤcheln zuckte um ſeine Lippen. 
Neben der heftigen ſeeliſchen Erregung machte ſich bereits eine 
furchtbare Erſchoͤpfung bemerkbar. Sofja begriff, welche Qual 
er durchmachte. Auch ihr begann der Kopf wirr und ſchwindlig 


Fünfter Teil 639 


zu werden. Seine ſonderbaren Reden, meinte fie, klangen, als 
ob man etwas davon verſtehen koͤnnte; aber doch ... wie war 
es nur moͤglich, wie war es nur moͤglich! O Gott! In Ver— 
zweiflung rang ſie die Haͤnde. 

„Nein, Sofja, es war nicht richtig!“ begann er wieder und hob 
auf einmal den Kopf in die Hoͤhe, als haͤtte eine unerwartete 
neue Richtung, die ſeine Gedanken genommen, ihm einen friſchen 
Impuls gegeben. „Es war nicht richtig! Stelle dir lieber vor 
(es iſt wirklich beſſer, wenn du das tuſt), daß ich ein egoiſtiſcher, 
neidiſcher, boshafter, ſchaͤndlicher, rachſuͤchtiger Menſch ſei, nun 
. . . meinetwegen auch, daß ich zum Irrſinn neige. (Wir wollen 
gleich alles zuſammen nehmen; daß ich vielleicht verruͤckt waͤre, 
davon haben andre ſchon früher geſprochen; ich habe es recht 
wohl bemerkt!) Ich habe dir vorhin geſagt, daß ich mich auf der 
Univerſitaͤt nicht erhalten konnte. Aber weißt du, gekonnt haͤtte 
ich es vielleicht doch. Meine Mutter haͤtte mir das Geld fuͤr die 
Vorleſungen geſchickt, und die Koften für Schuhzeug, Kleidung 
und Eſſen haͤtte ich mir ſelbſt durch Arbeit verdienen koͤnnen, 
ſicherlich! Ich konnte Unterricht erteilen; es wurde mir ein halber 
Rubel fuͤr die Stunde geboten. Raſumichin lebt ja auch von ſeiner 
Arbeit! Aber ich wurde verbiſſen und mochte nicht. Geradezu 
verbiſſen, das iſt der richtige Ausdruck! Ich verkroch mich dann 
wie eine Spinne in meinen Winkel. Du biſt ja in meinem Hunde— 
loch geweſen und haft es geſehen .. . Weißt du wohl, Sofja, daß 
niedrige Decken und kleine Zimmer Seele und Geiſt beengen? 
O, wie ich dieſes Hundeloch gehaßt habe! Und trotzdem wollte ich 
nicht ausgehen. Abſichtlich nicht! Ganze Tage lang ging ich nicht 
aus; ich mochte nicht arbeiten, nicht einmal eſſen mochte ich; ich 
lag immer nur da. Wenn mir Naſtaſja etwas brachte, nun, dann 
aß ich; brachte ſie mir nichts, nun, dann ging der Tag auch ſo 
voruͤber; aus Verbiſſenheit bat ich abſichtlich um nichts! Da 


640 Schuld und Sühne 


— nn — 


Arbeit mir das Geld zu Licht verdienen, das mochte ich nicht. 
Ich haͤtte ſtudieren ſollen, aber ich verkaufte meine Buͤcher, und 
auf meinem Tiſche liegt auf meinen Aufſaͤtzen und Kollegien— 
heften auch heute noch der Staub fingerdick! Ich mochte lieber 
ſo daliegen und gruͤbeln. Immer gruͤbelte ich, ... und immer 
hatte ich ſolche ſeltſamen Traͤume, allerlei ſeltſame Traͤume, das 
laͤßt ſich gar nicht erzaͤhlen! Aber erſt damals tauchte in mir 
auch der noch unklare Gedanke auf, daß ... Nein, das iſt nicht 
richtig! Ich erzaͤhle wieder falſch! Siehſt du, ich fragte mich da— 
mals immer: warum bin ich ſo dumm, daß, wenn andre Leute 
dumm ſind und ihre Dummheit mir ganz genau bekannt iſt, 
ich nicht ſelbſt kluͤger ſein will? Darauf gelangte ich zu der Er— 
kenntnis, Sofja, daß, wenn man warten wollte, bis alle Menſchen 
klug würden, dies doch gar zu lange dauern würde... Darauf 
erkannte ich, daß es dazu uͤberhaupt niemals kommen wird, daß 
die Menſchen ſich nicht veraͤndern und niemand ſie umgeſtalten 
kann und der Verſuch verlorene Muͤhe waͤre. Ja, das iſt nun 
einmal fo! Es iſt ein Naturgeſetz, daß fie fo find, . .. ein Natur: 
geſetz, Sofja! Das Ш nun einmal ſo! ... Und ich weiß jetzt, 
Sofja, daß, wer kraͤftig und ſtark iſt an Geiſt und Verſtand, daß 
der auch der Beherrſcher der andern iſt! Wer viel wagt, der iſt 
nach ihrer Anſchauung auch im Rechte. Wer der Maſſe dreiſt 
entgegentritt, der gilt ihnen als Geſetzgeber, und wer mehr als 
alle andern wagt, der hat auch das allergroͤßte Recht! So iſt 
das bisher geweſen, und ſo wird das immer ſein! Man muß 
blind ſein, um das nicht einzuſehen!“ | 
Raſkolnikow ſah Sofja zwar an, während er das fagte, kuͤmmerte 
ſich aber nicht mehr darum, ob ſie ihn verſtand oder nicht. Das 
Fieber hatte voͤllig von ihm Beſitz genommen. Er befand ſich 
in einer Art von düfterer Ekſtaſe. Er hatte wirklich allzu lange 


Fünfter Teil | 641 


mit keinem Menſchen geredet. Sofja ſah ein, daß dieſe duͤſteren 
Dogmen fein Glaube und fein Geſetz geworden waren. 

„Damals wurde es mir klar, Sofja,“ fuhr er ſchwaͤrmeriſch 
fort, „daß die Macht nur dem zuteil wird, der es wagt, ſich zu 
buͤcken und ſie aufzuheben. Nur auf eines kommt es an, nur 
auf eines: wagen muß man! Damals kam mir ein Gedanke, 
zum erſtenmal in meinem Leben, ein Gedanke, den noch nie= 
mand jemals vor mir gehabt hat! Niemand! Sonnenklar trat 
mir auf einmal der Gedanke vor die Seele: wie kommt es, 
daß bis auf den heutigen Tag noch keiner, der dieſes verruͤckte 
Gebaren mit anſieht, es gewagt hat oder wagt, ganz einfach 
dieſes Unding von Geſellſchaftsordnung am Schwanz zu packen 
und in die Hölle zu ſchmettern! Ich ... ich wollte es wagen, 
und fo mordete ich, . .. ich wollte nur ein Wagnis unternehmen, 
Sofja; das war mein ganzer Beweggrund!“ 

„O, ſchweigen Sie, ſchweigen Sie!“ rief Sofja und ſchlug ent— 
ſetzt die Haͤnde zuſammen. „Sie haben ſich von Gott losgeſagt, 
und Gott hat Sie geſtraft; er hat Sie der N des Teufels 
überliefert! ...“ 

„Nun ja, da haben wirs, Sofja! Wenn ich da bo i im Dunkeln 
lag und all dieſe Gedanken in mir aufſchoſſen, da hat mich gewiß 
der Teufel verſucht, nicht wahr?“ 

„Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslaͤſterer! 
Nichts, aber auch gar nichts verſtehen Sie davon! O Gott! Nie, 
nie wird er etwas davon verſtehen!“ 

„Still, Sofja, ich ſpotte gar nicht; ich weiß ja ſelbſt, daß mich 
der Teufel verſuchte. Still, Sofja, ſtill!“ wiederholte er duͤſter 
und mit Nachdruck. „Ich weiß das alles. All das habe ich ſchon 
durchdacht und vor mich hingefluͤſtert, wenn ich damals im Dun— 
keln ſo dalag; all das habe ich mit mir ſelbſt bis zum letzten, 
kleinſten Puͤnktchen durchdebattiert, und ich weiß das alles, alles! 
XIX. а. 


642 Schuld und Suͤhne 


Und dieſes ganze Hin- und Herreden war mir damals ſo zum 
Ekel geworden, ſo zum Ekel! Ich wollte das alles vergeſſen, 
Sofja, und einen neuen Anfang machen und das Hin- und Her— 
reden abgetan ſein laſſen! Und meinſt du etwa, daß ich wie ein 
Dummkopf hingegangen bin, ſo einfach aufs Geratewohl? Ich 
bin wie ein kluger Menſch hingegangen, und gerade das iſt mir 
zum Verderben geworden! Denkſt du denn, ich haͤtte beiſpiels— 
weiſe nicht gewußt, daß, wenn ich mich uͤberhaupt erſt noch fragte 
und wieder fragte, ob ich auch ein Recht auf den Beſitz von 
Macht haͤtte, ich eben um dieſer Frage willen kein derartiges 
Recht hatte? Oder daß, wenn ich mir die Frage vorlegte, 
ob der Menſch eine Laus ſei, er fuͤr mich eben keine Laus war, 
ſondern daß er nur fuͤr denjenigen eine Laus iſt, dem eine ſolche 
Frage erſt gar nicht in den Sinn kommt und der ohne derartige 
Fragen einfach geradeaus geht? Und wenn ich mich ſo viele Tage 
lang mit der Frage abquaͤlte, ob Napoleon wohl hingegangen 
waͤre und es getan haͤtte oder nicht, da hatte ich ja doch das 
klare Gefuͤhl, daß ich kein Napoleon bin. Die ganze lange Qual 
all dieſes Hin- und Herdiſputierens habe ich ertragen, Sofja, 
und ſehnte mich danach, ſie endlich von meinen Schultern ab— 
zuſchuͤtteln: es verlangte mich, Sofja, ohne Kaſuiſtik zu morden, 
nur in meinem Intereſſe zu morden, einzig und allein in meinem 
Intereſſe! Auch mich ſelbſt wollte ich in dieſer Hinſicht nicht be— 
luͤgen! Nicht um meiner Mutter zu helfen, habe ich gemordet; 
das iſt Unſinn! Ich habe nicht gemordet, um, wenn ich mir die 
Mittel und die Macht verſchafft haben wuͤrde, ein Wohltaͤter 
der Menſchheit zu werden; Unſinn! Ich habe einfach in meinem 
Intereſſe gemordet, einzig und allein in meinem Intereſſe. Ob 
ich dann irgend jemandes Wohltaͤter werden oder mein ganzes 
Leben lang wie eine Spinne andre Weſen in meinem Netze 
fangen und ihnen den Lebensſaft ausſaugen wuͤrde, das war 


mir in jenem Augenblicke ganz gleichgültig! Auch hatte ich es 
damals, als ich den Mord beging, Sofja, nicht hauptſaͤchlich auf 
das Geld abgeſehen; das Geld war mir nicht ſo wichtig wie etwas 
andres .. . Jetzt iſt mir das alles deutlich ... Verſtehe mich 
wohl: wenn ich auf demſelben Wege weitergegangen waͤre, hätte 
ich dennoch vielleicht nie wieder einen Mord begangen. Was mich 
zu der Tat trieb, war etwas andres; ich wollte über einen Бе: 
ſtimmten Punkt ins klare kommen, und ſo ſchnell wie moͤglich 
ins klare kommen: Bin ich eine Laus wie alle oder ein Menſch? 
Bin ich imſtande uͤber Hinderniſſe hinwegzuſchreiten oder nicht? 
Habe ich den Mut, mich zu buͤcken und die Macht aufzuheben, 
oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur, oder habe ich ein 
Recht ...“ 

„Ein Recht, zu toͤten? Sie meinen, Sie haben ein Recht, zu 
töten?” rief Sofja und ſchlug wieder die Hände zuſammen. 

„Ach, Sofja!“ begann er in gereiztem Tone; er wollte ihr 
noch etwas erwidern, unterdruͤckte es aber geringſchaͤtzig. „Unter— 
brich mich nicht, Sofja! Ich wollte dir nur das eine beweiſen, 
daß der Teufel mich damals dorthin ſchleppte und mir nach der 
Tat klarmachte, daß ich kein Recht gehabt haͤtte, dorthin zu gehen, 
weil ich ganz ebenſo eine Laus ſei wie alle. Er hat ſeinen Spott 
mit mir getrieben; ſiehſt du, jetzt bin ich nun zu dir gekommen! 
Nimm mich als Gaſt auf. Wenn ich nicht eine Laus waͤre, wuͤrde 
ich dann etwa zu dir gekommen ſein? Hoͤre noch dies: als ich 
damals zu der Alten ging, kam es mir nur darauf an, einen 
Verſuch zu machen ... Nun weißt du es!“ | 

„Und Sie haben fie ermordet, ermordet!“ 

„Wie kann man denn das ermorden nennen! Ermordet man 
denn jemand ſo? Geht etwa einer, der morden will, ſo hin, 
wie ich damals hinging? Ich will dir ein andermal erzaͤhlen, 
wie ich hingegangen bin. Habe ich etwa die alte Frau ermordet? 


644 Schuld und Sühne 


Mich ſelbſt habe ich ermordet und nicht die alte Frau! Da habe 
ich mit einem Schlage mich ſelbſt vernichtet, fuͤrs ganze Leben! 
.. . Die alte Frau aber hat der Teufel getötet, nicht ich ... 
Genug, genug, Sofja, genug! Nun laß mir Ruhe!“ rief er ploͤtz— 
lich in krampfhaftem Schmerze. „Laß mir Ruhe!“ 

Er ſtuͤtzte die Ellbogen auf die Knie und preßte ſeinen Kopf 
mit den Handflaͤchen wie mit einer Zange zuſammen. 

„O, dieſes Leid!“ ſtoͤhnte Sofja qualvoll auf. 

„Und nun ſage mir: was ſoll ich jetzt tun?“ fragte er, hob 
plotzlich den Kopf in die Höhe und blickte fie mit einem von 
Verzweiflung graͤßlich verzerrten Geſichte an. 

„Was du tun ſollſt?“ rief ſie und ſprang von ihrem Platze auf; 
ihre Augen, die bisher voll Traͤnen geſtanden hatten, blitzten 
auf. „Steh auf!“ Sie faßte ihn an der Schulter; er erhob ſich 
und ſah ſie ganz erſtaunt an. „Geh ſofort, dieſen Augenblick, hin 
und ſtelle dich auf einen Kreuzweg; beuge dich nieder und kuͤſſe 
zuerſt die Erde, die du beſudelt haſt, und dann verbeuge dich 
demuͤtig vor der ganzen Welt, nach allen vier Himmelsrichtungen, 
und ſage dabei jedesmal laut: Ich habe gemordet!' Dann wird 
dir Gott ein neues Leben gewaͤhren. Wirſt du hingehen? Wirſt 
du hingehen?“ fragte ſie ihn, am ganzen Koͤrper wie in einem 
Fieberanfall zitternd, ergriff feine beiden Hände, druͤckte fie feſt 
in den ihrigen und ſah ihn mit gluͤhendem Blicke an. 

Er war verwundert und geradezu beſtuͤrzt uͤber ihre ploͤtzliche 
Verzuͤcktheit. 

„Du ſprichſt von der Zwangsarbeit, Sofja, wie? Du meinſt, 
ich ſoll mich ſelbſt anzeigen?“ 

„Du ſollſt das Leid auf dich nehmen und dadurch deine Suͤnde 
abbuͤßen; das iſts, was du tun mußt.“ 

„Nein, Sofja, ich gehe nicht zu den Behoͤrden hin.“ 

„Aber wie willſt du denn ſonſt weiterleben? Willſt du denn 


W eee 


Fünfter Teil 645 


weiterleben mit einer ſolchen Laſt?“ rief Sofja. „Iſt es dir denn 
jetzt moͤglich, ſo zu leben? Wie willſt du denn mit deiner Mutter 
reden? Ach, was wird jetzt aus denen werden! Aber was rede 
ich! Du haſt dich ja ſchon von deiner Mutter und von deiner 
Schweſter losgeſagt, haſt ſie verlaſſen! O Gott!“ rief ſie. „Aber 
das weißt du ja alles ſelbſt! Wie kann man, wie kann man nur 
ſo ohne irgendeinen Menſchen leben! Was wird jetzt aus dir 
werden!“ 

„Sei kein Kind, Sofja,“ erwiderte er leiſe. „Welche Schuld 
habe ich denn den Behoͤrden gegenuͤber? Warum ſoll ich zu 
denen hingehen? Was ſoll ich ihnen ſagen? Das iſt ja alles nur 
ein leeres Hirngeſpinſt! .. . Sie ſelbſt richten Millionen von 
Menſchen zugrunde und halten das obendrein noch fuͤr eine 
Tugend. Gauner und Schurken find fie, Sofja! ... Ich gehe 
nicht zu ihnen hin. Und was ſoll ich ihnen ſagen? Daß ich einen 
Mord begangen, aber nicht gewagt habe, das Geld zu behalten, 
ſondern es unter einem Steine verſteckt habe?“ fuͤgte er bitter 
laͤchelnd hinzu. „Dann werden ſie mich ſogar noch auslachen und 
fagen: ‚Du bift ein Dummkopf, daß du es nicht behalten haft; 


— —— 


ein Feigling und ein Dummkopf!“ Sie werden gar kein Ver: | 
ſtaͤndnis für mein Tun haben, Sofja, und fie find auch gar nicht 


wert, es zu verſtehen. Warum ſoll ich zu denen hingehen? Ich 
gehe nicht hin. Sei kein Kind, Sofja . . .“ 

„Du wirſt dich ſelbſt zu Tode martern, ja, zu Tode martern!“ 
rief ſie und ſtreckte in verzweifeltem Flehen die Haͤnde nach ihm 
aus. 

„Vielleicht habe ich mich doch vorhin verleumdet,“ bemerkte 
er duͤſter und in Gedanken verſunken, „vielleicht bin ich doch ein 


Menſch und keine Laus und habe es vorhin zu eilig gehabt, mich 


ſelbſt zu verurteilen. Noch will ich kaͤmpfen.“ 
Ein hochmuͤtiges Laͤcheln ſpielte um ſeine Lippen. 


646 Schuld und Sühne 


„Eine ſolche Qual zu erdulden! Und das ganze Leben lang, 
das ganze Leben lang!“ 

„Ich werde mich daran gewoͤhnen .. . ſagte er duͤſter und 
ſchwermuͤtig. „Hoͤre,“ begann er nach einer Weile von neuem, 
„laß es nun der Tränen genug ſein; es wird Zeit, daß wir etwas 
Praktiſches beſprechen: ich bin hergekommen, um dir zu ſagen, 
daß man mir auf der Spur iſt und mich fangen moͤchte.“ 

„Ach!“ rief Sofja erſchrocken. 

„Nun, warum ſchreiſt du? Du moͤchteſt ja ſelbſt, daß ich in 
die Zwangsarbeit gehe, und nun erſchrickſt du? Aber das will 
ich dir ſagen: ich ergebe mich ihnen nicht. Ich will noch mit 
ihnen kaͤmpfen, und ſie werden gegen mich nichts ausrichten. 
Wirkliche Beweiſe haben ſie nicht. Geſtern war ich in großer Ge— 
fahr und dachte ſchon, ich waͤre verloren; aber heute hat die Sache 
eine guͤnſtige Wendung genommen. Alle ihre Beweiſe haben 
ihre zwei Seiten, das heißt, ich kann ihre Beſchuldigungen zu 
meinem Vorteil wenden, verſtehſt du? Und das werde ich tun; 
denn das habe ich jetzt gelernt ... Aber ins Gefaͤngnis ſetzen 
werden ſie mich beſtimmt. Waͤre nicht ein Zufall dazwiſchen— 
gekommen, ſo haͤtten ſie es vielleicht heute ſchon getan, oder viel⸗ 
mehr ſicher; und vielleicht tun fie es heute noch ... Aber das 
iſt weiter nicht ſchlimm, Sofja; ich werde eine Weile ſitzen, und 
dann werden ſie mich wieder freilaſſen muͤſſen; denn ſie haben 
keinen einzigen wirklichen Beweis und werden auch keinen in 
die Hand bekommen, mein Wort darauf. Und auf Grund des 
Materials, uͤber das ſie verfuͤgen, koͤnnen ſie einen Menſchen 
nicht verurteilen. Nun genug .. . Ich habe dir das bloß jagen 
wollen, damit du es weißt .. . Was meine Schweſter und meine 
Mutter anlangt, ſo will ich es ſo einzurichten ſuchen, daß ſie der 
Beſchuldigung keinen Glauben ſchenken und ſich nicht um mich 
ängftigen. Übrigens iſt meine Schweſter jetzt, wie es ſcheint, gut 


Fünfter Teil 647 


verſorgt und damit zugleich auch meine Mutter . .. Nun, das 
iſt alles. Sei uͤbrigens vorſichtig. Wirſt du zu mir ins Gefaͤngnis 
kommen, wenn ich ſitzen muß?“ 

„O gewiß, ich komme ſicher!“ 

Sie ſaßen beide nebeneinander, traurig und niedergeſchlagen, 
als waͤren ſie nach einem Sturm allein von den Wogen an ein 
menſchenleeres Geſtade geworfen worden. Er blickte Sofja an 
und fuͤhlte, wie innig ſie ihn liebte, und ſeltſamerweiſe war es 
ihm auf einmal eine druͤckende, ſchmerzliche Empfindung, ſich 
ſo geliebt zu wiſſen. Ja, es war eine ſeltſame, furchtbare Emp— 
findung! Als er zu Sofja hingegangen war, da war es ihm ge— 
weſen, als beruhe auf ihr ſeine ganze Hoffnung und Rettung; 
er hatte gemeint, ſich wenigſtens einen Teil ſeiner Qualen von 
der Seele waͤlzen zu koͤnnen, — und jetzt, wo ihr ganzes Herz 
ſich ihm zugewandt hatte, fuͤhlte und erkannte er auf einmal, 
daß er unvergleichlich viel ungluͤcklicher geworden war als vorher. 

„Sofja,“ ſagte er, „komm lieber nicht zu mir, wenn ich im 
Gefaͤngnis bin.“ 

Sofja antwortete nicht; ſie weinte. So vergingen einige 
Minuten. 

„Traͤgſt du ein Kreuz?“ fragte ſie ihn unvermittelt, als wenn 
ihr das ſoeben eingefallen waͤre. 

Er verſtand die Frage nicht ſofort. 

„Nein? Alſo nein? — Da, nimm dieſes hier; es iſt von 
Zypreſſenholz. Ich habe noch ein andres, ein kupfernes, das 
habe ich von Liſaweta bekommen. Ich und Liſaweta, wir haben 
getauſcht: ſie hat mir ein Kreuz gegeben und ich ihr ein Heiligen— 
bildchen. Ich werde nun Liſawetas Kreuz tragen, und dieſes 
hier ſoll für dich fein. Nimm nur, . . . es iſt ja meines!“ bat fie 
ihn. „Wir werden ja den Leidensweg zuſammen gehen; ſo 
wollen wir denn auch zuſammen das Kreuz tragen!“ 


648 Schuld und Suͤhne 


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„Gib es her!“ ſagte Raſkolnikow. 

Es waͤre ihm ſchmerzlich geweſen, ſie zu betruͤben. Aber er zog 
die Hand, die er ſchon nach dem Kreuze ausgeſtreckt hatte, ſogleich 
wieder zurüd. 

„Jetzt nicht, Sofja. Lieber ſpaͤter,“ fuͤgte er hinzu, um ſie zu 
beruhigen. 

„Ja, ja, ſpaͤter, das wird beſſer ſein!“ ſtimmte ſie ihm mit 
Waͤrme und Lebhaftigkeit bei. „Wenn du das Leid auf dich 
nehmen wirſt, dann lege das Kreuz an. Dann komm zu mir, ich 
werde es dir umhaͤngen, und dann wollen wir beten und unſern 
Weg wandeln.“ 

In dieſem Augenblicke wurde dreimal an die Tuͤr geklopft. 

„Sofja Semjonowna, darf ich eintreten?“ fragte eine ſehr be— 
kannte, hoͤfliche Stimme. 

Sofja lief erſchrocken zur Tür. Herrn Lebeſjatnikows hell— 
blonder Kopf blickte in das Zimmer herein. 


V 


Le beſjatnikow ſah ſehr aufgeregt aus. 

„Ich komme zu Ihnen, Sofja Semjonowna. Entſchuldigen Sie! 
... Ich dachte mir ſchon, daß ich auch Sie hier treffen wuͤrde,“ 
fuhr er, zu Raſkolnikow gewendet, fort, „das heißt, ich dachte 
durchaus nichts ... Derartiges, ... ſondern ich dachte nur ... 
Da bei uns iſt Katerina Iwanowna ploͤtzlich irrſinnig geworden,“ 
ſagte er kurz und haſtig, indem er ſich von Raſkolnikow an Sofja 
wendete. 

Sofja ſchrie auf. 

„Das heißt, wenigſtens ſcheint es fo. Indeſſen ... Wir wiſſen 
gar nicht, was wir machen ſollen, ſehen Sie! Sie kam zuruͤck, — 
ſie war, wie es ſchien, irgendwo aus dem Hauſe gejagt, vielleicht 
ſogar geſchlagen worden, . .. wenigſtens ſcheint es ſo ... Sie 


Fünfter Teil 649 


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war zu dem Chef des verſtorbenen Semjon Sacharowitſch ge— 
laufen, hatte ihn aber nicht zu Hauſe getroffen; er war bei einer 
andern Exzellenz zum Diner . .. Und denken Sie ſich, fie rannte 
dann ohne weiteres dorthin, wo das Diner ſtattfand, . . . zu der 
andern Exzellenz, und denken Sie ſich nur, ſie ſetzte es durch 
ihre Hartnaͤckigkeit durch, daß man ihr Semjon Sacharowitſchs 
fruͤheren Chef herausrief, ſogar vom Tiſche weg, wie es ſcheint. 
Sie koͤnnen ſich denken, was dann fuͤr eine Szene folgte. Sie 
wurde natuͤrlich hinausgejagt; nach ihrer eigenen Darſtellung 
hat ſie den Chef geſchimpft und mit irgend etwas nach ihm ge— 
worfen. Zuzutrauen ift es ihr ſehr wohl ... Daß man fie nicht 
feſtgenommen hat, iſt mir unbegreiflich! Jetzt erzaͤhlt ſie die 
Geſchichte allen Leuten, auch der Wirtin Amalia Iwanowna; 
aber es iſt ſchwer, daraus klug zu wreden, denn ſie ſchreit und 
gebaͤrdet ſich wie raſend ... Ach ja: fie ſchreit, da fie jetzt von 
allen verlaſſen ſei, ſo werde ſie die Kinder nehmen und mit ihnen 
auf die Straße gehen; ſie werde einen Leierkaſten drehen, und 
die Kinder ſollten ſingen und tanzen, und ſie werde das auch 
tun und Geld einſammeln, und jeden Tag wuͤrden ſie vor die 
Fenſter des Chefs gehen. ‚Mögen alle Menſchen es ſehen,' fagt 
fie, ‚mie die Kinder eines achtbaren Beamten auf der Straße 
betteln gehen.“ Die Kinder ſchlaͤgt ſie, und die weinen jaͤmmer— 
lich. Sie lehrt die kleine Lida ‚Das Doͤrfchen' fingen, und den 
Knaben und Polenka unterweiſt ſie im Tanzen; alle Kleider zer— 
reißt ſie und macht den Kindern daraus Muͤtzen, wie ſie die 
Straßenkomoͤdianten tragen. Sie ſelbſt will eine Blechſchuͤſſel 
nehmen, um darauf zu ſchlagen, als Muſik . . . Auf Zureden hört 
fie gar nicht ... Denken Sie nur, was ſoll das werden? Das 
wird ja etwas Unerhoͤrtes!“ 

Lebeſjatnikow haͤtte ſeinen Bericht noch fortgeſetzt; aber Sofja, 
die ihm mit ſtockendem Atem zugehoͤrt hatte, griff haſtig nach 


650 Schuld und Sühne 


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ihrer Mantille und ihrem Hute und eilte aus dem Zimmer, ſich 
im Laufen ankleidend. Nach ihr verließ Raſkolnikow das Zimmer 
und hinter dieſem auch Lebeſjatnikow. 

„Sie iſt ganz beſtimmt verruͤckt geworden,“ ſagte er zu Raſ— 
kolnikow, als er mit ihm zuſammen auf die Straße hinaustrat. 
„Ich wollte nur Sofja Semjonowna nicht zu ſehr erſchrecken 
und fagte darum: ‚es ſcheint jo‘; aber die Sache iſt zweifellos. 
Man ſagt, es bilden ſich bei der Schwindſucht Tuberkeln im Ge— 
hirn; ſchade, daß ich von Medizin nichts verſtehe. Übrigens habe 
ich verſucht, die Frau zu einer klaren Auffaſſung zu bringen; 
aber ſie hoͤrt auf nichts.“ 

„Sie haben ihr von den Tuberkeln geſprochen?“ 

„Das heißt, von den Tuberkeln eigentlich nicht. Sie wuͤrde 
doch nichts davon verſtanden haben! Aber was ich meine, iſt 
dies: wenn man einen Menſchen auf logiſche Weiſe uͤberzeugt, 
daß er in Wirklichkeit keinen Grund zum Weinen hat, ſo wird 
er aufhoͤren zu weinen. Das iſt klar. Oder ſind Sie der Anſicht, 
daß er nicht aufhoͤren wird?“ 

„Dadurch wuͤrde einem das Leben allerdings weſentlich er— 
leichtert werden,“ antwortete Raſkolnikow. 

„Erlauben Sie, erlauben Sie; gewiß, dieſer Frau Katerina 
Iwanowna faͤllt das Verſtaͤndnis recht ſchwer; aber haben Sie 
nicht davon gehoͤrt, daß man in Paris bereits ernſtliche Verſuche 
hinſichtlich der Möglichkeit, Irrſinnige lediglich vermittelſt logiſcher 
Überzeugung zu heilen, angeſtellt hat? Ein dortiger Profeſſor, 
der vor kurzem geſtorben iſt, ein ſehr achtenswerter Gelehrter, 
iſt auf den Gedanken gekommen, daß auf dieſem Wege eine 
Heilung moͤglich ſei. Sein Grundgedanke iſt der, daß eine be— 
ſondere Zerruͤttung des Organismus bei den Irrſinnigen nicht 
vorliege, ſondern daß der Irrſinn ſozuſagen ein logiſcher Fehler, 
ein Fehler der Urteilskraft, eine inkorrekte Art, die Dinge anzu⸗ 


Fünfter Teil 651 


ſchauen, fei. Er widerlegte alfo einen Kranken Schritt für Schritt, 
und denken Sie ſich, er erzielte dabei, wie es heißt, gute Reſultate! 
Aber da er außerdem auch Duſchen zur Anwendung brachte, ſo 
unterliegen die Reſultate dieſer Heilmethode allerdings noch 
einigem Zweifel ... Wenigſtens ſcheint es ſo ...“ 

Raſkolnikow hörte ihm ſchon laͤngſt nicht mehr zu. Als er bei 
feinem Haufe angelangt war, nickte er feinem Begleiter zu und 
bog in den Torweg ein. Lebeſjatnikow kehrte mit feinen Фе: 
danken wieder in die Wirklichkeit zuruͤck, blickte ſich um und lief 
weiter. 

Raſkolnikow trat in ſein Kaͤmmerchen und blieb in der Mitte 
desſelben ſtehen. Er fragte ſich, warum er hierher zuruͤckgekehrt 
ſei. Er betrachtete dieſe gelblichen, abgenutzten Tapeten, dieſen 
Staub, fein Sofa ... Vom Hofe her ertoͤnte ein ſcharfes, un— 
unterbrochenes Klopfen, als wenn irgendwo ein großer Nagel 
eingeſchlagen wuͤrde ... Er trat ans Fenſter, ſtellte ſich auf die 
Zehen und blickte lange, anſcheinend mit großer Aufmerkſamkeit, 
auf dem Hofe umher. Aber der Hof war leer und der Klopfende 
nicht zu ſehen. Links, im Seitengebaͤude, ſah er hier und da ein 
geoͤffnetes Fenſter; auf den Fenſterbrettern ftanden kleine 
Blumentöpfe mit kuͤmmerlichen Geranien. An den Fenſtern 
war Waͤſche zum Trocknen aufgehaͤngt. Dieſe ganze Szenerie 
kannte er auswendig. Er wandte ſich ab und ſetzte ſich auf das 
Sofa. 

Noch niemals, noch niemals hatte er ſich ſo entſetzlich einſam 
gefuͤhlt! 

Ja, er fuͤhlte es noch einmal, daß er vielleicht wirklich dahin 
kommen werde, Sofja zu haſſen, und gerade jetzt, wo er ſie noch 
ungluͤcklicher gemacht hatte. 

Wie unverantwortlich, daß er zu ihr hingegangen war, um 
ihr Traͤnen des Mitleids zu erpreſſen! Warum mußte er ihr 


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652 Schuld und Suͤhne 


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ie das Üben noch bitterer machen? O, welche Ge: 
meinheit! 

„Ich will allein bleiben!“ ſagte er plößlich in feſtem Tone. 
„Sie ſoll nicht zu mir ins Gefaͤngnis kommen!“ 

Etwa fuͤnf Minuten darauf hob er den Kopf in die Hoͤhe und 
(ächelte eigentuͤmlich. Es war ihm ein merkwuͤrdiger Gedanke 
gekommen: „Vielleicht iſt es bei der Zwangsarbeit tatſaͤchlich 
beſſer!“ 

Er wußte nicht, wie lange er ſo in ſeiner Kammer dageſeſſen 
und ſich den unklaren Gedanken hingegeben hatte, die ſich in 
ſeinem Kopfe draͤngten. Da oͤffnete ſich ploͤtzlich die Tuͤr, und 
herein trat Awdotja Romanowna. Sie blieb zuerſt ſtehen und 
betrachtete ihn von der Schwelle aus, gerade wie er es vor 
kurzem mit Sofja gemacht hatte; dann trat ſie naͤher und ſetzte 
ſich ihm gegenuͤber auf einen Stuhl, auf ihren geſtrigen Platz. 
Er ſah ſie ſchweigend und anſcheinend gedankenlos an. 

„Sei nicht boͤſe, Bruder, ich bin nur auf einen Augenblick her— 
gekommen,“ ſagte Awdotja. 

Der Ausdruck ihres Geſichtes war ernſt, aber nicht finſter, ihr 
Blick klar und ruhig. Raſkolnikow ſah, daß auch ſie ihn liebte und 
aus Liebe hergekommen war. 

„Bruder, ich weiß jetzt alles, alles. Dmitri Prokofjitſch hat mir 
alles erzaͤhlt und erklaͤrt. Man verfolgt und quaͤlt dich auf Grund 
eines dummen, ſchaͤndlichen Verdachtes. Dmitri Prokofjitſch hat 
mir geſagt, es ſei gar keine Gefahr vorhanden, und du taͤteſt un— 
recht, dich uͤber die Sache ſo aufzuregen. Ich denke anders und 
begreife vollkommen, wie empoͤrt alles in dir iſt, und daß dieſe 
heftige Gemuͤtsbewegung fuͤr das ganze Leben Nachwirkungen 
bei dir zuruͤcklaſſen kann. Das iſts, was mir Sorge macht. За: 
für, daß du uns verlaſſen haft, verdamme ich dich nicht und darf 
ich dich nicht verdammen; verzeih mir, daß ich dir geſtern des— 


Fünfter Teil 653 


wegen einen Vorwurf gemacht habe. Ich habe, was mich ſelbſt 
angeht, das Gefuͤhl, daß auch ich von allen weggehen wuͤrde, 
wenn ich einen ſo großen Kummer haͤtte. Der Mutter werde 
ich von dieſem deinem Grunde nichts ſagen; aber ich werde immer 
von dir ſprechen und ihr in deinem Namen ſagen, du wuͤrdeſt 
ſehr bald wieder zu uns kommen. Mache dir alſo um ſie keine 
Sorge; ich werde ſie ſchon beruhigen. Aber bereite ihr auch nicht 
zu viel Qual; komm wenigſtens noch einmal zu ihr; denke daran, 
daß ſie deine Mutter iſt! Jetzt bin ich nur hergekommen, um 
dir zu ſagen“ (hier ſtand Awdotja auf), „wenn ich dir irgendwie 
nuͤtzen kann, . .. ſelbſt mit meinem Leben, ... mit allem.... 
ſo rufe mich; ich werde kommen. Leb wohl!“ 

Sie wendete ſich eilig um und ging zur Tuͤr. Aber Raſkolni— 
kow, der aufſtand und zu ihr trat, hielt ſie noch zuruͤck. 

„Awdotja,“ ſagte er, „dieſer Dmitri Prokofjitſch Raſumichin 
iſt ein ſehr guter Menſch.“ 

Awdotja erroͤtete ein wenig. 

„Nun?“ fragte ſie, nachdem ſie einen Augenblick gewartet 
hatte. 

„Er iſt ein praktiſcher, arbeitsfreudiger, ehrenhafter Menſch 
und fähig, jemand mit aller Kraft feines Herzens zu lieben ... 
Leb wohl, Awdotja.“ 

Awdotja wurde blutrot; aber dann geriet ſie auf einmal in 
große Unruhe. 

„Aber, Bruder, was bedeutet denn das? Trennen wir uns 
etwa wirklich fürs ganze Leben, daß du ſolche ... Vermaͤchtnis— 
worte zu mir ſprichſt?“ 

„Mag es kommen, wie es will ... Leb wohl ...“ 

Er wendete ſich um und trat von ihr weg ans Fenſter. Sie 
blieb noch einen Augenblick ſtehen, ſah beunruhigt nach ihm hin 
und ging dann in tiefer Erregung hinaus. 


654 Schuld und Suͤhne 


Nicht aus Kaͤlte benahm er ſich ſo gegen ſie. Es war ein 
Augenblick, der letzte, geweſen, wo es ihn heiß verlangt hatte, 
ſie innig zu umarmen und von ihr Abſchied zu nehmen und ihr 
ſogar alles zu ſagen; aber er hatte ſich nicht einmal entſchließen 
koͤnnen, ihr die Hand zu geben. 

„Spaͤter wuͤrde ſie vielleicht gar zuſammenſchaudern, wenn 
ſie ſich erinnerte, daß ich ſie jetzt umarmt haͤtte, und wuͤrde ſagen, 
ich haͤtte einen Kuß von ihr erſchlichen!“ 

„Und wird ein Mädchen wie fie, wenn fie über mich die Wahr: 
heit erfährt, es ertragen?“ fügte er nach einigen Minuten in 
Gedanken hinzu. „Nein, ſie wird es nicht ertragen; ſolche Charak— 
tere koͤnnen ſo etwas nicht ertragen! Solche Charaktere ertragen 
jo etwas niemals ...“ 

Er dachte an Sofja. 

Vom Fenſter her wehte es kuͤhl herein. Draußen war es 
nicht mehr ſo blendend hell. Er nahm ſeine Muͤtze und ging 
hinaus. 

Freilich konnte und wollte er ſich um ſeinen krankhaften Zu— 
ſtand nicht kuͤmmern; aber all dieſe unaufhoͤrliche Beaͤngſtigung 
und dieſe ganze ſeeliſche Erregung konnten nicht ohne Folgen 
bleiben. Und wenn er noch nicht an einem richtigen Nerven— 
fieber krank lag, ſo kam das vielleicht gerade daher, weil dieſe 
innere fortwährende Aufregung ihn, wenn auch nur in unnatuͤr— 
licher Weiſe und nur vorlaͤufig, auf den Fuͤßen und bei Bewußt— 
ſein erhielt. 

Er irrte ziellos umher. Die Sonne ging unter. Es hatte ſich 
bei ihm in der letzten Zeit eine eigentuͤmliche Angft eingeſtellt. 
Dieſe Empfindung hatte nichts Stechendes, Brennendes; aber 
es lag in ihr fo etwas Dauerndes, Lebenslaͤngliches, ein Vor: 
gefühl endloſer Jahre voll kalten, ftarren Grames, ein Vor: 
gefühl einer lebenslaͤnglichen Exiſtenz auf jener „ſchmalen Felſen⸗ 


platte“. Um die Abendzeit pflegte ihn dieſe Empfindung noch 
heftiger zu peinigen als am Tage. 

„Und mit ſolchen törichten, rein phyſiſchen Schwaͤchezuſtaͤnden, 
die vom Sonnenuntergang und aͤhnlichen Dingen abhaͤngen, ſoll 
nun einer ſich davor in acht nehmen, Dummheiten zu machen! 
In ſolchem Zuſtande braͤchte ich es fertig, nicht bloß zu Sofja, 
ſondern ſogar zu Awdotja hinzugehen!“ murmelte er ingrimmig. 

Es rief ihn jemand mit feinem Namen an; er wendete ſich um; 
Le beſjatnikow eilte auf ihn zu. 

„Denken Sie nur, ich war eben in Ihrer Wohnung, ich ſuchte 
Sie. Denken Sie nur, ſie hat ihre Abſicht zur Ausfuͤhrung ge— 
bracht und die Kinder mit ſich fortgenommen. Sofja Semjo— 
nowna und ich haben ſie nur mit groͤßter Muͤhe aufgefunden. 
Sie ſelbſt ſchlaͤgt auf eine Pfanne, und die Kinder zwingt ſie zu 
tanzen. Die Kinder weinen. An den Straßenecken und vor den 
Laͤden machen ſie halt. Allerlei toͤrichtes Volk laͤuft hinter ihnen 
her. Kommen Sie nur!“ 

„Und Sofja?“ fragte Raſkolnikow beſorgt. 

„Sie iſt geradezu von Sinnen. Das heißt, nicht Sofja Semjo— 
nowna ift von Sinnen, ſondern Katerina Iwanownaz; übrigens 
iſt auch Sofja Semjonowna wie von Sinnen. Aber Katerina 
Iwanowna iſt ganz und gar von Sinnen. Ich ſage Ihnen, ſie 
iſt vollſtaͤndig verruͤckt. Man wird fie und die Kinder noch auf 
die Polizei bringen. Sie koͤnnen ſich denken, was das auf die 
Frau für eine Wirkung haben wird ... Sie find jetzt am Kanal 
bei der .. . ſchen Brüde, gar nicht weit von Sofja Semjonownas 
Wohnung. Es iſt ganz nahe von hier.“ 

Am Kanal, nicht weit von der Bruͤcke und nur zwei Haͤuſer 
vor dem Hauſe, wo Sofja wohnte, ſtand ein dichter Haufen Volk. 
Namentlich waren Knaben und Maͤdchen zuſammengeſtroͤmt. 
Schon von der Bruͤcke aus konnte man Katerina Iwanownat 


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656 Schuld und Suͤhne 


heiſere, kreiſchende Stimme hoͤren. Und allerdings war es ein 
ſeltſames Schauſpiel, ſehr geeignet, das Straßenpublikum an— 
zulocken. Katerina Iwanowna in ihrem alten Kleide, mit dem 
Tuche von drap de dame und mit einem zerriſſenen Strohhut, 
der zu einem formloſen Klumpen ſchiefgedruͤckt war, war tat— 
fächlich ganz und gar von Sinnen. Sie war müde und außer 
Atem. Ihr abgehaͤrmtes, ſchwindſuͤchtiges Geſicht ſah noch leiden— 
der aus als ſonſt (uͤberdies erſcheint ein Schwindſuͤchtiger auf 
der Straße und im Sonnenlichte immer kraͤnker und ſchlimmer 
entſtellt als zu Hauſe); aber dies wirkte auf ihren erregten Zu— 
ſtand nicht etwa mildernd ein; vielmehr wurde ſie mit jeder 
Minute gereizter. Sie ſtuͤrzte auf die Kinder los, ſchrie ſie an, 
ermahnte ſie, unterwies ſie dort vor allen Leuten, wie ſie tanzen 
und was ſie ſingen ſollten, begann ihnen zu erklaͤren, warum 
ſie es gerade ſo machen muͤßten, geriet uͤber ihren Mangel an 
Verſtaͤndnis in Verzweiflung, ſchlug ſie ... Dann unterbrach 
ſie ſich auf einmal und lief zu dem Publikum hin; wenn ſie 
einen einigermaßen gut gekleideten Menſchen bemerkte, der 
ſtehen geblieben war, um ſich die Sache anzuſehen, ſo machte 
ſie ſich ſofort daran, ihm auseinanderzuſetzen: da koͤnne er ſehen, 
wie weit es mit den Kindern aus einem vornehmen, man koͤnnte 
ſogar ſagen ariſtokratiſchen Hauſe gekommen ſei. Sobald ſie aus 
der Menge Gelaͤchter oder ein ſpoͤttiſches Wort hoͤrte, ſtuͤrzte ſie 
ſofort auf die Frechen los und fing an, ſie auszuſchimpfen. 
Manche lachten wirklich uͤber ſie, andre ſchuͤttelten die Koͤpfe; 
aber allen war es intereſſant, die Verruͤckte mit ihren erſchrockenen 
Kindern anzuſehen. Die Pfanne, von der Lebeſjatnikow ge: 
ſprochen hatte, war nicht da; wenigſtens bekam Raſkolnikow fie 
nicht zu ſehen. Statt auf eine Pfanne zu klopfen, klatſchte Kate⸗ 
rina Iwanowna den Takt mit ihren mageren Händen, wenn fie 
Polenka zum Singen und Lida und Nikolai zum Tanzen an⸗ 


Fünfter Teil 657 


hielt. Sie verſuchte auch ſelbſt mitzufingen, wurde jedoch jedes: 
mal ſchon beim zweiten Tone von einem qualvollen Huſten 
unterbrochen; daruͤber geriet ſie dann von neuem in Verzweif— 
lung, verfluchte ihren Huſten und brach ſogar in Traͤnen aus. 
Am allermeiſten regte ſie ſich aber uͤber das Weinen und die 
Angſt der beiden Kleinen, Nikolai und Lida, auf. Sie hatte 
wirklich den Verſuch gemacht, die Kinder mit einem Putz aus— 
zuſtaffieren, wie ihn die Straßenfänger und Straßenſaͤngerinnen 
tragen. Der Knabe hatte einen Turban aus rotem und weißem 
Zeug auf dem Kopfe und ſollte damit einen Tuͤrken vorſtellen. 
Fuͤr Lida hatte es an einem derartigen Putze gemangelt; ſie 
hatte nur ein rotes, aus Wolle geſtricktes Kaͤppchen des ver— 
ſtorbenen Semjon Sacharowitſch auf (genau geſagt, ſeine Nacht— 
muͤtze), und an dieſes Kaͤppchen war ein Stuͤck von einer weißen 
Straußenfeder geſteckt; dieſe hatte noch der Großmutter von 
Katerina Iwanowna gehoͤrt, und das davon uͤbrige Stuͤck war 
bisher als Familienkoſtbarkeit im Kaſten aufbewahrt worden. 
Polenka war in ihrem gewoͤhnlichen Anzuge. Sie blickte ſchuͤch— 
tern und verſtoͤrt ihre Mutter an, wich ihr nicht von der Seite, 
verbarg ihre Traͤnen, ahnte den Irrſinn ihrer Mutter und ſah 
unruhig rings um ſich. Die Straße und die Menge von Menſchen 
aͤngſtigten ſie ſehr. Sofja ging immer dicht hinter Katerina Iwa— 
nowna her; ſie weinte und beſchwor ſie fortwaͤhrend, doch nach 
Hauſe zuruͤckzukehren. Aber Katerina Iwanowna blieb uner— 
bittlich. 

„Hoͤr auf, Sofja,“ rief ſie in ſchnellem Redeſtrom, haſtig, 
keuchend und huſtend. „Du weißt ſelbſt nicht, um was du mich 
bitteſt; du biſt wie ein Kind! Ich habe dir ſchon geſagt, daß ich 
zu dieſem trunkſuͤchtigen deutſchen Frauenzimmer nicht wieder 
zuruͤckkehre. Moͤgen alle ſehen, mag ganz Petersburg ſehen, wie 
die Kinder eines vornehmen Mannes, der fein ganzes Leben 
XIX. u. 


658 Schuld und Suͤhne 


lang treu und ehrlich gedient hat und, man kann ſagen, bei 
ſeiner Amtstaͤtigkeit geſtorben iſt, wie deſſen Kinder betteln gehn 
muͤſſen.“ (Katerina Iwanowna hatte ſich dieſe phantaſtiſche Ge— 
ſchichte erſonnen und glaubte bereits ſteif und feſt an die Wahr— 
heit derſelben.) „Mag es dieſer nichtswuͤrdige hohe Chef ſehen! 
Und du biſt ja auch toͤricht, Sofja: was ſollen wir denn jetzt 
eſſen, ſag mal? Wir haben dich genug ausgeſogen; ich will das 
nicht länger! Ach, Rodion Romanowitſch, Sie find da!“ rief fie, 
als ſie Raſkolnikow erblickte, und ſtuͤrzte zu ihm hin. „Bitte, ſetzen 
Sie doch dieſem Naͤrrchen auseinander, daß dies das Kluͤgſte war, 
was wir tun konnten! Sogar die Leierkaſtenmaͤnner verdienen 
ſo viel, daß ſie davon leben koͤnnen; uns aber werden alle Leute 
ſofort als etwas Beſſeres erkennen; ſie werden merken, daß wir 
eine ungluͤckliche, vornehme Familie find, die ihren Ernaͤhrer ver⸗ 
loren hat und an den Bettelſtab gebracht iſt. Und dieſe Exzellenz, 
dieſer Kerl, wird ſeine Stelle verlieren; das werden Sie ſehen! 
Alle Tage werden wir zu ihm vors Fenſter gehen, und wenn 
der Kaiſer vorbeifaͤhrt, dann will ich mich auf die Knie werfen 
und ihm die Kinder alle hinſtellen und auf ſie hinweiſen und 
jagen: ‚Schüße fie, du Vater deines Volkes!“ Er iſt ein Vater der 
Waiſen, er iſt barmherzig, er wird ſie ſchuͤtzen; das werden Sie 
ſehen! Aber dieſe Exzellenz ... Lida! Tenez-vous droite! 
Nikolai, du ſollſt gleich wieder tanzen! Was plaͤrrſt du denn? 
Er plaͤrrt ſchon wieder! Nun, warum fuͤrchteſt du dich denn, du 
kleiner Dummrian! O Gott, was ſoll ich nur mit dieſen Kindern 
anfangen! Wenn Sie müßten, Rodion Romanowitſch, wie un: 
vernünftig fie find! Ach, was ſoll man mit ſolchen Kindern 
machen!...“ 

Sie wies auf die ſchluchzenden Kinder, und auch ihr ſelbſt war 
das Weinen nahe, was ſie jedoch an ihrem ununterbrochenen, 
ſchnellen Gerede nicht hinderte. Raſkolnikow verſuchte, fie zur 


Fünfter Teil 659 


Heimkehr nach Haufe zu bewegen; in der Hoffnung, dadurch auf 
ihr Ehrgefuͤhl zu wirken, ſagte er ihr ſogar, es ſchicke ſich nicht 
fuͤr ſie, wie eine Drehorgelſpielerin auf den Straßen herum— 
zuziehen, da ſie doch Vorſteherin eines vornehmen Maͤdchen— 
penſionates zu werden beabſichtige. 

„Ein Penſionat, ha-ha-ha! Das ſind Luftſchloͤſſer!“ rief Kate— 
rina Iwanowna, mußte aber fogleich nach dem Lachen heftig 
huſten. „Nein, Rodion Romanowitſch, mit dieſer ſchoͤnen Hoff— 
nung iſt es vorbei! Alle haben uns verlaſſen! . . . Und dieſe 
Kanaille von Exzellenz ... Wiſſen Sie, Rodion Romanowitſch, 
ich habe mit einem Tintenfaſſe nach dem Kerl geworfen; es 
ſtand mir im Vorzimmer eines gerade zur Hand, auf dem Tiſch 
neben dem Bogen Papier, auf dem ſich die Beſucher eintragen. 
Ich habe mich in andrer Weiſe eingetragen: ich habe ihm das 
Tintenfaß an den Kopf geworfen und bin davongelaufen. O, 
dieſe gemeinen, grundgemeinen Menſchen! Aber ich ſchere mich 
um die ganze Bande nicht; ich werde jetzt ſelbſt fuͤr den Unter— 
halt der Kinder ſorgen und mich vor keinem Menſchen durch 
Bitten erniedrigen! Wir haben die hier“ (Пе wies auf Sofja) 
„genug ausgenutzt. Polenka, wieviel haben wir ſchon geſammelt? 
Zeige mal her! Wie? Nur zwei Kopeken? O, dieſe ſchaͤndlichen 
Menſchen! Sie geben uns nichts, ſondern laufen uns nur nach 
und ſtrecken uns die Zunge heraus! Nun, was hat dieſer Toͤlpel 
da zu lachen?“ Sie zeigte auf einen in dem Menſchenhaufen. 
„Das kommt alles daher, weil dieſer Nikolai ſo ſchwer von Be— 
griffen iſt; mit dem hat man ſeine liebe Not! Was willſt du, 
Polenka? Sprich mit mir Franzoͤſiſch, parlez- moi francais. Ich 
habe dich ja unterrichtet, du kannſt ja einige Saͤtze! ... Wie 
ſollen die Leute ſonſt erkennen, daß ihr gebildete Kinder aus einer 
guten Familie und uͤberhaupt etwas ganz anderes als Straßen— 
muſikanten ſeid; wir ziehen doch nicht mit einem Kafperletheater 


660 Schuld und Suͤhne 


— — — nen — — nm 


herum, ſondern wir fingen vornehme Lieder ... Ach ja! Was 
wollen wir denn jetzt ſingen? Ihr unterbrecht mich immerzu, 
und wir . . . Sehen Sie, Rodion Romanowitſch, wir find hier 
ſtehen geblieben, um ein Lied auszuſuchen, das wir ſingen wollen, 
. . . fo eines, zu dem auch Nikolai tanzen kann; ... denn Sie 
koͤnnen ſich denken, wir machen das jetzt alles ohne Voruͤbungen. 
Wir muͤſſen uns beſprechen und alles ordentlich durchproben; 
nachher gehen wir dann auf den Newſfki-Proſpekt; da gibt es 
weit mehr Leute aus den hoͤheren Geſellſchaftskreiſen, und die 
werden uns fofort beachten. Lida kann Das Dörfchen‘ ... 
Aber wir koͤnnen doch nicht in einem fort, Das Dörfchen‘ und 
‚Das Dörfchen‘ fingen, und das fingen ja auch alle! Wir muͤſſen 
etwas viel Vornehmeres ſingen . .. Nun, was haft du dir aus— 
gedacht, Polenka? Du ſollteſt doch deiner Mutter behilflich ſein! 
Ich habe gar kein Gedaͤchtnis mehr, gar kein Gedaͤchtnis; ſonſt 
wuͤrde mir ſchon etwas einfallen! Wir koͤnnen doch nicht ſingen: 
‚Hufaren, ſchwingt die Saͤbel!“ Ach, wißt ihr was, wir wollen 
franzoͤſiſch fingen: ‚Cing sous!“ Das habe ich euch ja beigebracht. 
Und was die Hauptſache iſt: da es franzoͤſiſch iſt, ſo ſehen alle 
Leute ſogleich, daß ihr vornehme Kinder ſeid, und das hat eine 
viel ruͤhrendere Wirkung ... Wir koͤnnten auch „Marlborough 
s’en va-t-en guerre!“ fingen; denn das iſt geradezu ein Kinder: 
lied, geradezu ein Kinderlied, und wird in allen ariſtokratiſchen 
Haͤuſern dazu benutzt, die Kinder in Schlaf zu ſingen: 
„Marlborough s’en va-t-en guerre, 
Ne sait quand reviendra... .“ 

begann ſie zu ſingen. „Nein, wir wollen doch lieber, Cing sous“ 
ſingen. Nun, Nikolai, ſetze die Haͤnde auf die Huͤften und drehe 
dich, recht flink, und du, Lida, drehe dich auch in entgegengeſetzter 
Richtung, und ich und Polenka, wir werden dazu ſingen und den 
Takt klatſchen! 


Fünfter Teil 661 


— — 


‚Сша sous, einq sous 
Pour monter notre ménage.“ 


Kche⸗kche⸗kche!“ (Ein heftiger Huſten erſchuͤtterte fie.) „Bring 
dein Kleid in Ordnung, Polenka; es iſt dir an den Schultern 
heruntergerutſcht,“ bemerkte ſie mitten in dem Huſtenanfalle, 
als ſie einmal Atem ſchoͤpfte. „Jetzt iſt es ganz beſonders noͤtig, 
daß ihr euch recht anſtaͤndig haltet und nach allen Regeln des 
guten Tones benehmt, damit alle Leute ſehen, daß ihr vornehme 
Kinder ſeid. Ich hatte damals gleich geſagt, das Mieder ſollte 
laͤnger zugeſchnitten und die Leinwand doppelt genommen 
werden; aber da kamſt du, Sofja, mit deinen Ratſchlaͤgen da— 
zwiſchen: Kuͤrzer, kürzer!“ Nun, was iſt dabei herausgekommen? 
Daß das Kind ganz verunftaltet ausſieht ... Na, nun weint 
ihr ja wieder alle! Was habt ihr denn, ihr dummen Kinder! 
Nun, Nikolai, fang an, recht flink, recht flink, — ach, was iſt 
das für eine Plage mit dem Kinde! ... 


‚Cing sous, eing sous ... 


Schon wieder ein Schutzmann! Nun, was willſt du von uns?“ 

Wirklich draͤngte ſich ein Schutzmann durch den Menſchen— 
ſchwarm hindurch. Aber gleichzeitig näherte ſich ihr ein Herr von 
etwa fünfzig Jahren, im Uniformmantel eines höheren Be: 
amten, mit einem Orden am Halſe (dieſer letztere Umſtand war 
Katerina Iwanowna beſonders erwuͤnſcht und verfehlte auch 
auf den Schutzmann ſeine Wirkung nicht), und reichte ihr ſchwei— 
gend einen Dreirubelſchein. Der Ausdruck ſeines Geſichtes be— 
kundete aufrichtiges Mitleid. Katerina Iwanowna nahm den 
Schein und verbeugte ſich hoͤflich, faſt zeremoniell, vor dem 
Geber. 

„Ich danke Ihnen, gnaͤdiger Herr,“ begann ſie in großartigem 
Tone. „Die Gründe, die uns bewogen haben, . . . Hier, nimm 


662 Schuld und Suͤhne 


— mens: * 5 


das Geld, Polenta. Siehſt du, es gibt noch edle, großmuͤtige 
Menſchen, die ſich ſofort bereit finden laſſen, einer armen vor— 
nehmen Dame im Unglüde zu helfen. Gnaͤdiger Herr, Sie ſehen 
hier vaterloſe Waiſen vor ſich, aus vornehmer Familie, man 
kann ſogar fagen, mit hochariſtokratiſcher Verwandtſchaft .. 
Aber dieſer Schuft, der fruͤhere Chef meines Mannes, ſaß da 
und ſpeiſte Haſelhuͤhner, . .. mit den Füßen hat er getrampelt, 
weil ich ihn ſtoͤrte ... ‚Euer Exzellenz, fagte ich, beſchuͤtzen 
Sie uns hilfloſe Hinterbliebene; Sie haben ja den verſtorbenen 
Semjon Sacharowitſch gut gekannt. Heute an ſeinem Begraͤbnis— 
tage iſt ſeine leibliche Tochter von dem ſchuftigſten aller Schufte 
verleumdet worden ... Schon wieder dieſer Schutzmann! 
Schuͤtzen Sie mich!“ rief ſie dem hohen Beamten zu. „Warum 
beläftigt mich dieſer Schugmann? Wir haben uns eben erſt vor 
einem aus der Mjeſchtſchanſkaja-Straße hierhergefluͤchtet ... 
Was geht dich das an, was wir hier tun, du Dummkopf!“ 

„Das iſt auf der Straße nicht erlaubt. Machen Sie keinen 
Unfug.“ 

„Du machſt ſelbſt Unfug! Ich tue ganz dasſelbe wie die 
Leierkaſtenmaͤnner; was geht es dich an?“ 

„Zum Herumziehen mit einem Leierkaſten muß man eine Gr: 
laubnis haben; Sie veranlaffen aber ſowieſo ſchon durch Ihr 
Benehmen einen Volksauflauf. Wo wohnen Sie?“ 

„Was? Eine Erlaubnis?“ ſchrie Katerina Iwanowna. „Ich 
habe heute meinen Mann begraben; was brauche ich da Roch 
fuͤr eine Erlaubnis!“ | 

„Beruhigen Sie 14$, Madame, beruhigen Sie ſich!“ begann 
der hohe Beamte. „Kommen Sie, ich will Sie nach Hauſe be— 
gleiten . . . Hier vor allen Leuten, das ſchickt ſich doch nicht ... 
Sie find krank . ..“ 

„Gnaͤdiger Herr, gnaͤdiger Herr, Sie wiſſen ja gar nicht, was 


. ² TE ре nr * 
— 25 n. * 0 


Fünfter Teil 663 


wir vorhaben!“ rief Katerina Iwanowna. „Wir wollen nach 
dem Newſki⸗Proſpekt gehen ... Sofja, Sofja! Aber wo iſt fie 
denn? Sie weint auch! Was habt ihr denn nur alle! ... Nikolai, 
Lida, wo wollt ihr hin?“ rief fie plotzlich erſchrocken. „Ach, die 
dummen Kinder! Nikolai, Lida! Wo laufen fie denn hin? ...“ 

Nikolai und Lida hatten ſich ſchon vorher infolge des Menſchen— 
auflaufs auf der Straße und des ſonderbaren Benehmens der 
irrſinnigen Mutter in groͤßter Angſt befunden, und als ſie nun 
ſchließlich den Schutzmann ſahen, der ſie anfaſſen und wegfuͤhren 
wollte, ergriffen ſie auf einmal wie auf Verabredung einander 
bei den Haͤnden und rannten davon. Schreiend und weinend 
eilte die arme Katerina Iwanowna ihnen nach, um ſie ein— 
zuholen. Es war ein trauriger, klaͤglicher Anblick, dieſes haſtig 
laufende, weinende und keuchende Weib. Sofja und Polenka 
liefen hinter ihr her. 

„Hol ſie zuruͤck, hol ſie zuruͤck, Sofja! O, die dummen, un— 
dankbaren Kinder! .. . Polenka! Greife fie... Und ich habe doch 
nur für euch ...“ 

Sie ſtrauchelte im eiligen Laufe und fiel hin. 

„Sie hat ſich blutig geſchlagen! O Gott!“ rief Sofja und beugte 
ſich uͤber ſie. 

Alle liefen hinzu und draͤngten ſich um ſie herum. Raſkolnikow 
und Lebeſjatnikow waren ziemlich die erſten bei ihr; auch der 
hohe Beamte lief hinzu und hinter ihm her der Schutzmann, der 
„Ach, herrjeh!“ brummte und mißmutig den Arm ſchwenkte, im 
Vorgefuͤhl, daß er von dieſer Geſchichte noch viele Umſtaͤnde 
haben werde. 

„Macht, daß ihr wegkommt! Macht, daß ihr wegkommt!“ rief 
er den Leuten zu, die ſich herumdraͤngten, und jagte ſie aus— 
einander. 

„Sie ſtirbt!“ ſchrie jemand. 


664 Schuld und Sühne 


„Sie iſt irrſinnig geworden!“ meinte ein andrer. 

„Gott helfe ihr!“ ſagte eine Frau und bekreuzte ſich. „Haben 
ſie denn das kleine Maͤdchen und das Jungchen wiedergekriegt? 
Aha, da bringen fie fie! Die ältere hat fie eingefangen ... Nein, 
dieſe toͤrichten kleinen Baͤlge!“ 

Aber als man Katerina Iwanowna genauer betrachtete, ſtellte 
ſich heraus, daß fie ſich nicht an einem Steine blutig gefchlagen 
hatte, wie dies Sofjas Annahme geweſen war, ſondern daß das 
Blut, von dem das Pflaſter geroͤtet war, ſich aus ihrer Bruſt 
durch die Kehle ergoſſen hatte. 

„Ich kenne das, ich habe dergleichen ſchon einmal mit an— 
geſehen,“ ſagte der Beamte leiſe zu Raſkolnikow und Lebefjat: 
nikow. „So geht es bei Schwindſucht zu: das Blut ſtuͤrzt hervor 
und erſtickt den Kranken. Einer Verwandten von mir iſt es ganz 
kuͤrzlich ebenſo gegangen; ich war ſelbſt dabei; etwa anderthalb 
Glaͤſer voll Blut, . . . und ploͤtzlich war es aus ... Aber was 
läßt ſich hier tun? Sie wird gleich ſterben.“ | 

„Laſſen Sie fie dorthin bringen, dorthin, nach meiner Woh— 
nung!“ bat боба. „Ich wohne hier! ... Da, in jenem Haufe; 
das zweite von hier. Nach meiner Wohnung, ſo ſchnell wie moͤg— 
lich!“ wandte ſie ſich rechts und links an die Umſtehenden. „Holt 
einen Arzt... O Gott!“ 

Infolge der Bemuͤhung des Beamten wurde dies ſchnell ins 
Werk geſetzt; ſogar der Schutzmann war behilflich, Katerina Iwa— 
nowna dorthin zu tragen. Man trug ſie, die wie tot war, in 
Sofjas Zimmer und legte ſie auf das Bett. Der Bluterguß 
dauerte noch fort, aber ſie ſchien wieder zu ſich zu kommen. In 
das Zimmer traten, außer Sofja, gleichzeitig noch Raſkolnikow, 
Lebeſjatnikow, der Beamte und der Schutzmann; der letztere 
hatte vorher noch den Menſchenſchwarm auseinandergejagt, von 
dem einige bis an die Tuͤr mitgekommen waren. Polenka fuͤhrte 


Fünfter Teil 665 


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Nikolai und Lida herein; ſie hatte an jeder Hand eines der beiden 
zitternden und weinenden Kinder. Auch ein großer Teil der 
Familie Kapernaumow fand ſich ein: er ſelbſt, ein lahmer, 
krummer Mann von ſonderbarem Ausſehen, mit borſtenartigem 
Kopfhaar und ebenſolchem Backenbarte; ferner ſeine Frau, deren 
Miene unabaͤnderlich einen Ausdruck von Angſt zeigte, und 
mehrere ihrer Kinder mit ftarren, beſtaͤndig erſtaunten Ge— 
ſichtern und offenem Munde. Unter dieſem Publikum tauchte 
plotzlich auch Swidrigailow auf. Raſkolnikow blickte ihn erſtaunt 
an, da er nicht begriff, woher er gekommen ſein koͤnnte, und ſich 
nicht erinnerte, ihn unter dem Menſchenſchwarm geſehen zu | 
haben. 

Es wurde von einem Arzte und von einem Geiſtlichen ge— 
ſprochen. Der Beamte ſagte zwar leiſe zu Raſkolnikow, ein 
Arzt ſei jetzt wohl uͤberfluͤſſig, ordnete aber doch an, daß einer 
geholt werden ſollte. Kapernaumow ſelbſt lief hin. 

Unterdeſſen war Katerina Iwanowna wieder zu ſich gekommen, 
und der Bluterguß hatte einſtweilen aufgehoͤrt. Sie ſah mit 
ſchmerzlichem, ſtarrem, durchdringendem Blicke die blaſſe, zit— 
ternde Sofja an, die ihr mit einem Tuche die Schweißtropfen 
von der Stirn abtrocknete; zuletzt bat ſie, man moͤchte ſie auf— 
richten. Man ſetzte ſie auf dem Bette aufrecht und hielt ſie von 
beiden Seiten. 

„Wo ſind die Kinder?“ fragte ſie mit ſchwacher Stimme. „Haſt 
du ſie hergebracht, Polenka? O, ihr dummen Kinderchen! War— 
um ſeid ihr fortgelaufen? .. . Ach!“ 

Auf ihren vertrockneten Lippen klebte noch Blut. Sie ließ ihre 
Augen rings umherwandern und ſah ſich um. 

„Alſo hier wohnſt du, Sofja! Kein einziges Mal bin ich bisher 
bei dir geweſen .. . Nun hat es ſich fo gefuͤgt! ...“ 

Sie blickte ſie mit tiefem Grame an. 


666 Schuld und Sühne 


„Wir haben dich ausgeſogen, Soſja! ... Polenka, Lida, Nikolai, 
kommt her. Da ſind ſie alle, Sofja, nimm ſie; ich gebe ſie in 
deine Haͤnde, . . mit mir iſt es aus! ... Der Ball iſt beendet!...“ 
(Ein muͤhſamer Atemzug.) „Legt mich hin, laßt mich wenigſtens 
ruhig ſterben ...“ 

Man legte ſie wieder auf das Kiſſen. 

„Einen Geiſtlichen habt ihr geholt? ... Das war unnoͤtig ... 
Das koſtet einen Rubel, und den habt ihr doch gewiß nicht uͤber— 
flüffig .. . Sünden habe ich keine ... Und Gott muß mir ſowieſo 
vergeben; er weiß ſelbſt, wieviel ich gelitten habe! ... Und ver— 
gibt er mir nicht, nun dann nicht! ...“ 

Sie geriet immer mehr in ein unruhiges Phantaſieren hinein. 
Mitunter fuhr ſie zuſammen, ließ ihre Augen rings umher— 
wandern und erkannte alle einen Moment; aber ſofort wurde 
das Bewußtſein wieder von Fieberphantaſien abgeloͤſt. Sie 
atmete roͤchelnd und nur muͤhſam; es war, als ob ihr etwas in 
der Kehle brodelte. 

„Ich ſagte zu ihm: ‚Euer Exzellenz! ...““ rief fie, mußte aber 
nach jedem Worte eine Pauſe machen, um Atem zu holen. „Dieſe 
Amalia Ludwigowna .. . Ach, Lida, Nikolai! Die Hände auf 
die Huͤften, ſchnell, ſchnell, glissez, glissez, pas de Basque! 
Stampf mit den Füßen auf! . .. Sei recht graziös!" Dann 
rezitierte ſie aus einem deutſchen Liede: 

„Du haft Diamanten und Perlen ...“ 
Wie geht es doch weiter? Das müßten wir ſingen ... 

‚Du haft die ſchoͤnſten Augen ... 

Mädchen, was willſt du mehr? .. . 
Na ja! Was willſt du mehr? Das wird der Dummkopf auch 
gerade herausbekommen! . . . Ach, da iſt noch ein andres Lied: 


In einem Tale Dagheſtans zu heißer Mittagszeit ... 


Fünfter Teil 667 


Ach, dieſes Lied habe ich fo geliebt; ſchwaͤrmeriſch geliebt habe 
ich es, Polenka! Weißt du, dein Vater fang es oft, . .. als er 
noch Bräutigam war . .. O, dieſe ſchoͤnen Tage! . . . Das, das 
ſollten wir ſingen. Nun, wie geht es doch weiter, wie geht es 
doch weiter? ... Ich habe es wahrhaftig vergeſſen ... Könnt 
ihr mich nicht darauf bringen? Wie war es doch gleich?“ 

Sie war in gewaltiger Aufregung und verſuchte mit aller Kraft, 
ſich aufzurichten. Schließlich begann ſie ſchreiend, mit entſetzlich 
heiſerer, uͤbermaͤßig angeſtrengter Stimme zu ſingen, aber nach 
jedem Worte fehlte ihr die Luft, und ihre Angſt wuchs immer 
mehr: 


„In einem Tale! ... Dagheſtans! . .. zu heißer Mittags— 
1 
Das Todesblei! .. . in wunder Bruſt! . . . 


Euer Exzellenz!“ jammerte ſie ploͤtzlich in herzzerreißender Klage 
auf und brach in Traͤnen aus. „Beſchuͤtzen Sie die vaterloſen 
Waiſen! Gedenken Sie der Gaſtfreundſchaft, die Sie bei dem 
verſtorbenen Semjon Sacharowitſch genoſſen haben!... Man 
kann ſogar fagen, aus einem ariſtokratiſchen Hauſe! . ..“ Qual— 
voll Luft holend, fuhr ſie zuſammen, kam auf einmal zur Be— 
ſinnung und ſah alle wie entſetzt an, erkannte aber ſogleich Sofja. 
„Sofja, Sofja!“ ſagte ſie ſanft und freundlich, als wundere ſie 
ſich, ſie vor ſich zu ſehen. „Liebe Sofja, du biſt auch hier?“ 

Man richtete ſie wieder auf. 

„Es geht zu Ende! ... Meine Zeit iſt da! ... Leb wohl, du 
arme Ungluͤckliche! ... Nun haben fie die elende Maͤhre zu 
Tode gehetzt, ... es ging über ihre Kraft!“ rief fie voll Haß und 
Verzweiflung und ſank mit dem Kopfe auf das Kiſſen. 

Sie verlor wieder die Beſinnung; aber dieſe letzte Bewußt— 
loſigkeit dauerte nicht lange: es trat der Tod ein. Ihr blaßgelbes 


| 39 а 


668 Schuld und Suͤhne 1 


abgemagertes Geſicht fiel hintenuͤber, der Mund oͤffnete ſich, 
die Beine ſtreckten ſich krampfhaft aus. Sie ſeufzte tief, tief auf 
und ſtarb. 

Sofja warf ſich uͤber die Leiche, ſchlang die Arme um ſie und 
verharrte ſo halb ohnmaͤchtig, den Kopf an die duͤrre Bruſt der 
Toten gelehnt. Polenka fiel am Fußende des Bettes nieder und 
kuͤßte die Füße der Mutter unter ſtroͤmenden Traͤnen. Nikolai 
und Lida, die noch kein Verſtaͤndnis fuͤr das Geſchehene hatten, 
aber ahnten, daß etwas ſehr Schreckliches vorgefallen ſein muͤſſe, 
faßten einander mit beiden Haͤnden an den Schultern, blickten 
ſich wechſelſeitig ſtarr an, oͤffneten auf einmal beide gleichzeitig 
den Mund und fingen an zu ſchreien. Sie hatten beide noch 
ihren Putz auf dem Kopfe: der Knabe den Turban, das Maͤdchen 
die Kappe mit der Straußenfeder. 

Wie war nur jenes Belobigungszeugnis ploͤtzlich auf das Bett 
neben die Leiche gekommen? Es lag dort bei dem Kopfkiſſen; 
Raſkolnikow ſah es. 

Er trat ans Fenſter; Lebeſjatnikow geſellte ſich eilig zu ihm. 

„Sie iſt tot!“ ſagte Lebeſjatnikow. 

In dieſem Augenblicke trat auch Swidrigailow heran. „Rodion 
Romanowitſch,“ fagte er, „ich habe notwendig ein paar Worte 
mit Ihnen zu reden.“ 

Lebeſjatnikow raͤumte ihm ſofort den Platz und entfernte ſich 
taktvoll. Swidrigailow führte den erſtaunten Raſkolnikow noch 
weiter weg nach der Ecke zu. 

„All dieſe Außerlichkeiten, ich meine das Begraͤbnis, und was 
ſonſt noch drum und dran haͤngt, nehme ich auf mich. Wiſſen 
Sie, es handelt ſich dabei doch nur um Geld, und ich habe Ihnen 
ja ſchon geſagt, daß ich Geld übrig habe. Die beiden kleinen 
Krabben und dieſe Polenka will ich in moͤglichſt guten Waiſen— 
anſtalten unterbringen und fuͤr jedes Kind ein bei erreichter 


Fünfter Teil 669 


Volljährigkeit auszahlbares Kapital von tauſendfuͤnfhundert Ru— 
beln deponieren, ſo daß Sofja Semjonowna uͤber ſie ganz be— 
ruhigt ſein kann. Und auch ſie ſelbſt will ich aus dem Pfuhl 
herausziehen; denn ſie iſt doch ein gutes Maͤdchen, nicht wahr? 
Na, dann teilen Sie alſo Ihrer Schweſter mit, daß ich die ihr 
zugedachten zehntauſend Rubel in dieſer Weiſe verwendet habe.“ 

„Was fuͤr Abſichten haben Sie denn bei dieſen großartigen 
Wohltaten?“ 

„Ach, was ſind Sie fuͤr ein mißtrauiſcher Menſch!“ erwiderte 
Swidrigailow lachend. „Ich habe Ihnen ja ſchon geſagt, daß 
ich dieſe Geldſumme uͤbrig habe. Na, daß ich es einfach aus 
Menſchenliebe tue, das halten Sie wohl fuͤr ausgeſchloſſen? 
Aber ſie“ (er wies mit dem Finger nach der Ecke, wo die Tote 
lag) „war doch keine Laus wie eine gewiſſe alte Wucherin. Wenn 
Sie nun zu entſcheiden gehabt hätten, ob Katerina Iwanowna 
ſterben oder Luſchin durch den Tod an der Veruͤbung ſeiner 
Schaͤndlichkeiten gehindert werden ſolle, wofuͤr haͤtten Sie ſich 
entſchieden? Und wenn ich hier nicht huͤlfe, ſo muͤßte ja Polenka 
dieſen ſelben Weg einſchlagen ...“ 

Er ſagte das mit luſtigem, ſchlauem Augenzwinkern und hielt 
feinen Blick unverwandt auf Raſkolnikow gerichtet. Dieſer wurde 
blaß, und ein Froſtgefuͤhl ergriff ihn, als er ſeine eigenen Aus— 
druͤcke, die er Sofja gegenuͤber gebraucht hatte, wieder hoͤrte. 
Er wankte zuruͤck und blickte Swidrigailow beſtuͤrzt an. 

„Wo woher wiſſen Sie das?“ fluͤſterte er; der Atem ver: 
ſagte ihm beinahe. 

„Ich logiere ja hier, auf der andern Seite dieſer Wand, bei 
Frau Roͤßlich. Hier wohnt Kapernaumow und nebenan Frau 
Roͤßlich, eine alte, treue Freundin von mir. Ich bin Sofja Se— 
mjonownas Nachbar.“ 

„Sie?“ 


670 Schuld und Sühne = 


„Allerdings,“ fuhr Swidrigailow fort, der ſich vor Lachen 
ſchuͤttelte, „und ich kann Sie auf Ehre verſichern, lieber Rodion 
Romanowitſch, daß Sie mein lebhafteſtes Intereſſe erweckt 
haben. Ich habe ſchon früher einmal geſagt, daß wir einander 
ſchon noch naͤher treten wuͤrden; das habe ich Ihnen vorher— 
geſagt; na, und nun hat ſich das verwirklicht. Sie werden ſehen, 
daß ich ein ganz angenehmer Menſch bin und daß es ſich mit 
mir ganz gut auskommen laͤßt.“ 


Sechſter Teil 


I 


ür Raſkolnikow begann nun eine eigenartige Zeit: es war, 

als hätte ſich ein Nebel rings um ihn gebildet und hielte 
ihn in unentrinnbarer, druͤckender Vereinſamung gefangen. 
Wenn er ſich ſpaͤter, lange nachher, an dieſe Zeit erinnerte, ſo 
war er der Überzeugung, daß ſein Bewußtſein damals manch— 
mal verdunkelt geweſen ſei und daß dieſer Zuſtand — mit 
einigen helleren Zwiſchenzeiten — faſt bis zu der abſchließenden 
Kataſtrophe gedauert habe. Er war feſt uͤberzeugt, daß er ſich 
damals in vieler Hinſicht geirrt habe, zum Beiſpiel uͤber den 
Zeitpunkt und die Dauer mancher Ereigniſſe. Wenigſtens er— 
fuhr er in der Folgezeit, wenn er ſich zu erinnern ſuchte und 
ſich bemuͤhte, in dieſe Erinnerungen Klarheit hineinzubringen, 
vieles uͤber ſeine eigene Perſon nur aus Mitteilungen, die er 
von andern empfing. Er verwechſelte zum Beiſpiel ein Er— 
eignis mit einem andern; oder er hielt auch eines fuͤr die Folge 
eines Vorfalles, der uͤberhaupt nur in ſeiner Phantaſie exiſtierte. 
Manchmal bemaͤchtigte ſich feiner eine krankhafte, quälende Un: 
ruhe, die ſogar in einen paniſchen Schrecken uͤberging. Er ent: 
ſann ſich auch, daß, ganz im Gegenſatz zu der ſonſtigen Angſt, 
Minuten, Stunden, vielleicht ſogar ganze Tage von einer Apathie, 
die ihn befallen hatte, ausgefuͤllt geweſen waren, — von einer 
Apathie, ähnlich dem krankhaft-teilnahmloſen Zuſtande mancher 
Sterbenden. Überhaupt war er in dieſen letzten Tagen an- 
ſcheinend ſelbſt bemüht, eine vollftändige, deutliche Erkenntnis 
ſeiner Lage zu vermeiden. Einige Ereigniſſe der allerletzten Zeit, 
die einer ſofortigen Klarſtellung bedurften, bedruͤckten ihn ſchwer; 
wie froh waͤre er geweſen, ſich von derartigen Sorgen befreien 
und losmachen zu koͤnnen, mit denen er ſich doch in ſeiner Lage 


672 Schuld und Suͤhne 


beſchaͤftigen mußte, wenn er ſich nicht dem völligen, unvermeid— 
lichen Untergange preisgeben wollte. 

Ganz beſonders beunruhigte ihn der Gedanke an Swidri— 
gailow; man konnte faſt ſagen, daß er nur an Swidrigailow 
dachte. Seit er von ihm in Sofjas Wohnung bei Katerina Iwa— 
nownas Tode jene unzweideutigen Außerungen gehoͤrt hatte, 
die eine ſo große Gefahr fuͤr ihn in ſich bargen, ſchien der ge— 
woͤhnliche Gang und Fluß ſeiner Gedanken geſtoͤrt zu ſein. Ob— 
gleich ihn dieſe neue Tatſache aufs aͤußerſte beunruhigte, beeilte 
ſich Raſkolnikow nicht, die Sache aufzuklaͤren. Manchmal, wenn 
er ſich auf einmal irgendwo in einem entfernten, ſtillen Stadt— 
teil in einem elenden Reſtaurant einſam an einem Tiſche in 
Gedanken verſunken vorfand und ſich kaum beſinnen konnte, 
wie er dahin geraten war, mußte er ploͤtzlich an Swidrigailow 
denken; zu ſeiner Beaͤngſtigung wurde er ſich deutlich bewußt, 
daß er ſo bald wie tunlich ſich mit dieſem Menſchen ausſprechen 
und einen endguͤltigen Beſchluß, ſoweit ein ſolcher moͤglich ſei, 
faffen muͤſſe. Einmal, als er aus der Stadt hinausgegangen war, 
bildete er ſich ſogar ein, er erwarte dort Swidrigailow, und 
ſie haͤtten dort eine Zuſammenkunft verabredet. Ein andermal 
erwachte er vor Tagesanbruch irgendwo an der Erde im Ge— 
buͤſch und hatte kaum eine Erinnerung dafuͤr, wie er dahin ge— 
kommen war. Übrigens hatte er in den erſten zwei, drei Tagen 
nach Katerina Iwanownas Tode Swidrigailow ſchon ein paar— 
mal getroffen, faft immer in Sofjas Wohnung, wohin er ſelbſt 
eigentlich ohne beſtimmte Abſicht und immer nur auf einen 
Augenblick gekommen war. Sie wechſelten miteinander immer 
nur ein paar kurze Worte und ſprachen nie uͤber den Haupt— 
punkt, als beſtaͤnde zwiſchen ihnen eine ſtillſchweigende Ber: 
abredung, hierüber vorläufig zu ſchweigen. Katerina Jwanownas 
Leiche lag noch in der Wohnung im Sarge. Swidrigailow ord— 


ee бы 


Sechſter Teil 673 


nete alles fuͤr das Begraͤbnis an und ſcheute dabei keine Muͤhe. 
Auch Sofja war ſehr in Anſpruch genommen. Bei dem letzten 
Zufammentreffen hatte Swidrigailow Raſkolnikow mitgeteilt, 
daß er die Angelegenheit der Kinder Katerina Iwanownas ет: 
ledigt habe, und zwar gluͤcklich erledigt; er habe, dank ſeinen Ver— 
bindungen, Perſoͤnlichkeiten ausfindig gemacht, mit deren Hilfe 
es moͤglich geweſen ſei, die Waiſen alle drei ſofort in ſehr an— 
ſtaͤndigen Anſtalten unterzubringen; auch das fuͤr ſie deponierte 
Geld habe zu dieſem Reſultate weſentlich mitgewirkt, weil Waiſen, 
die ein Kapital beſaͤßen, weit leichter Stellen faͤnden als mittel— 
loſe. Er erwaͤhnte auch Sofja, verſprach, naͤchſter Tage ſelbſt zu 
Raſkolnikow heranzukommen, und bemerkte, er wuͤnſche ſich mit 
ihm zu beraten; eine Beſprechung ſei durchaus erforderlich, es 
waͤren da einzelne Punkte ... Dieſes Geſpraͤch fand auf dem Flur 
an der Treppe ſtatt. Swidrigailow blickte Raſkolnikow forſchend 
in die Augen und fragte plößlich nach kurzem Stillſchweigen leiſe: 

„Warum ſind Sie denn ſo verſtoͤrt, Rodion Romanowitſch? 
Wirklich, Sie hoͤren zwar zu und ſehen einen an; aber es macht 
den Eindruck, als ob Sie gar nicht verſtehen, was man ſagt. 
Immer Courage! Ich moͤchte gern einmal ausfuͤhrlicher mit 
Ihnen ſprechen; ſchade nur, daß ich ſo viel zu tun habe, mit 
fremden und eigenen Angelegenheiten ... Ach, Rodion Roma- 
nowitſch,“ fuͤgte er auf einmal hinzu, „alle Menſchen brauchen 
Luft, Luft, Luft! ... Das iſt die Hauptſache!“ 

Er trat zur Seite, um den Geiſtlichen und den Kuͤſter, die die 
Tteppe hinaufkamen, vorbei zu laffen. Sie kamen, um die Toten: 
meſſe zu halten. Auf Swidrigailows Anordnung wurde puͤnkt— 
lich zweimal am Tage Totenmeſſe gehalten. Swidrigailow ging 
weg, ſeinen Geſchaͤften nach; Raſkolnikow blieb einen Augen— 
blick ſtehen, uͤberlegte und folgte dann dem Geiſtlichen in Sofjas 
Wohnung. 

XIX. аз. 


674 Schuld und Suͤhne 


— ——.———ů —ñ̃ —-— ſ — p y ——— — 


Er blieb in der Tuͤr ſtehen. Leiſe, wuͤrdevoll, tiefernſt begann 
die Liturgie. In dem Gedanken an den Tod und in dem Gefuͤhl 
von der Gegenwart des Todes hatte fuͤr ihn ſtets, von fruͤheſter 
Kindheit an, etwas Bedruͤckendes, geheimnisvoll Furchtbares ge— 


legen, und ſeit langer Zeit hatte er keine Totenmeſſe mehr mit 
angehoͤrt. Auch noch etwas andres verſetzte ihn in Furcht und 
Unruhe. Er blickte auf die Kinder; ſie lagen alle am Sarge auf 
den Knien; Polenka weinte. Hinter ihnen, leiſe und ſchuͤchtern 
weinend, betete Sofja. „Sie hat mich in dieſen letzten Tagen 
kein einziges Mal angeblidt und kein einziges Wort zu mir ges 
ſprochen,“ dachte Raſkolnikow. Die Sonne beleuchtete hell das 
Zimmer; Weihrauchwoͤlkchen durchzogen es; der Geiſtliche las: 
„Gott gebe dir Ruhe.“ Raſkolnikow blieb waͤhrend der ganzen 
Dauer des Gottesdienſtes. Der Geiſtliche muſterte ihn, waͤhrend 
er den Segen erteilte und ſich verabſchiedete, mit einem eigen: 
tuͤmlichen Blicke. Nach Beendigung der geiſtlichen Handlung 
trat Raſkolnikow an Sofja heran. Dieſe ergriff plöglich feine 
beiden Haͤnde und lehnte den Kopf an ſeine Schulter. Dieſe 
einfache, freundliche Bewegung verſetzte ihn in Staunen; es er— 
ſchien ihm ſogar ganz ſeltſam: wie? nicht die geringſte Abneigung, 
nicht der geringſte Widerwille gegen ihn, nicht das geringſte 
Zittern ihrer Hände? Das war ja ein Übermaß von ſelbſt— 
verleugnendem Herabſteigen. So faßte er es wenigſtens auf. 
Sofja ſprach nichts. Raſkolnikow druͤckte ihr die Hand und ging 
hinaus. Er fuͤhlte eine ſchwere Laſt auf dem Herzen. Haͤtte er 
in dieſem Augenblicke die Moglichkeit gehabt, irgendwohin fort— 
zugehen und dort ganz allein zu bleiben, und waͤre es auch das 
ganze Leben lang, fo hätte er ſich gluͤcklich geſchaͤtzt. Der Grund 
lag darin, daß er jetzt zwar faſt immer allein war, aber trotzdem 
nie das Gefuͤhl des Alleinſeins hatte. Er ging manchmal vor 
die Stadt, auf die Landſtraße, einmal ſogar in ein Waͤldche n; 


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Sechſter Teil 675 


aber je einſamer der Ort war, um ſo ſtaͤrker empfand er dort 
die Naͤhe, die Gegenwart von etwas Beunruhigendem, das ihn 
nicht eigentlich in Angſt verſetzte, aber ihn doch ſtoͤrte, ſo daß er 
moͤglichſt ſchnell wieder in die Stadt zuruͤckkehrte, ſich unter die 
Menge miſchte, Reſtaurants und Schenken beſuchte und auf den 
Troͤdelmarkt und den Heumarkt ging. Hier wurde es ihm etwas 
leichter ums Herz, und hier kam es ihm ſogar eher einſam vor. 
In einer Speiſewirtſchaft wurden gegen Abend Lieder geſungen; 
da ſaß er eine ganze Stunde dabei, hoͤrte zu und hatte nachher 
die Empfindung, daß ihm das recht angenehm geweſen ſei. Aber 
zum Schluß wurde er wieder unruhig, als ob ihn Gewiſſensbiſſe 
quaͤlten: „Ich ſitze hier und hoͤre Lieder mit an und habe doch 
wahrhaftig Dringlicheres zu tun!“ dachte er. Übrigens wurde er 
ſich gleich dort daruͤber klar, daß dies nicht das einzige war, was 
ihn beunruhigte, ſondern daß da noch etwas andres war, was 
eine unverzuͤgliche Entſcheidung verlangte, was er aber weder 
in Gedanken ſich deutlich vorſtellen noch mit Worten ausdruͤcken 
konnte. Alles ſchlang ſich zu einem unentwirrbaren Knaͤuel zu— 
fammen. „Nein, lieber doch irgendein Kampf, . .. ſei es wieder 
mit Porfiri oder mit Swidrigailow! ... Wenn mich nur recht 
bald jemand herausforderte oder anfiele!... Ja, ja!“ dachte er. 
Er verließ die Speiſewirtſchaft und fing auf der Straße beinahe 
an zu laufen. Der Gedanke an Awdotja und an die Mutter 
jagte ihm auf einmal einen jaͤhen Schreck ein. Dies war die 
Nacht, wo er vor Tagesanbruch auf der Kreſtowſki-Inſel im Ge— 
buͤſch erwachte, an allen Gliedern vor Fieberfroſt zitternd. Er ging 
nach Hauſe, wo er am fruͤhen Morgen anlangte. Nach einigen 
Stunden Schlafs war das Fieber voruͤber; aber er erwachte erſt 
ſehr ſpaͤt: es war zwei Uhr nachmittags. 

Es fiel ihm ein, daß auf dieſen Tag Katerina Iwanownas 
Beerdigung angeſetzt geweſen war, und er war froh daruͤber, 


ne 
vr. 


676 Schuld und Suͤhne 1 


daß er nicht dabei geweſen war. Naftafja о ihm etwas zu 
eſſen; er aß und trank mit großem Appetit, ordentlich gierig. 
Sein Kopf war friſcher und er ſelbſt ruhiger als an den drei 
letzten Tagen. Er wunderte ſich ſogar einen Moment uͤber die 
fruͤheren Anfaͤlle paniſcher Furcht. Da oͤffnete ſich die Tuͤr, und 
Raſumichin trat ein. 

„Ah! Du ißt ja, alſo biſt du nicht krank!“ ſagte Raſumichin, 
nahm einen Stuhl und ſetzte ſich an den Tiſch, Raſkolnikow 
gegenuͤber. 

Er war aufgeregt und gab ſich keine Muͤhe, dies zu verbergen. 
Er redete mit ſichtlichem Arger, aber nicht haftig, und ohne die 
Stimme beſonders zu erheben. Es war unſchwer zu erkennen, 
daß ihn irgendeine beſondere Abſicht, und zwar ausſchließlich 
eine ſolche, zu dieſem Beſuche veranlaßte. 

„Hoͤre mal!“ begann er in entſchloſſenem Tone. „Ich ſchere 
mich den Teufel um euch alle; aber nach allem, was ich jetzt 
ſehe, iſt mir klar, daß ich von euren Geſchichten nichts verſtehe 
Bitte, glaube ja nicht, daß ich gekommen bin, um dich auszufragen; 
eure Geheimniſſe ſind mir ganz gleichguͤltig! Ich will gar nichts 
davon wiſſen! Und wenn du mir jetzt von felbft alles enthüllen 
wollteſt, fo würde ich es vielleicht gar nicht einmal anhören, 
ſondern mich einfach umdrehen und weggehen. Ich bin nur her— 
gekommen, um perſoͤnlich und zuverlaͤſſig feſtzuſtellen, ob es 
wahr iſt, daß du verruͤckt geworden biſt. Siehſt du, manche Leute 
ſind naͤmlich uͤberzeugt, daß du entweder wirklich verruͤckt biſt 
oder wenigſtens ſtarke Anlage dazu haſt. Ich muß dir geſtehen, 
daß ich ſelbſt ſehr geneigt war, dieſer Meinung beizupflichten, 
erſtens im Hinblick auf deine toͤrichte und zum Teil ſchaͤndliche 
Handlungsweiſe, die ſich auf andre Art nicht erklaͤren laͤßt, und 
zweitens wegen deines Benehmens neulich deiner Mutter und 
deiner Schweſter gegenuͤber. Nur ein Unmenſch und Schurke 


Sechſter Teil 677 


—— — ͤa mͤ— . ͤ— — f DIE FIRE 5: 


konnte fie jo behandeln, wenn es kein Verruͤckter war; und folg— 
lich mußteſt du verruͤckt ſein ...“ 

„Wann haſt du ſie zuletzt geſehen?“ 

„Ich bin ſoeben bei ihnen geweſen. Aber du ſelbſt haſt ſie ſeit 
damals gar nicht geſehen? Sag mal, wo treibſt du dich eigent— 
lich herum? Ich bin ſchon dreimal bei dir geweſen. Deine Mutter 
iſt ſeit geſtern ernſtlich krank. Sie hatte vor, zu dir zu gehen; 
Awdotja Romanowna verſuchte ſie zuruͤckzuhalten; aber ſie wollte 
auf nichts hören. ‚Wenn er krank Ш," fagte fie, ‚wenn fein Geiſt 
geftört ift, wer ſoll ihm dann beiſtehen, wenn es feine Mutter 
nicht tut?“ So kamen wir denn alle drei hierher; denn allein 
konnten wir ſie doch nicht gehen laſſen. Bis zu deiner Tuͤr haben 
wir ihr zugeredet, ſich doch zu beruhigen. Wir kamen herein, und 
du warſt nicht hier; da hat ſie denn hier eine Weile geſeſſen. 
Wohl zehn Minuten ſaß fie hier, und wir ftanden ſchweigend 
daneben. Dann ſtand fie auf und fagte: ‚Wenn er ausgeht und 
alſo geſund iſt und trotzdem nicht an ſeine Mutter denkt, ſo iſt 
es fuͤr die Mutter unſchicklich und unwuͤrdig, an ſeiner Schwelle 
zu ſtehen und um eine Freundlichkeit wie um ein Almoſen zu 
betteln.“ Als ſie wieder nach Hauſe gekommen war, mußte ſie 
ſich hinlegen; jetzt hat fie Fieber. Ich fehe,‘ fagte fie, ‚für fein 
Mädchen hat er Zeit.‘ Sie denkt ſich, daß ‚dein Mädchen“ dieſe 
боба Semjonowna Ш, deine Braut oder Geliebte, was weiß 
ich. Ich ging ſofort zu Sofja Semjonowna; denn ich wollte doch 
alles genau in Erfahrung bringen, Bruder. Ich kam hin und 
ſah: da ſtand ein Sarg, die Kinder weinten, Sofja Semjonowna 
probierte ihnen Trauerkleider an. Aber du warſt nicht da. Ich 
blickte mich um, bat um Entſchuldigung, ging wieder weg und 
erſtattete Bericht an Awdotja Romanowna. Es hatte ſich alſo 
herausgeſtellt, daß das alles Unſinn war und du gar keine Ge— 
liebte haft, und als das Wahrſcheinlichſte ergab ſich ſomit Ver: 


678 


ruͤcktheit. Aber nun a ich ſehen, daß du hier fißt und ge— 
kochtes Rindfleiſch ſchlingſt, als haͤtteſt du drei Tage lang nichts 
gegeſſen. Freilich eſſen auch Verruͤckte; aber obwohl du kein 
Wort zu mir geſagt haſt, bin ich doch feſt uͤberzeugt, daß du nicht 
verruͤckt БИ! Darauf möchte ich einen Eid ablegen. Das ſteht 
alſo jetzt von vornherein feſt, daß du nicht verruͤckt biſt. Und 
darum mag euch alle zuſammen der Teufel holen; denn da ſteckt 
irgendein Geheimnis dahinter, und ich habe keine Luſt, mir uͤber 
eure Geheimniſſe den Kopf zu zerbrechen. Ich bin nur her— 
gekommen, um mich mal ordentlich ſattzuſchimpfen,“ ſchloß er 
und ftand auf, „und um mir eine Herzenserleichterung zu ver: 
ſchaffen; aber ich weiß ſchon, was ich jetzt zu tun habe!“ 

„Was willſt du denn jetzt tun?“ 

„Was geht dich das an, was ich jetzt tun will?“ 

„Paß mal auf, du wirſt dich dem Trunke ergeben!“ 

„Woher ... woher weißt du das?“ f 

„Das zu erraten, iſt gerade kein Kunſtſtuͤck!“ 

Raſumichin ſchwieg ein Weilchen. 

„Du warſt von jeher ein ſehr ſcharfblickender Menſch und biſt 
niemals, niemals verruͤckt geweſen,“ bemerkte er dann ploͤtzlich 
ſehr eifrig. „Du haſt ganz recht: ich werde ku dem Trunke er: 
geben! Leb wohl!“ 

Er machte eine Bewegung nach der Tuͤr zu. 

„Ich habe uͤber dich, es war ja wohl vorgeſtern, mit meiner 
Schweſter geſprochen, Raſumichin.“ 

„Über mich! За... wo kannſt du fie denn vorgeſtern zu ſehen 
bekommen haben?“ fragte Raſumichin ſtehen bleibend; er war 
ſogar ein wenig blaß geworden, und man konnte merken, daß 
ſein Herz langſamer und mit Anſtrengung klopfte. 


„Sie war hierhergekommen, ſie allein; ſie ſaß hier und ſprach 


mit mir.“ 


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W 


Sechſter Teil 679 


—— 


„Das hat ſie getan?“ 

„Allerdings!“ 

„Was haft du denn zu ihr geſagt, . .. ich meine, über 
mich?“ 

„Ich habe zu ihr geſagt, daß du ein ſehr guter, ehrenhafter, 
arbeitſamer Menſch waͤreſt. Daß du ſie liebſt, habe ich ihr nicht 
geſagt, weil fie das ſelbſt weiß.“ 

„Das weiß ſie ſelbſt?“ 

„Natuͤrlich! Wo auch immer ich ſein mag, was auch immer 
mir zuſtoßen mag, bleibe du bei meiner Mutter und bei meiner 
Schweſter als ihr Beſchuͤtzer. Ich lege ſie ſozuſagen beide in 
deine Haͤnde. Ich ſage das, weil ich genau weiß, wie ſehr du 
meine Schweſter liebſt, und weil ich von der Reinheit deines 
Herzens uͤberzeugt bin. Ich weiß ferner, daß auch ſie dich lieb— 
gewinnen kann und ſogar vielleicht ſchon liebt. Nun waͤhle ſelbſt, 
was du fuͤr das Beſte haͤltſt: ob du dich dem Trunke ergeben willſt 
oder nicht.“ 

„Rodion .. . Ja, ſiehſt du... Nun... Ach, zum Teufel! 
Aber wohin willſt du denn eigentlich gehen? Siehſt du: wenn 
das ein Geheimnis iſt, dann ſag mir nichts davon! Aber ich . .. 
ich werde das Geheimnis ſchon noch erfahren .. . Ich bin über: 
zeugt, daß es ſich dabei ſicher nur um irgendeinen Unſinn, um 
reine Lappalien handelt und daß du allein die ganze Geſchichte 
eingeruͤhrt haſt. Im uͤbrigen aber biſt du ein vortrefflicher Menſch! 
Ein ganz vortrefflicher Menſch!“ 

„Ich wollte eigentlich noch hinzufuͤgen, aber du unterbrachſt 
mich, daß das vorhin eine ſehr vernuͤnftige Außerung von dir 
war, du haͤtteſt gar nicht die Abſicht, in dieſe Geheimniſſe ein— 
zudringen. Laß das alles vorlaͤufig auf ſich beruhen und be— 
unruhige dich nicht daruͤber. Du wirſt alles ſeinerzeit erfahren, 
nämlich fo bald als nötig. Geſtern hat jemand zu mir geſagt, der 


680 Schuld und Suͤhne 


— — — 


Menſch brauche Luft, Luft, Luft! Ich will gleich zu ihm gehen 
und ihn fragen, was er darunter verſteht.“ 

Raſumichin ſtand aufgeregt und mit feinen Gedanken beſchaͤf— 
tigt da; er ſuchte ſich etwas zurechtzulegen. 

„Er iſt ein politiſcher Verſchwoͤrer! Ganz beſtimmt! Und er 
ſteht unmittelbar vor einem entſcheidenden Schritte, das iſt ſicher! 
Es kann nicht anders fein, und .. . und Awdotja weiß davon ...“, 
dachte er bei ſich. 

„Alſo zu dir kommt Awdotja Romanowna,“ ſagte er langſam 
und nachdruͤcklich, „und du ſelbſt beabſichtigſt, mit jemand zu— 
ſammenzukommen, der da meint, man brauche mehr Luft, mehr 
Luft, und . . . und folglich ſteht auch dieſer Brief damit in 
irgendwelcher Beziehung,“ ſchloß er, als ſpraͤche er mit ſich ſelbſt. 

„Was fuͤr ein Brief?“ 

„Sie hat heute durch einen Boten einen Brief erhalten, der 
ſie ſehr aufgeregt hat. Sehr, gar zu ſehr. Ich fing an, von dir 
zu ſprechen; aber fie bat mich zu ſchweigen. Darauf ... darauf 
ſagte ſie, wir wuͤrden uns vielleicht ſehr bald trennen muͤſſen; 
darauf begann ſie, mir, ich weiß nicht wofuͤr, in warmen Aus— 
druͤcken zu danken; dann ging ſie in ihr Zimmer und ſchloß ſich 
ein.“ 

„Sie hat einen Brief erhalten?“ fragte Raſkolnikow nach— 
denklich. 

„Jawohl; haft du nichts davon gewußt? Hm! . ..“ 

Sie ſchwiegen beide einen Augenblick. 

„Leb wohl, Rodion! Weißt du, Bruder, ich ... Eine Zeitlang 
habe ich ... Nun aber, leb wohl; ſieh mal, eine Zeitlang. 
Nun, adieu! Ich muß gehen. Dem Trunke werde ich mich nicht 
ergeben. Jetzt iſt das nicht noͤtig ... Wenn du das denfft, irrſt 
du dich!“ 

Eilig ging er hinaus; aber als er ſchon draußen war und bei— 


Sechſter Teil 681 


nahe ſchon die Tür hinter ſich zugemacht hatte, öffnete er fie 
plotzlich noch einmal und ſagte, indem er dabei zur Seite 
blickte: 

„Da faͤllt mir noch ein: du erinnerſt dich gewiß an dieſen Mord, 
an das Geſpraͤch mit Porfiri, an die alte Frau? Na alſo, dann 
wollte ich dir nur ſagen, daß der Moͤrder gefunden iſt; er hat 
die Tat ſelbſt eingeſtanden und der Behoͤrde alle Beweiſe gegen 
ſich in die Hand gegeben. Denke dir nur, es iſt einer von jenen 
Malergeſellen, du beſinnſt dich, ich habe ſie hier bei dir noch ſo 
warm verteidigt. Kannſt du es wohl glauben, daß er dieſe ganze 
Szene, die Pruͤgelei mit ſeinem Kameraden und das Gelaͤchter 
auf der Treppe, als der Hausknecht und die zwei Zeugen hinauf— 
ſtiegen, abſichtlich veranftaltet hat, um den Verdacht von ſich 
abzulenken? Welche Schlauheit, welche Geiſtesgegenwart bei ſo 
einem jungen Racker! Es faͤllt einem ſchwer, daran zu glauben; 
aber er hat ſelbſt alles ſo dargelegt und ſelbſt alles geſtanden! 
Und wie habe ich mich blamiert! Nun, meiner Anſicht nach iſt 
er eben einfach ein Genie in der Verſtellungskunſt und Findig— 
keit, ein Genie in der Kunſt, die Behoͤrden hinters Licht zu 
fuͤhren, — und ſomit iſt kein Grund vorhanden, beſonders er— 
ſtaunt zu ſein! Warum ſollen nicht auch ſolche Genies vor— 
kommen koͤnnen? Und wenn er nicht imftande geweſen iſt feine 
Rolle bis zu Ende durchzufuͤhren, ſondern ein Geſtaͤndnis ab— 
gelegt hat, ſo wird mir ſeine Ausſage dadurch nur noch glaub— 
hafter. Sie erweckt fo noch mehr Zutrauen! . .. Aber wie habe 
ich mich damals blamiert! Und ich hatte mich ſo gewaltig fuͤr 
dieſe Menſchen ins Zeug gelegt!“ 

„Sag doch mal, woher haſt du denn das erfahren, und warum 
intereſſiert es dich fo?” fragte Raſkolnikow in ſichtlicher Auf: 
regung. 

„Na, ſo was! Warum mich das intereſſiert, fragt der Menſch! 


682 Schuld und Suͤhne 


— — 


. Erfahren habe ich es von Porfiri, auch von andern. Übrigens 
faſt alles von ihm ...“ 

„Von Porfiri?“ 

„Gewiß.“ Я 

„Was... was hat er denn darüber gejagt?” fragte Raſkol— 
nikow aͤngſtlich. 

„Er hat mir den Hergang ganz vortrefflich erklärt, ... pſycho— 
logiſch, ſo auf ſeine Art.“ 

„Er hat es dir erklaͤrt? Er ſelbſt?“ 

„Jawohl, er ſelbſt; aber nun adieu! Ein andermal will ich 
dir mehr davon erzaͤhlen; aber jetzt habe ich zu tun. 1 
eine Zeitlang habe ich gedacht ... Na, laſſen wir es jetzt; ein 
andermal! ... Warum ſollte ich mich jetzt betrinken? Du haft 
mich auch ohne Schnaps betrunken gemacht. Ganz betrunken 
bin ich, Rodion! Ohne Schnaps bin ich jetzt betrunken; na, nun 
adieu; ich komme ſchon mal wieder her; ſehr bald!“ 

Er ging hinaus. | 

„Er iſt ein politiſcher Verſchwoͤrer, ganz ſicher!“ dachte Raſu— 
michin mit groͤßter Beſtimmtheit, waͤhrend er langſam die Treppe 
hinabſtieg. „Auch ſeine Schweſter hat er mit hineingezogen; bei 
Awdotjas Charakter iſt das verſtaͤndlich, ſehr verſtaͤndlich. Sie 
haben Zuſammenkuͤnfte! .. . Auch fie ſelbſt hat mir ja Эт: 
deutungen darüber gemacht ... Aus vielen ihrer Außerungen, 

Haus manchem kurz hingeworfenen Worte, ... aus ihren 
Andeutungen laͤßt ſich alles mit Sicherheit entnehmen! Und 
wie waͤre denn auch dieſer ganze Wirrwarr anders zu erklaͤren? 
Hm! Und ich dachte ſchon ... O Gott, wie habe ich nur fo etwas 
denken koͤnnen! Ja, das war eine Verirrung von mir, und ich 
habe ihm ſchweres Unrecht getan! Damals bei der Lampe auf 
dem Korridor hat er mich zu dieſer Verirrung gebracht! Pfui, 
was war das für ein abfcheulicher, roher, gemeiner Gedanke von 


Sechſter Teil 683 


mir! Sehr brav von dieſem Nikolai, daß er es eingeftanden hat 
. . . Und wie einfach ſich jetzt alles Vorhergegangene erklärt! 
Seine Krankheit von damals, ſein ganzes ſonderbares Be— 
nehmen; und auch fruͤher, als er noch auf der Univerſitaͤt war, 
wie finfter und muͤrriſch war er da immer! ... Aber was hat 
es jetzt mit dieſem Briefe fuͤr eine Bewandtnis? Da ſteckt viel— 
leicht auch ſo etwas dahinter. Von wem iſt dieſer Brief? Ich 
vermute... Hm! Nein, das will ich ſchon alles herausbekommen.“ 

Er dachte an Awdotja und kombinierte allerlei uͤber ſie; es 
wurde ihm ganz angſt ums Herz. Aber er riß ſich von der Stelle, 
wo er in Gedanken ſtehen geblieben war, los und ſtuͤrmte davon. 

Sobald Raſumichin fortgegangen war, ſtand Raſkolnikow auf, 
wandte ſich zum Fenſter, rannte dann bald gegen die eine, bald 
gegen die andre Wand an, als haͤtte er die Enge ſeines Kaͤmmer— 
chens vergeſſen, ... und ſetzte ſich wieder auf das Sofa. Es war, 
als ſei er ein ganz neuer Menſch geworden; er hatte wieder 
einen Kampf vor ſich, und darin lag die Moͤglichkeit der Rettung, 
ein Ausweg! 

Ja, da zeigte ſich ein Ausweg! Die Ereigniſſe der letzten Zeit 
hatten aber auch gar zu ſchwer auf ihm gelaſtet, einen qual— 
vollen Druck auf ihn ausgeuͤbt und ihn zu erſticken gedroht; eine 
Art von Betaͤubung hatte ihn befallen gehabt. Seit der Szene 
mit Nikolai in Porfiris Bureau war es ihm geweſen, als ob er 
nicht mehr Atem holen koͤnne vor Beklemmung. Nach dieſer 
Szene mit Nikolai hatte an demſelben Tage die Unterredung 
mit боба ſtattgefunden; feine Aufgabe hatte er dabei ganz und 
gar nicht in der Weiſe durchgeführt und zu Ende gebracht, wie er 
ſich das vorher hatte vorgenommen gehabt, ... er war dabei 
eben ſchwach geworden, plotzlich und vollftändig! Mit einem 
Male! Und er hatte damals Sofja zugeſtimmt, von ganzem 
Herzen zugeſtimmt, daß er mit einer ſolchen Laſt auf der Seele 


681 Schuld und Suͤhne 


— — ——— — — — — —2— — 


ſo ganz allein nicht weiterleben koͤnne! und Swidrigallow? 
Swidrigailow war ein Raͤtſel ... Swidrigailow beunruhigte ihn, 
allerdings, aber doch nach einer andern Richtung hin. Auch mit 
Swidrigailow ſtand ihm vielleicht ein Kampf bevor. Mit Swidri— 
gailow konnte er vielleicht zurechtkommen; aber Porfiri, das 
war eine andre Sache. 

Alſo Porfiri hatte dieſem Raſumichin ſelbſt den Hergang er— 
klaͤrt, pſychologiſch erklaͤrt! Hatte er wieder ſeine verfluchte 
Pfychologie ins Treffen geführt! Porfiri hatte das getan? Sollte 
denn Porfiri auch nur einen Augenblick lang an Nikolais Schuld 
geglaubt haben, nach dem Geſpraͤche, das ſie miteinander ge— 
fuͤhrt hatten, nach jener Szene, die ſich vor Nikolais Eintritt 
zwiſchen ihnen beiden abgeſpielt hatte und fuͤr die es keine andre 
ausreichende Erklaͤrung gab außer einer einzigen? (Raſkolnikow 
hatte ſich in dieſen Tagen mitunter einzelne Bruchſtuͤcke der 
Szene mit Porfiri fluͤchtig durch den Kopf gehen laſſen; die voll— 
ſtaͤndige Erinnerung an den geſamten Vorgang haͤtte er nicht 
ertragen koͤnnen.) Es waren bei dieſem Geſpraͤche von ihnen 
beiden ſolche Ausdruͤcke gebraucht worden, es waren ſolche Be— 
wegungen und Geſten vorgekommen, ſie hatten ſolche Blicke 
miteinander gewechſelt, manches in einem ſolchen Tone ge— 
ſprochen, die Sache hatte ſich derartig zugeſpitzt gehabt, daß 
nach alledem dieſer Nikolai, welchen Porfiri gleich beim erſten 
Worte und bei der erſten theatraliſchen Bewegung richtig Ве: 
urteilt hatte, das eigentliche Fundament ſeiner Überzeugung 
nicht hatte erſchuͤttern koͤnnen. 

Beachtenswert war doch auch, daß ſogar Raſumichin bereits 
Verdacht geſchoͤpft gehabt hatte! Die Szene auf dem Korridor 
bei der Lampe mußte doch ſtark auf ihn gewirkt haben. Er war 
inzwischen zu Porfiri hingelaufen . .. Aber zu welchem Zwecke 
hatte ihn dieſer hinters Licht geführt? 3 In welcher Abſicht hatte 


Be 


Sechſter Teil 685 


er Raſumichin dazu veranlaßt, Nikolai für den Täter zu halten? 
Ganz ſicher hatte er dabei etwas vor; er verfolgte einen be— 
ſtimmten Plan; aber welchen? Seit jenem Vormittag war aller— 
dings ſchon geraume Zeit vergangen, ſehr viel Zeit, und von 
Porfiri war nichts zu hoͤren und zu ſehen geweſen. Das war 
natürlich ein beſonders ſchlimmes Zeichen ... Raſkolnikow griff 
nach ſeiner Muͤtze und ging, mit ſeinen Gedanken beſchaͤftigt, 
zur Tuͤr. Es war waͤhrend dieſer ganzen Zeit der erſte Tag, wo 
er ſich wenigſtens bei klarem Bewußtſein fuͤhlte. „Ich muß die 
Angelegenheit mit Swidrigailow ins reine bringen,“ dachte er, 
„und zwar ſo ſchnell wie moͤglich, um jeden Preis; auch der 
ſcheint darauf zu warten, daß ich ſelbſt zu ihm komme.“ In dieſem 
Augenblick flammte in ſeinem muͤden Herzen ploͤtzlich ein ſolcher 
Haß auf, daß er wohl faͤhig geweſen waͤre, einen von dieſen 
beiden, Swidrigailow oder Porfiri, ohne weiteres zu ermorden. 
Er hatte wenigſtens die Empfindung, daß er, wenn nicht jetzt, 
ſo doch ſpaͤter imſtande ſein wuͤrde dies zu tun. „Wir wollen 
ſchen, wir wollen ſehen!“ ſagte er vor ſich hin. 

Aber in dem Moment, als er die Tuͤr nach dem Flur oͤffnete, 
ſtieß er mit Porfiri ſelbſt zuſammen. Dieſer trat zu ihm ins 
Zimmer. Raſkolnikow war einen Augenblick ganz ſtarr, aber 
eben auch nur einen Augenblick. Merkwuͤrdig: er war uͤber Por— 
firis Erſcheinen nicht ſonderlich erſtaunt und faſt gar nicht er— 
ſchrocken. Er war nur zuſammengezuckt, hatte ſich aber ſchnell, 
augenblicklich wieder gefaßt. „Vielleicht kommt nun die Loͤſung! 
Aber wie hat er es nur angeftellt, daß er fo leiſe hergekommen ift 
wie eine Katze und ich gar nichts davon gehört habe? Ob er am 
Ende gar an der Tuͤr gehorcht hat?“ 

„Sie haben meinen Beſuch gewiß nicht erwartet, Rodion 
Romanowitſch!“ rief Porfiri Petrowitſch lachend. „Ich hatte 
ſchon lange vor, einmal bei Ihnen vorzuſprechen; nun kam ich 


686 Schuld und Suͤhne 


jetzt gerade vorbei und dachte: warum ſoll ich nicht auf ein paar 
Minuten herangehen und ſehen, was er macht? Wollten Sie 
ausgehen? Ich will Sie nicht lange aufhalten. Nur auf eine 
Zigarette, wenn Sie geſtatten.“ 

„Bitte, nehmen Sie Platz, Porfiri Petrowitſch, bitte, nehmen 
Sie Platz!“ lud ihn Raſkolnikow ein, und ſein Geſicht zeigte da— 
bei einen fo er'reuten, freundſchaftlichen Ausdruck, daß er ſich 
ſelbſt gewundert haben wuͤrde, wenn er ſich haͤtte ſehen koͤnnen. 

Er hatte den letzten Reſt feiner ſeeliſchen Kraft zuſammen— 
geſucht. So ſteht ein Menſch manchmal eine halbe Stunde lang 
Todesangſt vor einem Raͤuber aus; wenn ihm aber dann wirklich 
das Meſſer an die Kehle geſetzt wird, iſt die Angſt verſchwunden. 
Er ſetzte ſich ſeinem Beſucher gerade gegenuͤber und blickte ihn 
an, ohne mit den Wimpern zu zucken. Porfiri kniff die Augen 
zuſammen und rauchte eine Zigarette an. 

„Nun ſprich, ſprich!“ rief es in Raſkolnikows Innerem. „Vor— 
waͤrts, vorwaͤrts! Warum ſprichſt du nicht?“ 


II 


„Ja, ja, dieſe Zigaretten!“ begann Porfiri Petrowitſch end— 
lich, nachdem er ſeine Zigarette angeraucht und wieder Atem 
geſchoͤpft hatte. „Es iſt fuͤr mich ein Verderb, der reine Ver— 
derb, aber ich kanns nicht laſſen! Ich muß danach huſten und 
bekomme Kratzen im Halſe und Atembeſchwerden. Wiſſen Sie, 
ich bin aͤngſtlich, ich ging neulich zu Doktor B.. n; der unter— 
ſucht jeden Patienten mindeſtens eine halbe Stunde lang. Als 
er mich anſah, lachte er; dann beklopfte und behorchte er mich 
und fagte unter anderm: ‚Das Tabakrauchen iſt Ihnen nicht зи: 
traͤglich; Ihre Lungen ſind erweitert.“ Aber wie ſoll ich das 
Rauchen unterlaſſen? Wie ſoll ich einen Erſatz dafür finden? 
Ich trinke nicht, das iſt das ganze Malheur, he-he⸗he; ja, es iſt 


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Sechſter Teil 687 


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ein Malheur, daß ich nicht trinke! So hat alles ſein Gutes und 
ſein Schlimmes, Rodion Romanowitſch, ſein Gutes und ſein 
Schlimmes!“ 

„Warum greift er denn wieder zu einem aͤhnlichen Geſpraͤchs— 
ſtoff wie neulich?“ dachte Raſkolnikow voll Widerwillen. Der 
ganze Hergang bei ihrem letzten Zuſammenſein kam ihm auf 
einmal ins Gedaͤchtnis, und dasſelbe Gefuͤhl, das er damals ge— 
habt hatte, flutete wie eine Welle durch ſein Herz. 

„Ich bin ſchon vorgeſtern abend einmal hier bei Ihnen ge— 
weſen; Sie wiſſen wohl nichts davon?“ fuhr Porfiri Petrowitſch 
fort und blickte im Zimmer umher. „In dieſem Zimmer hier 
war ich. Ich kam, ebenſo wie heute, am Hauſe vorbei und dachte: 
will ihm doch einen Gegenbeſuch machen. Ich ging hinauf, das 
Zimmer ftand weit offen; ich ſah mich um, wartete ein Weilchen 
und ging wieder weg; ich habe mich nicht einmal bei Ihrem 
Dienftmädchen gemeldet. Sie ſchließen Ihr Zimmer nicht zu?“ 

Raſkolnikows Geſicht wurde immer finſterer. Porfiri ſchien 
ſeine Gedanken zu erraten. 

„Ich bin gekommen, um mich mit Ihnen auszuſprechen, beſter 
Rodion Romanowitſch, um mich mit Ihnen auszuſprechen! Das 
empfinde ich als meine Pflicht und Schuldigkeit Ihnen gegen— 
über,” fuhr er laͤchelnd fort und klopfte ſogar Raſkolnikow mit 
der Hand leicht auf das Knie. 

Aber faſt in demſelben Augenblicke nahm ſein Geſicht ploͤtz— 
lich eine ernſte, ſorgenvolle Miene an; ja, zu Raſkolnikows Ver— 
wunderung breitete ſich ſogar ein Ausdruck von Traurigkeit dar— 
uͤber aus. Er hatte ein ſolches Geſicht noch nie bei ihm geſehen 
und ihn deſſen auch gar nicht fuͤr faͤhig gehalten. 

„Es hat ſich das letzte Mal eine eigentümliche Szene zwiſchen 
uns beiden abgeſpielt, Rodion Romanowitſch. Eigentlich auch 
wohl ſchon bei unferer erſten Begegnung; aber damals ... Na, 


683 Schuld und Suͤhne 


wir wollen es jetzt zuſammenfaſſen! Nun alſo: ich habe mich 
Ihnen gegenüber vielleicht ſehr ungehoͤrig benommen; das fühle 
ich. Erinnern Sie ſich wohl noch: als wir uns trennten, da waren 
Ihre Nerven heftig erregt, und Ihre Knie zitterten, und meine 
Nerven waren auch heftig erregt und meine Knie zitterten. Und 
wiſſen Sie, wir benahmen uns damals gegeneinander eigent— 
lich nicht mehr in geziemender Form, nicht gentlemanlike. Wir 
ſind ja aber doch gentlemen, das heißt, unter allen Umſtaͤnden 
und in erſter Linie gentlemen; das muͤſſen wir immer feſthalten; 
Sie erinnern ſich wohl, wie weit es damals zwiſchen uns kam, 
. . . es war ſchon geradezu unziemlich.“ 

„Was will er denn eigentlich, und wofuͤr haͤlt er mich?“ fragte 
ſich Raſkolnikow erſtaunt; er hob den Kopf in die Höhe und blickte 
ſeinem Beſucher voll ins Geſicht. 

„Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es fuͤr uns jetzt das 
ЗеЙе iſt, wenn wir ganz offenherzig miteinander verhandeln,“ 
fuhr Porfiri Petrowitſch fort; er drehte dabei den Kopf ein 
wenig zur Seite und ſchlug die Augen nieder, als wuͤnſche er 
nicht mehr, ſein ehemaliges Opfer durch ſeinen Blick in Ver— 
wirrung zu verſetzen, und als verſchmaͤhe er feine früheren Kunft: 
griffe und Liſten. „Ja, ſolche Verdaͤchtigungen und ſolche Szenen 
darf man nicht zu lange dauern laſſen. Damals hat uns Nikolai 
noch auseinandergebracht; ſonſt weiß ich nicht, wie weit die 
Sache zwiſchen uns noch gegangen waͤre. Dieſer verdammte 
Kleinbuͤrger ſaß damals bei mir waͤhrend unſeres ganzen Ge— 
ſpraͤchs hinter der Zwiſchenwand, — koͤnnen Sie ſich das vor: 
ſtellen? Das iſt Ihnen gewiß bereits bekannt; auch weiß ich 
ſelbſt, daß er nachher bei Ihnen geweſen iſt. Aber was Sie da= 
mals vermuteten, traf nicht zu: ich hatte nach niemandem ge— 
ſchickt und damals noch keinerlei Anordnungen getroffen. Sie 
werden mich fragen, warum ich das unterlaſſen hatte. Ja, was 


Sechſter Teil 689 


ſoll ich Ihnen darauf antworten? Mir ſelbſt war die ganze Ge— 
ſchichte damals gar zu plöglich gekommen. Ich hatte eben erſt 
hingeſchickt und die Hausknechte holen laſſen. Sie haben die 
Hausknechte gewiß im Vorbeigehen bemerkt. Damals fuhr mir 
blitzſchnell ein Gedanke durch den Kopf; ſehen Sie wohl, Rodion 
Romanowitſch, ich war damals ganz feſt uͤberzeugt. Na, dachte 
ich, wenn ich auch andre Maßnahmen vorläufig unterlaſſe, fo 
will ich doch ein Mittel zur Anwendung bringen; dann habe 
ich wenigſtens das Meinige getan. Sie ſind außerordentlich reiz— 
bar, Rodion Romanowitſch, offenbar von Natur, ſogar uͤber— 
maͤßig reizbar, neben allen andern Grundzuͤgen Ihres Charak— 
ters und Herzens, die ich mir, wenigſtens teilweiſe, richtig er— 
kannt zu haben ſchmeichle. Na, natuͤrlich ſagte ich mir, ſogar 
in jenem Augenblicke: immer gluͤckt das nicht, daß ein Menſch 
fo einfach aufſteht und einem fein ganzes Geheimnis ausplaudert. 
Vorkommen tut das ja freilich, namentlich, wenn man einen 
völlig aus der Faſſung bringt; aber es Ш doch immerhin ein 
ſeltner Fall. Das konnte ich mir ſelbſt ſagen. Aber ich dachte: 
wenn ich nur eine kleine Handhabe dabei gewinne! Und wenn 
es auch nur eine ganz kleinwinzige iſt, nur eine einzige, aber 
ſo eine, daß man wirklich zufaſſen kann, etwas Konkretes, und 
nicht dieſe bloßen pſychologiſchen Gründe. Denn, dachte ich, 
wenn jemand ſchuldig iſt, ſo kann man doch gewiß erwarten, 
jedenfalls irgend etwas Tatſaͤchliches von ihm herauszube— 
kommen; man darf ſogar auf ein ganz unerwartetes Reſultat 
ſpekulieren. Ich gruͤndete damals meine Spekulation auf Ihren 
Charakter, Rodion Romanowitſch, ganz beſonders auf Ihren 
Charakter! Darauf ſetzte ich damals meine groͤßte Hoffnung.“ 
„Ja, wozu ... wozu ſagen Sie mir denn das alles jetzt?“ 
murmelte Raſkolnikow endlich, ohne ſich von feiner eigenen Frage 
ordentlich Rechenſchaft zu geben. 
XIX «. 


W 
a 


690 Schuld und Suͤhne 


„Was will er nur mit dieſen Reden?“ fragte er ſich ratlos. 
„Hält er mich wirklich für unſchuldig?“ 

„Wozu ich Ihnen das ſage? Ich bin ja hergekommen, um mich 
mit Ihnen auszuſprechen; das halte ich ſozuſagen fuͤr meine 
heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles ganz genau erzaͤhlen, wie 
alles geweſen iſt, den ganzen Hergang meiner damaligen Ver— 
blendung, um mich ſo auszudruͤcken. Ich habe Sie ſchwer leiden 
laſſen, Rodion Romanowitſch; aber ich bin kein Unmenſch. Ich 
begreife völlig, wie entſetzlich es einem vom Schickſal nieder: 
gedruͤckten, aber ſtolzen, ſelbſtbewußten, ungeduldigen Menſchen, 
ja, ganz beſonders einem ungeduldigen Menſchen, ſein muß, das 
alles uͤber ſich ergehen zu laſſen! Ich halte Sie jedenfalls fuͤr 
einen durchaus vornehm denkenden Menſchen, ſogar mit An— 
lage zur Hochherzigkeit, obgleich ich nicht mit allen Ihren An— 
ſchauungen uͤbereinſtimme, was ich mich fuͤr verpflichtet halte, 
Ihnen von vornherein geradezu und mit vollſtaͤndiger Auf— 
richtigkeit zu erklaͤren; denn es liegt mir völlig fern, Sie taͤuſchen 
zu wollen. Sobald ich Sie kennen gelernt hatte, fuͤhlte ich mich 
zu Ihnen hingezogen. Sie lachen vielleicht uͤber das, was ich 
da ſage? Dazu ſind Sie berechtigt. Ich weiß, daß ich Ihnen 
gleich vom erſten Blicke an zuwider war; denn ich bin ja auch 
wirklich nicht dazu angetan, daß mich jemand gern haben 
ſollte. Aber urteilen Sie über mich, wie Sie wollen; jetzt jeden⸗ 
falls wuͤnſche ich meinerſeits, mit allen Mitteln den uͤbeln бт: 
druck, den ich hervorgebracht habe, wieder gutzumachen und zu 
beweiſen, daß auch ich ein Menſch bin, der ein Herz und ein 
Gewiſſen hat. Ich rede ganz aufrichtig.“ 

Porfiri Petrowitſch machte wuͤrdevoll eine Pauſe. Raſkolni⸗ 
kow fuͤhlte, wie eine neue Schreckempfindung ihn uͤberkam. Der 
Gedanke, daß Porfiri ihn fuͤr unſchuldig halte, hatte auf einmal 
für ihn etwas Beaͤngſtigendes. 


Sechſter Teil 691 


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„Alles der Reihe nach zu erzaͤhlen, wie die Geſchichte damals 
plotzlich anfing,“ fuhr Porfiri Petrowitſch fort, „iſt wohl kaum 
noͤtig, ich meine ſogar, voͤllig uͤberfluͤſſig. Ich wuͤrde es auch kaum 
zuſtande bringen koͤnnen. Denn wie laͤßt ſich das ſo im einzelnen 
darlegen? Ganz zuerſt tauchten Geruͤchte auf. Was das fuͤr Ge— 
ruͤchte waren, und von wem ſie ausgingen, und wann ſie mir 
zu Ohren kamen, und aus welchem Anlaſſe die Aufmerkſamkeit 
gerade auf Sie gelenkt wurde, auch das alles zu erzaͤhlen halte 
ich fuͤr uͤberfluͤſſig. Was mich perſoͤnlich anlangt, ſo kam ich auf 
dieſen Gedanken zuerſt durch einen Zufall, durch einen ganz 
zufälligen Zufall, der ganz ebenſogut, wie er eintrat, auch hätte 
nicht eintreten koͤnnen. Was das fuͤr ein Zufall war? Hm! Ich 
glaube, daruͤber brauchen wir auch nicht zu reden. Alles dies, 
die Geruͤchte und der Zufall, wirkten in meinem Kopfe zur Ent— 
ſtehung eines beſtimmten Gedankens zuſammen. Ich geſtehe 
offen (denn wenn man einmal geſteht, muß man auch alles ge— 
ſtehen): ich war der erſte, der damals auf Sie verfiel. Aller— 
dings, die Notizen, die die alte Frau auf den Pfandſtuͤcken ge— 
macht hatte, und allerlei andre Indizien, — das war alles wert: 
los. Solche Indizien gibt es immer maſſenhaft. Ich hatte da— 
mals auch Gelegenheit, von der Szene im Polizeibureau mit 
allen Einzelheiten zu erfahren, gleichfalls ganz zufaͤllig, aber 
nicht nur ſo obenhin, ſondern von einem beſonders zuverlaͤſſigen 
Berichterſtatter, der, ohne ſich deſſen ſelbſt bewußt zu ſein, dieſe 
Szene in bewundernswerter Weiſe wiedergab. Sehen Sie, 
liebſter Rodion Romanowitſch, fo kam eins zum andern. Da 
mußten ja die Gedanken ganz von ſelbſt eine beſtimmte Richtung 
nehmen. Aus hundert Kaninchen wird niemals ein Pferd und 
aus hundert Verdachtsgruͤnden niemals ein Beweis, ſagt ein 
engliſches Sprichwort. Das iſt indes nur ſo ein Vernunftſatz; 
aber nun verſuche mal einer mit ſeinen Affekten zurechtzu— 


692 Schuld und Suͤhne 


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kommen, mit feinen Affekten; denn ein Unterſuchungskommiſſar 
iſt doch ſchließlich auch nur ein Menſch. Ich erinnerte mich da— 
mals auch an Ihre Abhandlung in einer Zeitſchrift; Sie be— 
ſinnen ſich wohl, wir haben bei dem erſten Beſuche, den Sie mir 
machten, ausfuͤhrlich daruͤber geſprochen. Ich habe mich da— 
mals uͤber Ihre Abhandlung luſtig gemacht; aber das hatte nur 
den Zweck, Sie weiter hervorzulocken. Ich wiederhole, Sie ſind 
ſehr ungeduldig und ſehr krank, Rodion Romanowitſch. Daß Sie 
von kuͤhner, hochfahrender Sinnesart find, ein ernſtes Tempera— 
ment beſitzen und ſchon viele Empfindungen in Ihrem Leben 
durchgemacht haben, alles das wußte ich ſchon laͤngſt. All ſolche 
Seelenzuſtaͤnde ſind mir wohlbekannt, und als ich Ihre Ab— 
handlung las, hatte ich das Gefuͤhl, als laͤſe ich etwas Bekanntes. 
In ſchlafloſen Naͤchten und in fanatiſcher Erregung haben Sie 
ſich dieſe Gedanken zurechtgelegt, mit hochſchwellendem, ſtark 
pochendem Herzen, mit verhaltenem Enthuſiasmus. Aber er iſt 
gefährlich, diefer verhaltene, ſtolze Enthuſiasmus der Jugend! 


Ich habe mich damals darüber luſtig gemacht, will Ihnen aber . - 


jetzt gern bekennen, daß ich ſolche jugendlichen, hitzigen, [фей 
ſtelleriſchen Erſtlingsverſuche außerordentlich liebe, das heißt, ſo 
als ſtiller Beſchauer. Ich moͤchte ſagen: es iſt das ein Dunſt und 
Nebel, und aus dem Nebel heraus ertoͤnt eine Saite. Ihre Ab— 
handlung iſt unſinnig und phantaſtiſch; aber man ſpuͤrt darin 
eine ſolche Überzeugungstreue, einen jugendlichen, unbeftech: 
lichen Stolz, die Kuͤhnheit der Verzweiflung. Es iſt eine truͤbe, 
duͤſtere Abhandlung; aber das iſt ganz gut ſo. Ich las Ihre Ab— 
handlung bald nach dem Erſcheinen und legte ſie beiſeite und 
dachte damals gleich: „Na, mit dem Menſchen paſſiert noch mal 
etwas! Und nun ſagen Sie einmal ſelbſt: nachdem all das 
vorangegangen war, wie ſollte man ſich da durch das, was folgte, 
nicht zu einem Verdachte hinreißen laſſen? (Ach, mein Gott, 


Sechſter Teil 6893 


ſage ich denn etwa jetzt irgend etwas gegen Sie? Behaupte ich 
denn etwa jetzt irgend etwas? Ich teile Ihnen ja nur meine da— 
maligen Beobachtungen mit.) Aber ich dachte: ‚Was liegt hier 
fuͤr Material vor? Hier liegt nichts vor, gar nichts liegt vor, 
vielleicht im ſtrengſten Sinne des Wortes nichts. Es paßt ſich 
ſogar fuͤr mich als Unterſuchungskommiſſar ganz und gar nicht, 
daß ich mich zu einer ſolchen Meinung hinreißen laſſe; ich habe 
ja dieſen Nikolai in Haͤnden, und zwar mit aͤußeren Beweiſen. 
Im uͤbrigen mag man ja verſchiedener Anſicht ſein; aber die 
aͤußeren Beweiſe! Und ein pſychologiſcher Hergang laͤßt ſich 
doch auch bei ihm konſtruieren; ich muß dieſen Menſchen ſtu— 
dieren, denn hier handelt es ſich um Leben und Tod.“ Warum 
ſetze ich Ihnen all das jetzt auseinander? Damit Sie es wiſſen 
und mich nicht in Ihrem Verſtande und Herzen anklagen, als 
haͤtte ich mich neulich boshaft gegen Sie benommen. Es war 
nicht boshaft, fage ich Ihnen ganz aufrichtig, he- he! Was meinen 
Sie: ich hätte damals keine Hausſuchung bei Ihnen veranftaltet? 
Ich habe es getan, ich habe es getan, he-he! Ich habe es getan, 
als Sie hier krank im Bette lagen. Es iſt nicht offiziell geſchehen 
und nicht von mir in eigener Perſon; aber geſchehen iſt es. Bis 
aufs letzte Tuͤpfelchen wurde bei Ihnen hier in der Wohnung 
alles revidiert, noch auf friſcher Tat: — aber en vain! Da 
dachte ich denn: jetzt wird dieſer Menſch zu mir kommen, von 
ſelbſt wird er kommen, und ſehr bald; wenn er ſchuldig iſt, kommt 
er ganz beſtimmt. Ein andrer wuͤrde nicht kommen; aber dieſer 
wird kommen. Und erinnern Sie ſich noch, wie Herr Raſumichin 
damals Ihnen gegenüber herausplatzte? Das hatten wir fo in 
die Wege geleitet, um Sie aufzuregen; wir hatten naͤmlich ab— 
ſichtlich von ſolchen Geruͤchten geſprochen, damit er ſich Ihnen 
gegenuͤber verſchnappen ſollte; denn Herr Raſumichin iſt ein 
Mann, der ſeine Entruͤſtung nicht zu beherrſchen vermag. Herrn 


4 Schuld und Sübne 


Sametom fiel vor allem Ihr Ingtimm und Ihre unverboßlene 
Kühnbeit auf: wie kann auch jemand in einem Reftaurant plög- 
lich jo damit herauskommen: Ich habe einen Nord begangen! 
Das iſt doch gar zu kuhn, gar zu dreiſt, dachte ich; und wenn er 
ſchuldig iſt, ſo iſt er ein furchtbarer Gegner! So dachte ich da⸗ 
mals. Und ich wartete! Ich wartete auf Sie mit groͤßter Span⸗ 
nung. Unſern Sametom hatten Sie damals vollſtändig unter- 
dekommen, ип ... das iſt ja eben das Malheur, daß dieſe 
nichts wůrdigen pſychologiſchen Folgerungen immer ihre zwei 
Seiten haben! Alſo ich wartete auf Sie, und ſiehe da: Gott 
ſandte Sie mir zu, Sie kamen! Mir klopfte ordentlich das Herz. 
Ach! Nun, warum mußten Sie damals zu mir kommen? Und 
Ihr Lachen, Ihr Lachen, als Sie zu mir ins Zimmer traten; 
erinnern Sie ſich? Ich ſah in Sie hinein, als ob Ihre Bruſt von 
Glas wäre. Hätte ich aber auf Sie nicht gerade in dieſer be⸗ 
ionderen Stimmung gewartet, jo würde ich auch in Ihrem 
Lachen nichts gefunden haben. Sehen Sie wohl, wieviel darauf 
ankommi, daß man in einer gewiſſen Stimmung iſt. Und Herr 
Raſumichin damals .. Ach, und der Stein, der Stein, erinnern 
Sie ſich? Der Stein, unter dem noch jetzt die Bertſachen ver⸗ 
borgen liegen! Mir war geradezu, als ſaͤhe ich ihn irgendwo in 
einem Gemuͤſegarten; von einem Gemüfegarten hatten Sie ja 
ſchon zu Sametom geſprochen, und denn nachher bei mir zum 
zweiten Male. Und als wir dann anfingen, Ihre Abhandlung 
zu beſprechen und Sie fie naͤher erläuterten, da faßte ich jedes 
Ihrer Worte in zwiefachem Sinne auf, als ob noch ein andres 
Wort dahinter verborgen ware! Na або, ſehen Sie, Rodion 
Romanoritſch, auf dieſe Beiſe verfolgte ich die eingeſchlagene 
Richtung immer weiter und weiter, und erſt als ich mit der 
Stirn gegen ein Hindernis anrannte, kam ich zur Beſinnung. 
Nein, ſagte ich mir,, was tue ich denn da? Wenn man Luft hat, 


7 ˙ A РТР Е VD ЗИИИНИИИ 


* 


Sechſter Teil 695 


ſo kann man all das reſtlos in ganz anderem Sinne erklaͤren, 
und eine ſolche Erklaͤrung macht dann ſogar noch einen natuͤr— 
licheren Eindruck. Es war eine rechte Qual! ‚Nein, dachte ich, 
wenn ich doch nur fo eine kleine Handhabe hätte!‘ Und als ich 
nun damals von dieſem Ziehen an der Tuͤrklingel hoͤrte, da 
wurde ich ordentlich ſtarr, ein Zittern lief mir uͤber den ganzen 
Leib. ‚Na,‘ dachte ich, ‚da habe ich ja meine Handhabe, da habe 
ich fie ja!‘ Und nun hörte ich auf, mir den Kopf zu zerbrechen; 
ich hatte einfach keine Luſt mehr dazu. Tauſend Rubel haͤtte 
ich in jenem Augenblicke aus meiner eigenen Taſche dafür де: 
geben, wenn ich Sie nur mit eigenen Augen haͤtte geſehen ge— 
habt: wie Sie damals hundert Schritte neben dem Kleinbuͤrger 
hergingen, nachdem er Ihnen ins Geſicht geſagt hatte: ‚Mörder!‘ 
und die ganzen hundert Schritte lang keine Frage an ihn zu 
richten wagten! ... Nun, und dieſes Froſtgefuͤhl im Rüden: 
mark? Und das Ziehen an der Tuͤrklingel im Zuſtande der Krank— 
heit, des halben Fieberwahns? Alſo wie koͤnnen Sie ſich nach 
alledem darüber wundern, Rodion Romanowitſch, daß ich mit 
Ihnen damals ſolche Spaͤßchen machte? Und warum mußten 
Sie auch gerade in jenem Augenblicke zu mir kommen? Wahr: 
haftig, ganz als ob Sie jemand zu mir hingetrieben haͤtte; und 
wenn uns nicht Nikolai noch auseinandergebracht hätte, fo... 
Erinnern Sie ſich noch an die Geſchichte mit Nikolai damals? 
Haben Sie das noch gut im Gedaͤchtnis? Das war ja ein Blitz— 
ſtrahl, ein Donnerſchlag, die auf uns niederpraſſelten! Na, und 
wie ſtellte ich mich dazu? Ich habe dieſem Blitz und Donner 
nicht im geringſten Glauben geſchenkt; das haben Sie ja ſelbſt 
geſehen! Ja, noch mehr! Nachher, als Sie weggegangen waren 
und er mir uͤber manche Punkte auf meine Fragen durchaus 
paſſende Auskunft gab, ſo daß ich ſelbſt erſtaunt war, auch da 
habe ich ihm abſolut nichts geglaubt! Sehen Sie, ſo feſt war 


696 Schuld und Suͤhne 


meine Überzeugung, wie Stahl und Eiſen. ‚Nein,‘ dachte ich, 
daraus wird nichts! Dagegen kann dieſer Nikolai nichts aus— 
richten!““ 

„Aber Raſumichin hat mir doch eben erſt mitgeteilt, Sie hielten 
auch jetzt noch Nikolai für ſchuldig, und Sie ſelbſt Hätten auch ihn, 
Raſumichin, davon überzeugt, daß ...“ 

Der Atem verſagte ihm, ſo daß er den Satz nicht zu Ende 
ſprechen konnte. Er hoͤrte in unbeſchreiblicher Erregung zu, wie 
ein Menſch, der ihn voͤllig durchſchaut hatte, ſeine eigene Er— 
kenntnis verleugnete. Er fuͤrchtete ſich, dies zu glauben, und 
glaubte es nicht. In den immer noch zweideutigen Worten 
Porfiris ſuchte und haſchte er mit aͤngſtlichem Eifer nach etwas 
Deutlicherem, Beſtimmterem. 

„Herr Raſumichin!“ rief Porfiri Petrowitſch in einem Tone, 
als waͤre er hoͤchſt erfreut uͤber Raſkolnikows Frage, nachdem 
dieſer die ganze Zeit her geſchwiegen hatte. „He-he⸗he! Ja, 
Herrn Raſumichin mußte ich von uns fernhalten, nach dem 
Sprichwort: was zu zweien Vergnuͤgen macht, da miſche ſich 
kein dritter hinein. Herr Raſumichin iſt hierfuͤr nicht die geeignete 
Perſoͤnlichkeit, und er iſt ja auch an der Sache ganz unbeteiligt; 
er kam zu mir gelaufen, ganz blaß im Geſichte ... Na, laſſen 
wir ihn in Gottes Namen beiſeite; wozu ſollen wir ihn hier 
hereinziehen! Aber was Nikolai betrifft, moͤchten Sie da nicht 
hoͤren, was das fuͤr eine Art von Menſch iſt, das heißt, wie ich 
ihn beurteile? Vor allen Dingen iſt er noch ein unmuͤndiges 
Kind, aber ohne dabei feige zu ſein; und dann hat er, ich moͤchte 
ſagen, etwas von einem Kuͤnſtler an ſich. Wirklich, lachen Sie 
nicht daruͤber, daß ich ihn ſo ſchildere. Er iſt ein unſchuldiger, fuͤr 
fremde Einwirkungen ſehr empfaͤnglicher Menſch. Er hat ein 
gutes Herz und iſt ein Phantaſt. Er kann auch ſingen und tanzen 
und verſteht, wie ich hoͤre, ſo gut Maͤrchen zu erzaͤhlen, daß die 


Sechſter Teil 697 


Leute aus der ganzen Umgegend zuſammenkommen, um ihm 
zuzuhoͤren. Er geht auch in die Fortbildungsſchule; über den 
geringſten Witz kann er ſich halb krank lachen; er betrinkt ſich 
ſinnlos, nicht etwa aus Liederlichkeit, ſondern nur ſo gelegent— 
lich, wenn ihn einer traktiert, alles noch ſo ganz kindlich. Er hat 
damals geſtohlen; aber er iſt ſich deſſen ſelbſt nicht bewußt; denn 
‚wenn ich es von der Erde aufgehoben habe,“ ſagt er,, wie ſoll 
ich es denn dann geſtohlen haben?“ Wiſſen Sie auch wohl, daß 
er Sektierer iſt? Von ſeinen Verwandten haben ſich manche den 
Bjegunuͤ angeſchloſſen, und er ſelbſt hat noch vor kurzem ganze 
zwei Jahre lang auf dem Lande bei einem ihrer Alteſten religioͤſe 
Unterweiſung erhalten. Das alles habe ich von Nikolai und 
ſeinen Landsleuten aus Saraiſk erfahren. Ja, noch mehr! Er 
wollte in die Einoͤde wandern und dort als Eremit leben! Er 
wußte ſich in Froͤmmigkeit gar nicht genug zu tun, betete die 
Nächte hindurch und las in den alten ‚echten‘ Büchern fo lange, 
bis ſein Verſtand darunter litt. Petersburg hat auf ihn einen 
gewaltigen Eindruck gemacht, namentlich das weibliche Ge— 
ſchlecht, na, und auch der Schnaps. Er iſt eben ſehr leicht zu be— 
einfluſſen, und ſo vergaß er denn den Alteſten und alles. Ich 
habe in Erfahrung gebracht, daß ihn hier ein Kuͤnſtler lieb— 
gewonnen hat und ihn manchmal beſuchte; aber da iſt nun dieſe 
Geſchichte paſſiert. Na, er bekam es mit der Angſt, lief davon, 
wollte ſich aufhaͤngen! Wie ſoll man gegen die Vorſtellung an— 
kaͤmpfen, die ſich das Volk nun einmal von unſerem Gerichts— 
weſen gebildet hat! Mancher bekommt fchon einen furchtbaren 
Schreck, wenn er hört: ‚Du kommſt vor Gericht.“ Wer iſt daran 
ſchuld? Wir wollen mal ſehen, ob die bevorſtehende Reform des 
Gerichtsweſens darin Wandel fchaffen wird. Gott gebe es! Na 
alſo, im Gefaͤngnis erinnerte er ſich jetzt offenbar wieder an den 
ehrwuͤrdigen Alteſten; auch die Bibel kam wieder zum Vor— 


nee №. 


698 Schuld und Sühne 


ſchein. Wiſſen Sie Be Rodion Romanowitſch, was bei man⸗ 
chen von dieſen Leuten ‚leiden‘ bedeutet? Das bedeutet nicht, 
daß man für einen Mitmenſchen leiden muß, ſondern ſchlechthin, b 
daß man leiden muß, daß man das Leid auf ſich nehmen muß, 
und ganz beſonders ein Leid, das einem von der Obrigkeit zu— 
gefuͤgt wird. Ich habe ſo etwas in meiner Amtszeit ſelbſt mit— 
erlebt: da ſaß ein ganz beſcheidener, demuͤtiger Arreſtant ein 
ganzes Jahr im Gefaͤngnis; nachts, wenn er auf dem Ofen lag, 
las er immer in der Bibel; davon wurde er ganz verdreht, der— 
geſtalt, daß er ganz aus heiler Haut einen Ziegelſtein ergriff und 
damit nach dem Gefaͤngnisdirektor warf, ohne daß der ihm auch 
nur das geringſte haͤtte zuleide getan gehabt. Ja, und wie warf 
er: abſichtlich ein paar Fuß weit vorbei, um ihm keinen Schaden 
zu tun! Na, jeder weiß ja, was einem Arreſtanten widerfaͤhrt, 
der einen Gefaͤngnisbeamten mit einem gefaͤhrlichen Werkzeug 
angreift; jener Menſch ‚nahm eben das Leid auf ſich“. So ver: 
mute ich nun jetzt, daß auch Nikolai ‚das Leid auf ſich nehmen“ 
will, oder ſo etwas Ahnliches. Das glaube ich mit Beſtimmtheit 
und ſtuͤtze mich dabei ſogar auf Tatſachen. Aber er ſelbſt weiß 
nicht, daß ich es weiß. Oder halten Sie es etwa fuͤr unmoͤglich, 
daß aus der unteren Volksſchicht ſolche phantaſtiſchen Menſchen 
hervorgehen? Aber maſſenhaft, ſage ich Ihnen! Jetzt wirkt nun 
bei Nikolai wieder die fruͤhere Unterweiſung durch den Alteſten; 
namentlich nach dem Verſuch, ſich aufzuhaͤngen, iſt der ihm 
wieder ins Gedaͤchtnis gekommen. Übrigens wird er mir ſchon 
noch alles ſelbſt erzaͤhlen; er wird ſchon noch zu mir kommen. 
Meinen Sie, er wird dieſe Selbſtbeſchuldigung auf die Dauer 
aushalten? Warten Sie nur ab, er wird es ſchon noch wider— 
rufen! Ich erwarte ſtuͤndlich, daß er zu mir kommt und ſeine 
Ausſage zuruͤcknimmt. Ich habe dieſen Nikolai liebgewonnen 
und erforſche ihn bis auf den Grund ſeiner Seele. Und denken 


Sechſter Teil 699 


Sie nur, he⸗he⸗he, über manche Punkte hat er mir meine Fragen 
in ganz paſſender Weiſe beantwortet; da hat er ſich offenbar die 
erforderliche Kenntnis verſchafft und ſich geſchickt vorbereitet; 
na, aber dann wieder bei andern Punkten hatte er keinen Schim— 
mer; er weiß daruͤber nicht das geringſte und hat ſelbſt keine 
Ahnung davon, daß er nichts weiß! Nein, Vaͤterchen Rodion 
Romanowitſch, Nikolai iſt bei dieſer Sache unbeteiligt. Was hier 
vorliegt, iſt eine phantaſtiſche, finſtere Tat, eine moderne Tat, 
ein Fall ſo recht im Charakter unſerer Zeit, wo die Gefuͤhle des 
Herzens eine Truͤbung erfahren haben, wo man die Phraſe 
zitiert, daß Blut eine erfriſchende Wirkung ausuͤbe, wo ein 
ganzes Leben voll Komfort als das hoͤchſte Gluͤck verkuͤndet wird. 
Was hier vorliegt, das ſind Zukunftstraͤumereien, die aus Buͤchern 
herſtammen, ein durch theoretiſche Studien aufgereiztes Herz; 
hier ſieht man, wie jemand feſt entſchloſſen iſt, den erſten Schritt 
auf dieſer Bahn zu tun; aber dieſe Entſchloſſenheit iſt von einer 
beſonderen Art, — er hat ſich entſchloſſen etwa ſo, wie man ſich 
von einem Felſen oder einem Turme herabſtuͤrzt, und iſt zu dem 
Verbrechen gegangen wie von einer fremden Macht getrieben. 
Er hat vergeſſen, die Tuͤr hinter ſich zuzuſchließen, und hat ge— 
mordet, zwei Menſchen gemordet, auf Grund ſeiner Theorie. Er 
hat gemordet, hat aber nicht verſtanden, das Geld zu nehmen; 
ſondern was er in der Eile ergriffen hat, das hat er unter einen 
Stein gelegt. Er hatte noch nicht genug an der Qual, die er aus— 
geſtanden hatte, als er hinter der Tuͤr verſteckt ſtand und an der 
Tuͤr geruͤttelt und an der Klingel geriſſen wurde, — nein, er 
geht nachher im halben Fieberwahn in die nun leere Wohnung, 
um ſich dieſes Laͤuten der Klingel wieder ins Gedaͤchtnis zuruͤck— 
zurufen; er hat ein Verlangen danach, das Kaͤltegefuͤhl im Ruͤcken 
noch einmal zu verſpuͤren . . . Nun ja, er hat das allerdings in 
einem krankhaften Zuſtande getan; aber noch eines iſt beſonders 


S 
1 в * 4 


700 Schuld und Sühne 


merkwürdig: er hat einen Mord begangen, hält ſich aber trotz— 
dem fuͤr einen ehrenhaften Menſchen, verachtet andre Leute, 
wandelt wie ein Engel der Unſchuld einher, — nein, Nikolai kann 
als Taͤter gar nicht in Betracht kommen, liebſter Rodion Roma— 
nowitſch, Nikolai unter keinen Umſtaͤnden!“ 

Nach allem, was Porfiri im erſten Teile des Geſpraͤchs geſagt 
hatte und was wie eine Abbitte des Verdachtes geklungen hatte, 
kamen dieſe letzten Worte Raſkolnikow gar zu uͤberraſchend. Er 
zitterte am ganzen Koͤrper, als ob er einen Dolchſtich erhalten 
hätte. 

„Wer ... hat denn alſo ... den Mord begangen?“ fragte er 
mit faſt verſagender Stimme. Aber es war ihm unmoͤglich, die 
Frage zuruͤckzuhalten. 

Porfiri Petrowitſch warf ſich gegen die Stuhllehne zuruͤck, als 
ob dieſe Frage ihm ganz unerwartet gekommen waͤre und ihn 
in das aͤußerſte Erſtaunen verſetzt haͤtte. 

„Und Sie fragen noch, wer den Mord begangen hat?“ er— 
widerte er, als traue er ſeinen Ohren nicht. „Sie ſelbſt haben 
den Mord begangen, Rodion Romanowitſch!“ fuͤgte er faſt 
fluͤſternd, aber im Tone feſteſter Überzeugung hinzu. 

Raſkolnikow ſprang vom Sofa auf, blieb einige Sekunden 
ſtehen und ſetzte ſich, ohne ein Wort zu ſagen, wieder hin. Leiſe 
krampfhafte Zuckungen liefen uͤber ſein ganzes Geſicht hin. 

„Die Lippe bebt Ihnen wieder wie damals,“ murmelte Por: 
firi Petrowitſch, und ſein Ton klang ordentlich teilnahmvoll. „Sie 
haben mich wohl nicht richtig verſtanden, Rodion Romanowitſch,“ 
fuͤgte er nach einer kleinen Pauſe hinzu, „daher ſind Sie auch 
ſo betroffen. Ich bin ja gerade in der Abſicht hergekommen, alles 
frei heraus zu ſagen und das Spiel mit aufgedeckten Karten 
fortzuſetzen.“ 

„Ich habe den Mord nicht begangen,“ fluͤſterte Raſkolnikow, 


Sechſter Teil 701 


ganz wie es erſchrockene kleine Kinder zu machen pflegen, wenn 
ſie auf friſcher Tat ertappt werden. 

„Doch, doch, Sie ſind es geweſen, Rodion Romanowitſch, Sie 
und kein andrer,“ fluͤſterte Porfiri in ſtrengem, feſtem Tone. 

Dann ſchwiegen beide, und dieſes Schweigen dauerte ſonder— 
bar lange, wohl zehn Minuten. Raſkolnikow hatte ſich mit den 
Ellbogen auf den Tiſch geſtuͤtzt und wuͤhlte ſchweigend mit den 
Fingern in ſeinen Haaren. Porfiri Petrowitſch ſaß ſtill da und 
wartete. Ploͤtzlich blickte Raſkolnikow ihn veraͤchtlich an. 

„Sie verfahren wieder nach Ihrer alten Methode, Porfiri 
Petrowitſch! Immer dieſelben Kniffe! Wunderlich, daß Sie 
deſſen nicht ſelbſt uͤberdruͤſſig werden!“ 

„Ach, reden Sie doch nicht! Was koͤnnten mir denn jetzt meine 
Kniffe helfen? Ein ander Ding waͤre es, wenn Zeugen bei 
unſerem Geſpraͤche zugegen waͤren; aber wir reden ja doch unter 
vier Augen. Sie ſehen ſelbſt: ich bin nicht in der Abſicht zu 
Ihnen hergekommen, Sie zu hetzen und zu fangen wie einen 
Haſen. Ob Sie bekennen oder nicht, iſt mir in dieſem Augen— 
blicke ganz gleich. Ich fuͤr meine Perſon bin auch ohne Ihr Ge— 
ſtaͤndnis uͤberzeugt.“ 

„Wenn dem ſo iſt, warum ſind Sie denn dann hergekommen?“ 
fragte Raſkolnikow gereizt. „Ich richte an Sie dieſelbe Frage 
wie ſchon fruͤher: wenn Sie mich fuͤr ſchuldig halten, warum 
ſetzen Sie mich nicht ins Gefaͤngnis?“ 

„Na, das iſt eine Frage, die ſich hoͤren laͤßt! Und ſo will ich 
ſie Ihnen beantworten, indem ich Punkt fuͤr Punkt meine 
Gruͤnde angebe: erſtens, Sie ſo geradezu ins Gefaͤngnis zu ſetzen, 
iſt fuͤr mich nicht vorteilhaft.“ 

„Was meinen Sie damit: nicht vorteilhaft? Wenn Sie von 
meiner Schuld überzeugt find, dann find Sie doch verpflichtet ...“ 

„Ach, was hat denn meine Überzeugung zu beſagen? Das ſind 


702 Schuld und Suͤhne 


ja doch vorlaͤufig alles nur ſo Phantaſien von mir. Ja, und 
warum ſoll ich Sie denn an einen Ort bringen, wo Sie Ruhe 
haben wuͤrden? Wie vorteilhaft das fuͤr Sie waͤre, wiſſen Sie 
offenbar ſelbſt, da Sie ja ſelbſt darum erſuchen. Ich bringe zum 
Beiſpiel, um Sie zu uͤberfuͤhren, den Kleinbuͤrger hin; aber Sie 
werden zu ihm ſagen: Biſt du ein Trinker oder nicht? Wer hat 
mich mit dir zuſammen geſehen? Ich hielt dich einfach fuͤr be— 
trunken, und du warſt auch wirklich betrunken,, — nun, was 
koͤnnte ich daraufhin zu Ihnen ſagen, namentlich auch, da Ihre 
Behauptung wahrſcheinlicher klingt als die ſeinige; denn die 
ſeinige beruht nur auf einer pſychologiſchen Kombination (und 
wie paßt fo etwas zu feiner dummen Viſage), Sie aber treffen 
ins Schwarze, da der Halunke notoriſch ein wuͤſter Saͤufer iſt. 
Und ich ſelbſt habe Ihnen ſchon mehrmals offenherzig geſtanden, 
daß dieſe pſychologiſchen Erwaͤgungen ihre zwei Seiten haben, 
und daß die zweite Seite praͤvaliert und weit glaublicher er— 
ſcheint, und daß ich im uͤbrigen gegen Sie vorlaͤufig noch gar 
keine Beweiſe vorbringen kann. Ich werde Sie nun zwar trotz— 
dem ins Gefaͤngnis ſetzen, und ich bin (was allerdings ein un— 
gewoͤhnliches Verfahren iſt) ſogar ſelbſt zu dem Zwecke her— 
gekommen, Ihnen das alles im voraus anzukuͤndigen; aber ich 
ſage Ihnen geradezu (was wiederum ungewoͤhnlich iſt), daß das 
fuͤr mich nicht vorteilhaft ſein wird. Nun weiter, zweitens bin 
ich zu Ihnen gekommen, weil . ..“ 

„Nun alſo, zweitens?“ Raſkolnikow atmete noch immer nur 
muͤhſam und keuchend. 

„Weil, wie ich Ihnen ſchon vorhin erklaͤrte, ich mich fuͤr ver— 
pflichtet halte, mich Ihnen gegenuͤber offen auszuſprechen. Ich 
moͤchte nicht, daß Sie mich fuͤr einen Unmenſchen halten, und 
ich möchte das um fo weniger, da ich Ihnen aufrichtig zugetan 
bin, moͤgen Sie es mir nun glauben oder nicht. Infolgedeſſen 


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Sechſter Teil 703 


bin ich drittens zu Ihnen gekommen mit einem offenen, ehrlichen 
Vorſchlage: ſich ſelbſt zu denunzieren. Das wird fuͤr Sie bei 
weitem das Vorteilhafteſte ſein, und es iſt auch zugleich das 
Vorteilhafteſte fuͤr mich; denn dann bin ich dieſe Geſchichte los. 
Nun, was meinen Sie, iſt das von mir nicht offenherzig?“ 

Raſkolnikow überlegte eine kurze Weile. 

„Hoͤren Sie, Porfiri Petrowitſch, Sie ſagten doch ſelbſt, es ſei 
alles nur Pſychologie, und nun tun Sie, als wuͤßten Sie alles 
mit mathematiſcher Sicherheit. Wie aber, wenn Sie ſich jetzt 
doch irren?“ 

„Nein, Rodion Romanomitfch, ich irre mich nicht. Ich habe fo 
eine kleine Handhabe. Dieſe kleine Handhabe habe ich damals 
gefunden; die hat mir Gott geſandt!“ 

„Was fuͤr eine Handhabe?“ 

„Das ſage ich nicht, Rodion Romanowitſch. Aber jedenfalls 
bin ich jetzt nicht mehr berechtigt, Ihre Verhaftung laͤnger hinaus— 
zuſchieben; ich werde Sie ins Gefaͤngnis ſetzen. Alſo uͤberlegen 
Sie ſich das, ob Sie ein Geſtaͤndnis ablegen wollen. Mir iſt es 
jetzt, für den Augenblick, ganz gleich; Sie ſehen ſomit, daß ich 
es einzig und allein um Ihretwillen wuͤnſche. Weiß Gott, es iſt 
das Beſte, Rodion Romanowitſch!“ 

Raſkolnikow laͤchelte hoͤhniſch. 

„Ihre Zumutung iſt nicht nur laͤcherlich, ſondern geradezu un— 
verſchaͤmt. Nun, geſetzt, ich wäre ſchuldig (was ich in keiner Weiſe 
zugebe), was haͤtte ich denn dann fuͤr Veranlaſſung, mit einem 
Geſtaͤndniſſe zu Ihnen zu kommen, da Sie doch ſelbſt erklaͤren, 
Sie wuͤrden mich ohnehin bald an einen Ort bringen, wo ich 
Ruhe haben wuͤrde?“ 

„Ach, Rodion Romanowitſch, verlaſſen Sie ſich auf das, was 
ich darüber geſagt habe, nicht allzuſehr; einer vollftändigen Ruhe 
werden Sie ſich da wohl nicht erfreuen! Das iſt ja alles nur 


704 


für einen Mann wie Sie keine Autorität fein! Vielleicht ver— 
heimliche ich Ihnen auch ſelbſt jetzt noch dies und das. Ich kann 
Ihnen doch auch nicht gleich alles ſo ohne weiteres aufzeigen, 
he⸗he! Und zweitens: wie koͤnnen Sie erſt noch fragen, was 
Sie von einem Geſtaͤndnis fuͤr Vorteil haben wuͤrden? Aber 
Sie wiſſen doch, welche Strafermaͤßigung Ihnen dafuͤr zuteil 
werden wird? Denn wann, zu was fuͤr einem Zeitpunkte treten 
Sie mit der Selbſtanzeige hervor? Überlegen Sie ſich das nur! 
In einem Augenblicke, wo bereits ein anderer das Verbrechen 
auf ſich genommen und die ganze Sache heillos verwirrt hat. 
Und ich werde (das ſchwoͤre ich Ihnen!) es vor Gericht ſo dar— 
ſtellen und einrichten, daß Ihr Geſtaͤndnis als ein vollſtaͤndig 
unerwartetes, freiwilliges erſcheint. Alles, was ich an pſycho— 
logiſchen Erwaͤgungen vorgebracht habe, ſoll ſo gut wie ungeſagt 
ſein; allen aus ſolchem Grunde gegen Sie geaͤußerten Verdacht 
annulliere ich, fo daß ſich Ihr Verbrechen als eine Art Geiſtes— 
verwirrung darſtellen wird; denn, die Wahrheit zu ſagen, eine 
Geiſtesverwirrung iſt es auch wirklich geweſen. Ich bin ein Ehren— 
mann, Rodion Romanomitfch, und halte, was ich verſpreche.“ 

Raſkolnikow ſchwieg truͤbe und ließ den Kopf ſinken; lange 
uͤberlegte er, und endlich laͤchelte er wieder; aber es war jetzt 
ein fanftes, trauriges Lächeln. я 

„Ach was, es liegt mir nichts daran!“ Гаде er, als hätte er 
Porfiri gegenuͤber auf alle Verſtellung verzichtet. „Es iſt nicht 
der Mühe wert; es liegt mir gar nichts an Ihrer Strafermaͤßi— 
gung!“ 

„Na ja, das wars ja gerade, was ich fuͤrchtete!“ rief Porfiri 
erregt; der Ausruf entſchluͤpfte ihm, wie es ſchien, ganz ип: 
willkuͤrlich. „Gerade das habe ich gefürchtet, daß Ihnen an 
unſerer Strafermaͤßigung nichts liegen wuͤrde.“ 


Sechſter Teil 705 


Raſkolnikow ſah ihn mit traurigem, fragendem Blicke an. 

„Ei, ei, mißachten Sie das Leben nicht!“ fuhr Porfiri fort. 
„Sie haben noch ein gutes Stuͤck davon vor ſich. Wie koͤnnen Sie 
nur ſagen, daß Ihnen an einer Strafermaͤßigung nichts liege! 
Sie ſind ein ungeduldiger Menſch!“ 

„Was kann mir die Zukunft noch bringen?“ 

„Ein gut Stuͤck Leben! Sie ſind doch kein Prophet; was wiſſen 
Sie denn von der Zukunft? Suchet, ſo werdet ihr finden! Viel— 
leicht hat Gott gerade an dieſer Stelle Ihres Lebensweges auf 
Sie gewartet. Und Sie wuͤrden doch auch die Feſſeln nicht 
lebenslaͤnglich tragen ...“ 

„Ach fo, wegen der Strafermaͤßigung .. .“ warf Raſkolnikow 
lachend dazwiſchen. 

„Fuͤrchten Sie ſich etwa vor der Schande in den Augen der 
buͤrgerlichen Geſellſchaft? Kann leicht ſein, daß Sie ſich davor 
fuͤrchten, ohne es eigentlich ſelbſt zu wiſſen, — denn Sie ſind 
eben noch jung! Aber dennoch ſollte ein Mann wie Sie ſich nicht 
davor fürchten und ſich einer Selbſtanzeige nicht ſchaͤmen.“ 

„Ekelhaft!“ fluͤſterte Raſkolnikow veraͤchtlich und widerwillig, 
als moͤchte er am liebſten das Geſpraͤch abbrechen. 

Er ſtand wieder auf, als wollte er fortgehen, ſetzte ſich aber in 
ſichtlicher Verzweiflung wieder hin. 

„Das iſt es eben, ‚efelhaft‘! Sie haben allen Glauben und 
alles Zutrauen verloren und meinen wohl gar, daß ich Ihnen 
in plumper Weiſe ſchmeichle. Aber wie lange haben Sie denn 
ſchon gelebt, und wieviel verſtehen Sie vom Leben? Da haben 
Sie ſich nun eine Theorie erſonnen und ſchaͤmen ſich jetzt, daß 
die Sache ſchief gegangen iſt und ganz und gar keinen originellen, 
großartigen Ausgang gehabt hat! Der Ausgang war vielmehr 
ein recht gemeiner, das iſt wahr; aber Sie ſind trotzdem nicht 
ein Schurke, an dem man verzweifeln muͤßte! Durchaus nicht! 
XIX. ss. 


706 Schuld und Suͤhne 


Wenigſtens haben Sie zu Ihrem Selbſtbetruge nicht lange Zeit 
gebraucht, ſondern ſind ſchnell bis zum Außerſten gegangen. Wo— 
für ich Sie halte? Ich halte Sie für einen von jenen Menſchen, 
die, ſelbſt wenn man ihnen die Eingeweide aus dem Leibe reißt, 
ruhig daſtehen und laͤchelnd ihre Peiniger anblicken, — wenn ſie 
nur ſo Gott finden. Nun, finden Sie Gott, und Sie werden 
leben. Sie haben zunaͤchſt ſchon lange eine Luftveraͤnderung 
nötig. Seien Sie verſichert, auch das Leid iſt ein gut Ding. 
Leiden Sie! Nikolai hat vielleicht ganz recht, daß er nach dem 
Leide trachtet. Ich weiß, daß es nicht jedermanns Sache iſt, das 
zu glauben; aber laſſen Sie ſich nicht auf verſchmitzte philo— 
ſophiſche Gruͤbeleien ein; uͤberlaſſen Sie ſich einfach ohne viel 
Kopfzerbrechen dem Leben; ſeien Sie ohne Sorge: das Leben 
wird Sie ſchon ans Ufer tragen und wieder auf die Beine ſtellen. 
An was fuͤr ein Ufer? Das kann ich nicht wiſſen. Ich bin nur 
der feſten Überzeugung, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich 
weiß, daß Sie meine Worte jetzt als eine auswendig gelernte 
Predigt auffaſſen; aber vielleicht werden Sie ſich meiner Worte 
in ſpaͤterer Zeit erinnern, und ſie werden Ihnen noch einmal von 
Nutzen ſein; eben darum ſpreche ich zu Ihnen. Es iſt nur gut, 
daß Sie bloß ein armſeliges altes Weib ermordet haben. Haͤtten 
Sie ſich eine andere Theorie ausgedacht, ſo haͤtten Sie am Ende 
gar eine unendlich viel greulichere Tat begangen! Dafuͤr muͤſſen 
Sie vielleicht Gott noch dankbar ſein; Sie koͤnnen es ja nicht 
wiſſen: vielleicht ſpart Sie Gott noch zu einem guten Zwecke 
auf. Beweiſen Sie eine hohe Geſinnung; bekaͤmpfen Sie alle 
Furcht. Sind Sie bange vor der Größe der Ihnen bevorſtehen— 
den Strafe? Nein, dieſer Bangigkeit muß man ſich ſchaͤmen. Da 
Sie einmal einen ſolchen Schritt getan haben, ſo nehmen Sie 
nun auch Ihre Kraft zuſammen! Darin beſteht die Gerechtig— 
keit. Erfuͤllen Sie, was die Gerechtigkeit verlangt! Ich weiß, 


4 
: 


Sechſter Teil 707 


daß Sie mir das jetzt nicht glauben; aber das Leben wird Sie 
noch wieder ans Ufer tragen. Und Sie ſelbſt werden ſich ſpaͤter 
wieder des Lebens freuen. Sie haben jetzt nur Luft noͤtig, Luft, 
Luft!“ 

Raſkolnikow ſchrak ordentlich zuſammen. 

„Ja, wer ſind Sie denn eigentlich?“ rief er. „Sind Sie denn 
etwa ein Prophet, daß Sie mir von der Hoͤhe Ihrer majeſtaͤtiſchen 
Ruhe herab ſolche weiſen Prophezeiungen erteilen?“ 

„Wer ich bin? Ich bin ein Menſch, der bereits uͤber ſeinen 
Hoͤhepunkt hinaus iſt, weiter nichts. Ein Menſch, der vielleicht 
Gefuͤhl und Mitgefuͤhl beſitzt, der vielleicht auch dies und das 
weiß, bei dem aber von einer weiteren Entwicklung nicht mehr 
die Rede ſein kann. Aber mit Ihnen iſt das etwas ganz anderes; 
Ihnen hat Gott noch die Möglichkeit eines erſprießlichen Lebens 
vorbehalten (freilich, wer weiß, vielleicht vergeht auch Ihr Leben 
wie ein bloßer Rauch, von dem nichts übrigbleibt). Nun, was 
iſt denn dabei, daß Sie in die andre Menſchenklaſſe uͤbergehen? 
Sie werden ſich doch nicht um den Komfort graͤmen, Sie mit 
Ihrem Herzen! Was iſt denn dabei, daß Sie vielleicht lange 
Zeit niemand hier ſehen wird? Nicht um die Zeit handelt es 
ſich, ſondern um Sie ſelbſt. Werden Sie eine Sonne, und alle 
werden Sie ſehen. Eine Sonne muß ſich vor allen Dingen als 
Sonne erweiſen, muß leuchten und waͤrmen. Warum laͤcheln 
Sie wieder? Weil ich ſo poetiſch werde, ſo in Schillers Art? 
Und ich moͤchte darauf wetten, Sie glauben, daß ich mich jetzt 
bei Ihnen einzuſchmeicheln verſuche! Na, vielleicht verſuche ich 
das wirklich, he-he-he! Ich habe nichts dagegen, wenn Sie 
meinen Worten nicht glauben, Rodion Romanowitſch; glauben 
Sie mir meinetwegen uͤberhaupt niemals voͤllig; ich habe nun 
ſchon einmal ſo eine verdaͤchtige Art zu reden an mir, das gebe 
ich zu. Nur eines moͤchte ich noch hinzufuͤgen: inwieweit ich 


708 Schuld und Suͤhne 


ein gemeiner oder ein ehrenhafter Menſch bin, das werden Sie 
ja wohl ſelbſt beurteilen koͤnnen.“ 

„Wann beabfichtigen Sie, mich feſtnehmen zu laſſen?“ 

„Na, ſo ein anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch 
ſpazieren gehen laſſen. Überlegen Sie ſich die Sache, mein 
Beſter, und wenden Sie ſich im Gebete an Gott. Es iſt wirklich 
vorteilhafter, weiß Gott, wirklich vorteilhafter.“ 

„Aber wenn ich nun davonlaufe?“ fragte Raſkolnikow mit 
einem eigentuͤmlichen Laͤcheln. 

„Nein, Sie laufen nicht davon. Ein Mann aus dem niederen 
Volke laͤuft davon, ein moderner Sektierer laͤuft davon, uͤber— 
haupt Leute, welche fremde Gedanken nachbeten und lebens— 
laͤnglich glauben, was ihnen einmal vorgeſprochen iſt. Sie aber 
glauben ja nicht mehr an Ihre Theorie; warum ſollten Sie alſo 
davonlaufen? Und was haͤtten Sie denn auch von dem Daſein 
als Fluͤchtling? Das Daſein eines Fluͤchtlings iſt haͤßlich und 
muͤhevoll; Sie aber brauchen vor allen Dingen wirkliches Leben 
und eine feſt beſtimmte Stellung und eine geeignete Luft; na, 
und was wuͤrden Sie denn als Fluͤchtling fuͤr eine Luft atmen! 
Wenn Sie davonlaufen, ſo werden Sie von ſelbſt wieder zuruͤck— 
kommen. Sie koͤnnen uns nicht entbehren, Sie brauchen uns 
notwendig. Aber wenn ich Sie hinter Schloß und Riegel ſetze, 
— na, dann werden Sie einen Monat oder, ſagen wir, auch zwei 
Monate, drei Monate ſitzen, und dann auf einmal (denken Sie 
an mein Wort!) werden Sie ganz von ſelbſt zu mir kommen; 
vielleicht wird der Entſchluß dazu ſogar Ihnen ſelbſt uͤberraſchend 
ſein. Noch eine Stunde vorher werden Sie es ſelbſt nicht wiſſen, 
daß Sie zu mir gehen und ein Geſtaͤndnis ablegen werden. Ich 
bin ſogar uͤberzeugt, daß Sie ſchließlich ſelbſt wuͤnſchen werden, 
‚das Leid auf ſich zu nehmen“. Jetzt glauben Sie meinen Worten | 
nicht; aber Sie werden ſchon ſelbſt zu dieſer Anſicht gelangen. 


— 


83 N 


Sechſter Teil 709 


— ( v— 


Denn das Leid, Rodion Romanowitſch, iſt etwas Großes und 
Heiliges. Stoßen Sie ſich nicht daran, daß ich ſo korpulent ge— 
worden bin; das hat damit nichts zu tun; darum kann ich doch 
damit Beſcheid wiſſen. Lachen Sie nicht daruͤber: im Leide liegt 
ein erhabenes Lebensprinzip. Nikolai hat ganz recht. Nein, Sie 
werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitſch.“ 

Raſkolnikow ftand von feinem Platze auf und griff nach feiner 
Muͤtze. Porfiri Petrowitſch erhob ſich gleichfalls. 

„Sie wollen einen Spaziergang machen? Es wird ein ſchoͤner 
Abend werden, wenn nur nicht ein Gewitter kommt. Übrigens 
waͤre das ſogar ganz gut; die Luft wuͤrde dann friſcher werden.“ 

Er nahm gleichfalls ſeine Muͤtze. 

„Bitte, bilden Sie ſich nur ja nicht ein, Porfiri Petrowitſch,“ 
ſagte Raſkolnikow finſter in beſtimmtem, feſtem Tone, „daß ich 
Ihnen jetzt ein Geſtaͤndnis abgelegt haͤtte. Sie ſind ein merk— 
wuͤrdiger Menſch, und ich habe Ihnen nur aus Neugier zu— 
gehört. Geſtanden habe ich Ihnen aber nichts ... Wollen Sie 
das nicht vergeſſen.“ 

„Schoͤn, ſchoͤn, weiß ſchon, ich werde es nicht vergeſſen, — 
aber Sie zittern ja ſo! Seien Sie unbeſorgt, mein Beſter; alles 
ganz nach Ihrem Wunſche! Machen Sie einen kleinen Spazier— 
gang; allzuviel werden Sie ja nicht mehr gehen koͤnnen. Fuͤr 
alle Faͤlle habe ich an Sie noch eine kleine Bitte,“ fuͤgte er leiſer 
hinzu. „Die Sache iſt ein bißchen peinlich, aber von großer 
Wichtigkeit: wenn Sie, das heißt, ich ſage das nur fuͤr alle Faͤlle 
(ich glaube uͤbrigens nicht, daß der betreffende Fall eintreten 
wird, und halte Sie deſſen ſchlechterdings nicht fuͤr faͤhig), wenn 
Sie moͤglicherweiſe ... na, alſo für alle Fälle geſagt ... wenn 
Sie im Laufe dieſer vierzig, fuͤnfzig Stunden Luſt bekommen 
ſollten, dieſe Angelegenheit in einer anderen Weiſe zum Ab— 
ſchluß zu bringen, fo in einer mehr phantaſtiſchen Art, . .. will 


710 Schuld und Suͤhne 


— — — — — 


ſagen, Hand an ſich ſelbſt zu legen (es iſt ja eine abgeſchmackte 
Annahme; aber, bitte, nehmen Sie es mir nicht uͤbel), — dann 
hinterlaſſen Sie doch, bitte, eine kurze, aber klare Notiz. Ganz 
einfach, zwei Zeilen, bloß zwei kurze Zeilen, und erwaͤhnen Sie 
darin doch auch den Stein; das wird ſich recht anſtaͤndig aus— 
nehmen. Nun, alſo auf Wiederſehen, . .. ich wuͤnſche Ihnen 
gute Gedanken und heilſame Entſchluͤſſe!“ 

Porfiri ging in eigentuͤmlich gebuͤckter Haltung hinaus, wobei 
er es vermied, Raſkolnikow noch einmal anzublicken. Raſkol— 
nikow trat ans Fenſter und wartete in nervoͤſer Ungeduld ſo 
lange, bis ſeiner Berechnung nach jener auf die Straße gelangt 
und eine Strecke weit fortgegangen ſein konnte. Hierauf ging 
auch er ſchnell aus dem Zimmer. 


III 


Er eilte zu Swidrigailow. Was er eigentlich von dieſem Men: 
ſchen zu erreichen hoffte, wußte er ſelbſt nicht. Aber dieſer 
Menſch beſaß eine verborgene Macht über ihn. Nachdem Raſkol— 
nikow ſich deſſen einmal bewußt geworden war, beunruhigte er 
ſich fortwaͤhrend; uͤberdies war auch gerade jetzt die richtige Zeit 
dafuͤr gekommen. 

Unterwegs quaͤlte er ſich beſonders mit der Frage ab: war 
Swidrigailow bei Porfiri geweſen? f 

Soweit er daruͤber urteilen konnte (und er haͤtte darauf 
ſchwoͤren mögen), — nein; er war nicht da geweſen! Er über: 
dachte die Sache immer wieder, ließ den ganzen Beſuch Por— 
firis noch einmal in der Erinnerung an ſich voruͤberziehen, hielt 
alles zuſammen: nein, er war nicht da geweſen, er war beſtimmt 
nicht da geweſen! 

Aber wenn er noch nicht da geweſen war: würde er zu Por— 
firi hingehen oder nicht? 


Sechſter Teil 711 


Vorlaͤufig neigte Raſkolnikow zu der Anſicht, daß jener nicht 
hingehen werde. Warum? Daruͤber konnte er ſich ſelbſt nicht 
klar werden; aber wenn er es auch gekonnt haͤtte, ſo wuͤrde er ſich 
jetzt daruͤber nicht beſonders den Kopf zerbrochen haben. Dies 
alles quaͤlte ihn; aber gleichzeitig war er nicht dazu aufgelegt, 
ſich damit zu befchäftigen. Es war merkwuͤrdig, und niemand 
wuͤrde es vielleicht geglaubt haben: aber bei dem Schickſal, das 
ihm nun in kurzem bevorftand, verweilten feine Gedanken nur 
fluͤchtig und obenhin. Ihn quaͤlte etwas anderes, weit Wich— 
tigeres, Außerordentliches, was ihn ſelbſt und ſonſt noch jemand 
betraf. Zudem fuͤhlte er eine grenzenloſe ſeeliſche Muͤdigkeit, 
obgleich ſein Verſtand an dieſem Morgen beſſer arbeitete als an 
all den Tagen vorher. 

War es jetzt, nach allem, was geſchehen war, noch der Muͤhe 
wert, ſich mit der Überwindung all dieſer neuen widerwaͤrtigen 
Schwierigkeiten abzuquaͤlen? War es zum Beiſpiel der Muͤhe 
wert, zu intrigieren, damit Swidrigailow nicht zu Porfiri ginge? 
Darum einen Menſchen wie dieſen Swidrigailow zu ſtudieren, 
zu ergruͤnden und mit ihm Zeit zu verlieren? 

O, wie ihn dies alles anekelte! 

Indeſſen eilte er trotzdem zu Swidrigailow; ob er doch noch 
von ihm irgend etwas Neues erwartete, einen Fingerzeig, einen 
Weg zur Rettung? Greift ja der Ertrinkende nach einem Stroh— 
halm! Fuͤhrte ſie vielleicht das Schickſal oder ein gewiſſer In— 
ſtinkt zuſammen? Vielleicht war es bei ihm nur Muͤdigkeit und 
Verzweiflung; vielleicht war der, den er noͤtig hatte, gar nicht 
Swidrigailow, ſondern ſonſt jemand, und Swidrigailow war ihm 
nur ſo zufaͤllig in den Wurf gekommen. Er dachte an Sofja. 
Aber warum ſollte er jetzt zu Sofja gehen? Um wieder Mitleids— 
traͤnen von ihr zu erbetteln? Er fuͤrchtete ſich jetzt geradezu vor 
ihr. Sofja war die Verkoͤrperung eines unerbittlichen Verdikts, 


712 Schuld und Suͤhne 


eines unabaͤnderlichen Entſchluſſes. Hier handelte es ſich darum, 
welcher Weg eingefchlagen werden ſollte, der ihrige oder der 
ſeinige. Gerade in dieſem Augenblicke fuͤhlte er ſich außerſtande, 
ſie zu ſehen. Nein, da war es ſchon beſſer, Swidrigailow aus— 
zuforſchen: was da eigentlich dahinterſteckte. Und er konnte es 
ſich nicht verhehlen, daß dieſer Menſch ihm tatſaͤchlich ſchon laͤngſt 
in gewiſſer Hinſicht unentbehrlich ſei. 

Und doch, was konnten ſie beide miteinander gemein haben? 
Nicht einmal eine Freveltat waͤre bei ihnen von gleichem Charak— 
ter geweſen. Überdies war dieſer Menſch ſehr widerwaͤrtig, 
offenbar ein arger Wuͤſtling, ſicher ein ſchlauer Betruͤger, viel— 
leicht auch ſehr boshaft. Sein Leumund war ein recht uͤbler. 
Allerdings, fuͤr Katerina Iwanownas Kinder hatte er ſich eifrig 
bemuͤht; aber wer konnte wiſſen, welchen Zweck er damit ver— 
folgte und was das bedeutete? Dieſer Menſch hatte ſtets ſo 
ſeine beſonderen Abſichten und Plaͤne. 

All dieſe Tage her war ein beſtimmter Gedanke Raſkolnikow 
beſtaͤndig durch den Kopf gegangen und hatte ihn heftig be— 
unruhigt, obwohl er bemuͤht geweſen war, ihn zu verſcheuchen, 
ſo ſehr fuͤhlte er ſich durch ihn bedruͤckt! Seine Überlegungen 
waren naͤmlich folgende: Swidrigailow habe ſich in dieſer Zeit 
auffaͤllig an ihn herangemacht; Swidrigailow kenne ſein Ge— 
heimnis; Swidrigailow habe ſchon fruͤher ſchlechte Abſichten auf 
Awdotja gehabt. Wenn er ſolche Abſichten nun auch jetzt noch 
habe? Man koͤnne faſt mit Sicherheit ſagen, daß dies der Fall 
ſei. Wie, wenn er nun jetzt, wo er ſein Geheimnis in Erfahrung 
gebracht und auf dieſe Weiſe eine gewiſſe Macht uͤber ihn er— 
langt habe, dieſe Macht als Waffe gegen Awdotja zu benutzen 
beabſichtigte? 

Dieſer Gedanke hatte ihn oftmals, ſogar im Traume, gepeinigt; 
aber noch nie war er ihm mit ſolcher Klarheit zum Bewußtſein 


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Sechſter Teil 713 


gekommen wie jetzt, wo er zu Swidrigailow ging. Und fchon 
dieſer bloße Gedanke verſetzte ihn in eine ingrimmige Wut. Er 
ſagte ſich, dann werde ſich alles aͤndern, auch ſeine eigene Lage; 
er muͤſſe dann ſein Geheimnis ſofort ſeiner Schweſter mitteilen. 
Er muͤſſe ſich vielleicht ſelbſt angeben, um Awdotja vor irgend— 
welchem unbedachten Schritte zu bewahren. Und was habe es 
mit dem Briefe für eine Bewandtnis? Heute früh habe Awdotja 
durch einen Boten einen Brief erhalten! Wer in Petersburg 
koͤnne denn an ſie Briefe ſchreiben? Etwa Luſchin? Freilich halte 
Raſumichin dort Wache; aber Raſumichin wiſſe von nichts. Viel— 
leicht muͤſſe er ſich auch dem entdecken. Mit heftigem Wider— 
willen dachte Raſkolnikow daran, daß dieſe Noͤtigung vielleicht 
eintreten koͤnne. 

Er ſagte ſich, daß er unter allen Umſtaͤnden Swidrigailow ſo 
bald wie moͤglich ſprechen muͤſſe, und faßte den beſtimmten Ent— 
ſchluß, dies zu tun. Gott ſei Dank, hier brauchte er ſich nicht mit 
Einzelheiten abzumuͤhen; hier handelte es ſich nur um einen 
einzigen Hauptpunkt. Aber wenn Swidrigailow wirklich etwas 
gegen Awdotja plante, dann wuͤrde er dieſen Menſchen, wenn 
er nur irgend koͤnnte, ... 

Raſkolnikow hatte ſich dieſe ganze Zeit her ſo erſchoͤpft gefuͤhlt, 
daß er jetzt zur Loͤſung ſolcher Fragen nur ein einziges Auskunfts- 
mittel wußte. „Dann toͤte ich ihn!“ dachte er in kalter Verzweif— 
lung. Er empfand einen ſchweren Druck auf dem Herzen; mitten 
auf der Straße blieb er ſtehen und ſah ſich um, was fuͤr einen 
Weg er eigentlich eingeſchlagen habe, und wie weit er ſchon ge— 
kommen ſei. Er befand ſich auf dem ... ſki-Proſpekt, dreißig 
oder vierzig Schritte vom Heumarkt entfernt, den er paſſiert 
hatte. Das ganze zweite Stockwerk eines Hauſes linkerhand 
war von einem Reſtaurant eingenommen. Alle Fenſter ſtanden 
weit offen; nach den vielen Geſtalten zu urteilen, die ſich an den 


714 Schuld und Suͤhne 


Fenſtern bewegten, mußte das Reſtaurant gedraͤngt voll von 
Gaͤſten ſein. In dem Hauptſaale ließen ſich Liederſaͤnger ver— 
nehmen; eine Klarinette und eine Violine ertönten, eine tuͤrkiſche 
Trommel droͤhnte. Man hoͤrte das Gekreiſch von Frauenſtimmen. 
Er war ſchon im Begriff, wieder umzukehren, da er gar nicht Бе: 
griff, warum er eigentlich in den ... ſki-Proſpekt eingebogen war, 
als er auf einmal an einem der letzten offenſtehenden Fenſter 
des Reſtaurants Swidrigailow erblickte, der dort mit der Pfeife 
im Munde dicht beim Fenſter an einem Teetiſche ſaß. Raſkol— 
nikow war uͤberraſcht, ja, gewaltig erſchrocken. Swidrigailow be— 
trachtete und beobachtete ihn ſchweigend und wollte (woruͤber 
Raſkolnikow gleichfalls uͤberraſcht war) anſcheinend aufſtehen, 
um ſachte vom Fenſter zuruͤckzutreten, ehe er bemerkt wuͤrde. 
Raſkolnikow tat ſofort, als hätte er ihn nicht bemerkt und ſaͤhe 
ganz in Gedanken zur Seite, beobachtete ihn aber doch mit ver— 
ſtohlenen ſchraͤgen Blicken weiter. Das Herz klopfte ihm un— 
ruhig. Er hatte ſich nicht getaͤuſcht: Swidrigailow wuͤnſchte 
augenſcheinlich, nicht geſehen zu werden. Er nahm die Pfeife 
aus dem Munde und wollte ſich verbergen; aber waͤhrend er ſich 
erhob und den Stuhl zuruͤckſchob, merkte er wahrſcheinlich, daß 
Raſkolnikow ihn {аб und beobachtete. Der ganze Vorgang hatte 
eine gewiſſe Ahnlichkeit mit der Szene, die ſich zwiſchen ihnen 
bei ihrer erſten Begegnung in Raſkolnikows Zimmer, als dieſer 
ſchlief, abgeſpielt hatte. Ein ſchlaues Laͤcheln wurde um Swidri— 
gailows Mund ſichtbar und breitete ſich allmählich über fein 
ganzes Geſicht aus. Jeder von beiden wußte, daß ſie einander 
ſahen und beobachteten. Schließlich lachte Swidrigailow laut 
auf. 

„N. alfo! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie mögen; ich 
bin hier!“ rief er aus dem Fenſter. 

Raſkolnikow ging in das Reſtaurant hinauf. 


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Sechſter Teil 715 


die an den großen Saal anſtieß, in welchem an zwanzig Heinen 
Tiſchen bei dem unſchoͤnen Geſange eines ſchauderhaften Sänger: 
chors Kaufleute, Beamte und eine Menge anderer Leute Tee 
tranken. Aus einem andern Zimmer toͤnte das Klappern von 
Billardbaͤllen herein. Auf einem Tiſchchen hatte Swidrigailow 
eine angebrochene Flaſche Champagner und ein halbvolles Glas 
vor ſich ſtehen. In dem Zimmer befand ſich auch ein Junge mit 
einer kleinen Drehorgel und ein derbes, rotbaͤckiges Maͤdchen in 
einem geſtreiften, ſtark aufgeſchuͤrzten Rock, einen Tirolerhut 
mit Baͤndern auf dem Kopfe, eine etwa achtzehnjaͤhrige Saͤngerin, 
die, unbekuͤmmert um den Chorgeſang im anſtoßenden Saale, 
mit recht heiſerer Altſtimme zur Drehorgel einen Gaſſenhauer 
ſang. 

„Na, nun iſts genug!“ unterbrach Swidrigailow den Geſang 
bei Raſkolnikows Eintritt. 

Das Maͤdchen brach ſofort ab und blieb reſpektvoll wartend 
ſtehen. Auch ihre vulgaͤre Reimerei hatte ſie mit ernſter, reſpekt— 
voller Miene heruntergeſungen. 

„He, Philipp, ein Glas!“ rief Swidrigailow. 

„Ich moͤchte keinen Wein trinken,“ ſagte Raſkolnikow. 

„Wie Sie belieben; aber ich meinte Sie auch nicht. Trink, 
Katja! Heute brauche ich dich nicht mehr; du kannſt gehen!“ 

Er goß ihr ein ganzes Glas Wein ein und legte ihr einen Rubel— 
ſchein hin. Katja trank das Glas auf einmal aus, in der Weiſe, 
wie Frauen Wein trinken, das heißt ohne abzuſetzen, in zwanzig 
Schlucken, nahm den Schein, kuͤßte Swidrigailow die Hand, die 
dieſer ihr mit ſehr ernſter Miene zum Kuſſe uͤberließ, und ver— 
ließ das Zimmer; hinter ihr her trottete auch der Junge mit der 
Drehorgel. Sie waren beide von der Straße heraufgeholt worden. 
Swidrigailow wohnte kaum eine Woche in Petersburg und ſtand 


716 Schuld und Suͤhne 


doch ſchon mit ſeiner ganzen Umgebung in einer Art von patri— 
archaliſchem Verhältnis. Auch der Kellner Philipp gehörte Ве: 
reits zu ſeinen „Bekannten“ und benahm ſich gegen ihn aͤußerſt 
devot. Die Tuͤr nach dem Saale wurde meiſt geſchloſſen; Swi— 
drigailow fuͤhlte ſich dann in dieſem Zimmer wie zu Hauſe und 
brachte hier manchmal ganze Tage zu. Das Reſtaurant war 
ſchmutzig und gering und nicht einmal mittleren Ranges. | 

„Ich wollte Sie in Ihrer Wohnung aufſuchen,“ begann Raſ— 
kolnikow, „bog aber in Gedanken vom Heumarkt in den . .. ſki⸗ 
Proſpekt ein. Ich tue das ſonſt nie und gehe hier niemals ent— 
lang. Ich pflege vom Heumarkt aus immer rechts zu gehen. Auch 
iſt dies gar nicht der Weg nach Ihrer Wohnung. Aber kaum war 
ich hier eingebogen, da ſah ich Sie auch! Ganz ſeltſam!“ 

„Warum ſagen Sie nicht geradezu: es iſt ein Wunder?“ 

„Weil es vielleicht nur ein Zufall iſt.“ 

„Was haben doch dieſe Leute alle fuͤr eine ſchnurrige Art, zu 
denken!“ rief Swidrigailow lachend. „Trotzdem ſie in ihrem 
Herzen an Wunder glauben, mögen fie es doch nicht eingeſtehen! 
Eben haben Sie ja ſelbſt geſagt, daß es ‚vielleicht‘ nur ein Зи: 
fall iſt. Und mit welcher Feigheit ſich hier alle Leute davor 
fuͤrchten, eine eigene Meinung zu haben, davon koͤnnen Sie ſich 
gar keine Vorſtellung machen, Rodion Romanowitſch! Von 
Ihnen rede ich nicht; Sie haben eine eigene Meinung und haben 
ſich nicht geſcheut, ſie zu haben. Dadurch haben Sie auch mein 
Intereſſe erregt.“ 

„Durch weiter nichts?“ 

„Na, dieſer Grund iſt doch ſchon ausreichend.“ 

Swidrigailow war offenbar in angeregter Stimmung, indeſſen 
nur in geringem Grade; von dem Weine hatte er nur ein halbes 
Glas getrunken. 

„Ich möchte meinen, Sie kamen zu mir, noch ehe Sie wußten, 


Sechſter Teil 717 


daß ich faͤhig ſei, das zu haben, was Sie eine eigene Meinung 
nennen,“ bemerkte Raſkolnikow. 

„Na ja, damals hatte es einen anderen Grund. Jeder hat ſo 
ſeine eigenen Wege. Aber was das Wunder anlangt, ſo muß 
ich Ihnen ſagen, daß Sie dieſe letzten zwei, drei Tage geſchlafen 
zu haben ſcheinen. Ich ſelbſt habe Ihnen dieſes Reſtaurant be— 
zeichnet, und daß Sie geradeswegs hierher kamen, war ganz 
und gar kein Wunder; ich ſelbſt habe Ihnen den ganzen Weg be— 
ſchrieben und habe Ihnen die Stelle, wo es liegt, und die Stunden, 
wann ich hier zu treffen bin, angegeben. Beſinnen Sie ſich?“ 

„Nein, ich habe es vergeſſen,“ antwortete Raſkolnikow ver— 
wundert. 

„Das muß ich annehmen. Zweimal habe ich es Ihnen ſogar 
geſagt. Die Adreſſe hat ſich Ihrem Gedaͤchtniſſe mechaniſch ein— 
gepraͤgt. Und ſo bogen Sie auch mechaniſch in dieſe Straße ein, 
genau gemaͤß der angegebenen Adreſſe, aber ohne es ſelbſt zu 
wiſſen. Schon damals, als ich es Ihnen ſagte, hatte ich von 
Ihnen den Eindruck, daß Sie mich nicht verftanden hätten. Sie 
verraten ſich gar zu ſehr, Rodion Romanowitſch. Und noch eines: 
ich glaube, es gibt in Petersburg viele Leute, die im Gehen 
Selbſtgeſpraͤche halten. Es iſt eben eine Stadt von Halbverruͤckten. 
Gaͤbe es bei uns einen ernſtlichen Betrieb der Wiſſenſchaften, 
fo konnten die Arzte, die Juriſten und die Philoſophen die wert— 
vollſten Unterſuchungen uͤber die Petersburger Bevoͤlkerung an— 
ſtellen, jeder in ſeinem Fache. Es gibt wenige Orte, wo ſich ſo 
viele truͤbe, ſtarke, ſeltſame Momente, die auf die menſchliche 
Seele wirken, vereinigt finden wie in Petersburg. Wie maͤchtig 
ſind allein ſchon die Einwirkungen des Klimas! Und dabei iſt 
nun Petersburg der adminiſtrative Mittelpunkt von ganz Ruß— 
land, ſo daß der Charakter dieſer Hauptſtadt auf das ganze Reich 
zuruͤckwirken muß. Aber davon wollte ich jetzt nicht reden, ſondern 


718 Schuld und Suͤhne 


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davon, daß ich Sie ſchon einige Male heimlich von der Seite her бе: 
obachtet habe. Wenn Sie aus dem Hauſe treten, halten Sie den 
Kopf noch gerade. Nach zwanzig Schritten laſſen Sie ihn ſchon 
ſinken und legen die Haͤnde auf den Ruͤcken. Sie haben die 
Augen offen, nehmen aber zweifellos weder vor ſich noch rechts 
noch links irgend etwas wahr. Demnaͤchſt fangen Sie an, die 
Lippen zu bewegen und mit ſich ſelbſt zu ſprechen, wobei Sie 
manchmal die eine Hand frei machen und damit geſtikulieren; 
ſchließlich bleiben Sie längere Zeit mitten auf dem Wege ftehen. 
Das iſt recht bedenklich. Vielleicht beobachtet Sie außer mir ſonſt 
noch jemand, und das koͤnnte Ihnen doch zum Schaden gereichen. 
Mir kann es im Grunde ganz egal ſein, und Sie davon zu kurieren 
wird mir doch nicht gelingen; aber Sie verſtehen mich gewiß.“ 

„Sie wiſſen alſo, daß man mich beobachtet?“ fragte Raſkol— 
nikow und blickte ihn forſchend an. 

„Nein, davon weiß ich nichts,“ erwiderte Swidrigailow wie 
verwundert. 

„Nun, dann wollen wir von mir nicht weiter reden,“ murmelte 
Raſkolnikow mit finſterem Geſichte. 

„Schoͤn, reden wir nicht von Ihnen.“ 

„Sagen Sie mir lieber, wenn Sie hierhergehen, um zu trinken, 
und mich ſelbſt zweimal aufgefordert haben, zu Ihnen hierher: 
zukommen, warum wollten Sie denn dann vorhin, als ich Sie 
von der Straße aus am Fenſter ſah, zuruͤcktreten und ſich ver: 
ſtecken? Ich habe das recht wohl gemerkt.“ 

„He⸗he! Aber warum lagen Sie denn damals, als ich bei Ihnen 
zu Hauſe auf der Schwelle ſtand, mit geſchloſſenen Augen auf dem 
Sofa und taten, als ob Sie ſchliefen, wiewohl Sie doch wach 
waren? Ich habe das recht wohl gemerkt.“ 

„Ich konnte dazu ... meine Gründe haben, . .. das wiſſen 
Sie ſelbſt.“ 


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Sechſter Teil 719 


— — !—— — 


W Meine Gruͤnde konnte auch ich haben, wenn Sie ſie auch nicht 
kennen.“ f 

Raſkolnikow ſetzte den rechten Ellbogen auf den Tiſch, ſtuͤtzte 
mit den Fingern der rechten Hand ſein Kinn von unten und 
heftete ſeinen Blick unverwandt auf Swidrigailow. Er betrach— 
tete etwa eine Minute lang ſein Geſicht, das ihm auch fruͤher 
ſchon immer ſeltſam erſchienen war. Es war ein ganz merk— 
wuͤrdiges Geſicht, das große Ahnlichkeit mit einer Maske hatte: 
weiß, rotwangig, mit purpurnen Lippen, hellblondem Barte 
und noch ziemlich dichtem, blondem Haupthaar. Die Augen 
waren, man haͤtte ſagen koͤnnen, allzu blau und ihr Blick allzu 
ſtarr und unbeweglich. Es lag etwas uͤberaus Unangenehmes 
in dieſem huͤbſchen Geſichte, das im Verhaͤltnis zu Swidrigai— 
lows Alter außerordentlich jugendlich ausſah. Swidrigailow trug 
einen eleganten, leichten Sommeranzug; eine beſondere Eleganz 
legte er auch mit ſeiner Waͤſche an den Tag. An einem Finger 
prangte ein maſſiver Ring mit einem wertvollen Steine. 

„Muß ich mich nun wirklich auch noch mit Ihnen herumbalgen?“ 
ſagte Raſkolnikow plößlich, indem er mit krampfhafter Ци: 
geduld geradeswegs auf ſein Ziel losging. „Sie ſind ja zwar 
vielleicht ein hoͤchſt gefaͤhrlicher Menſch, wenn Sie mir ſchaden 
wollen; aber ich habe keine Luſt mehr, Komoͤdie zu ſpielen. Ich 
werde Ihnen fofort zeigen, daß mir an meinem perfönlichen 
Wohle nicht ſo viel gelegen iſt, wie Sie wahrſcheinlich meinen. 
Moͤgen Sie alſo wiſſen: ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen 
offen zu ſagen, wenn Sie an Ihren fruͤheren Abſichten in betreff 
meiner Schweſter noch feſthalten ſollten, und wenn Sie vor— 
haben ſollten, zu dieſem Zwecke etwas von dem, was Sie in 
letzter Zeit erfahren haben, auszunutzen, ſo ſchlage ich Sie tot, 
ehe es Ihnen gelingt, mich ins Gefaͤngnis zu bringen. Auf mein 
Wort ИЕ Verlaß; Sie wiſſen, daß ich imftande fein würde, es 


720 Schuld und Suͤhne 


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wahr zu machen. Und zweitens: wenn Sie mir etwas mit— 
zuteilen wuͤnſchen (denn ich hatte dieſe ganze Zeit her den Ein— 
druck, als wollten Sie mir etwas ſagen), ſo tun Sie das un— 
verzuͤglich; denn die Zeit iſt koſtbar, und es wird vielleicht ſehr 
bald ſchon zu ſpaͤt ſein.“ 

„Warum haben Sie es denn ſo eilig?“ fragte Swidrigailow, 
ihn neugierig anblickend. 

„Jeder hat feine eigenen Wege,“ entgegnete Raſkolnikow finfter 
und ungeduldig. 

„Dieſen Augenblick haben Sie mich aufgefordert, offen zu 
ſein, und Sie ſelbſt verweigern auf die erſte Frage, die ich an 
Sie richte, die Antwort,“ bemerkte Swidrigailow laͤchelnd. „Sie 
haben immer die Vorſtellung, als verfolgte ich beſtimmte Zwecke, 
und daher betrachten Sie mich mit ſolchem Argwohn. Aller— 
dings, in Ihrer Lage iſt das ſehr begreiflich. Aber obgleich ich 
lebhaft wuͤnſche, Ihnen naͤherzutreten, werde ich mir dennoch 
keine Mühe geben, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Wahr: 
haftig, le jeu ne vaut pas la chandelle, und ich hatte auch gar 
nicht vor, mit Ihnen uͤber etwas ſo ganz Beſonderes zu ſprechen.“ 

„Nun, was wollten Sie denn dann eigentlich von mir? Sie 
haben ſich doch an mich herangemacht?“ 

„Sie ſind mir einfach ein intereſſantes Beobachtungsobjekt. 
Sie erregten meine Aufmerkſamkeit durch das Romantiſche Ihrer 
Situation, das wars! Außerdem ſind Sie der Bruder einer 
Dame, fuͤr die ich mich ſehr intereſſierte. Und endlich habe ich 
ſeinerzeit von ebendieſer Dame außerordentlich oft und viel 
uͤber Sie gehoͤrt, woraus ich ſchloß, daß Sie auf die Dame großen 
Einfluß haben. Sind das nicht genug Gründe? He- he-he! 
Übrigens, offen geſtanden, Ihre Frage iſt fuͤr mich recht knifflich, 
und es faͤllt mir ſchwer, ſie Ihnen zu beantworten. Nun, ſehen 
Sie mal, Sie find doch jetzt nicht bloß wegen dieſer einen An. 


r 


Sechſter Teil 721 


gelegenheit zu mir gekommen, ſondern auch, um etwas Neues 
von mir zu hoͤren? Nicht wahr? Iſts nicht ſo?“ fragte Swidri— 
gailow eindringlich mit ſchlauem Laͤcheln. „Und nun ſtellen Sie 
ſich einmal vor, daß ich ſelbſt, ſchon auf der Reiſe hierher, im 
Eiſenbahncoupé, auf Sie rechnete, daß Sie mir auch etwas 
Neues ſagen wuͤrden und daß es mir gelingen wuͤrde, bei Ihnen 
eine Anleihe zu machen! Ja, ſehen Sie, ſo ſteht es mit meinem 
Reichtum!“ 

„Was denn fuͤr eine Anleihe?“ 

„Ja, was ſoll ich Ihnen darauf antworten? Daruͤber bin ich 
ſelbſt im unklaren. Sehen Sie nur, in was fuͤr einem elenden 
Reſtaurant ich die ganze Zeit uͤber herumhocke, und das iſt mein 
Element; das heißt, mein Element iſt es eigentlich nicht; na, 
aber man muß doch irgendwo die Zeit hinbringen. Und hier 
habe ich wenigſtens dieſe arme Katja, — haben Sie ſie geſehen? 
.. Ja, und wenn ich noch ein Vielfraß waͤre oder ein Gourmet; 
aber da koͤnnen Sie ſehen, was fuͤr Zeug ich eſſen kann“ (er 
zeigte mit dem Finger nach einer Ecke, wo auf einem kleinen 
Tiſchchen in einem Blechſchuͤſſelchen die Überrefte eines ſchauder— 
haften Beefſteaks mit Kartoffeln ſtanden). „Apropos, haben Sie 
ſchon zu Mittag gegeſſen? Ich habe nur ein paar Biſſen gegeſſen 
und mag nicht mehr. Wein zum Beiſpiel trinke ich uͤberhaupt 
nicht. Außer Champagner trinke ich gar keinen Wein, und auch 
Champagner trinke ich den ganzen Abend uͤber nur ein einziges 
Glas, und auch davon bekomme ich ſchon Kopfſchmerzen. Die 
Flaſche hier habe ich mir bloß geben laſſen, um mich ein bißchen 
aufzukratzen; denn ich habe einen Weg vor, und Sie finden mich 
in einer beſonderen Gemuͤtsſtimmung. Das war auch der Grund, 
weshalb ich mich vorhin wie ein Schuljunge verſteckte; denn ich 
dachte, Sie koͤnnten mir dabei hinderlich werden; aber ich glaube“ 
(er zog die Uhr heraus), „ich kann noch eine Stunde mit Ihnen 
XIX. s. 


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722 Schuld und Sühne 


zuſammen fein; es iſt erſt halb fünf. Glauben Sie mir, ich würde 
viel darum geben, wenn ich nur irgendeine Taͤtigkeit haͤtte, na, 
ſagen wir mal, wenn ich Gutsbeſitzer waͤre, oder Vater, oder 
Ulan, Photograph, Journaliſt, . . . aber ich habe rein gar nichts, 
ſo gar keine eigene Taͤtigkeit! Manchmal langweile ich mich 
furchtbar. Wirklich, ich dachte, Sie wuͤrden mir irgend etwas 
Neues ſagen.“ 

„Ja, was ſind Sie denn eigentlich fuͤr ein Menſch, und warum 
ſind Sie nach Petersburg gekommen?“ 

„Was ich fuͤr ein Menſch bin? Nun, das wiſſen Sie ja: ich bin 
ein Edelmann, habe zwei Jahre bei der Kavallerie gedient; 
dann habe ich hier in Petersburg herumgebummelt; dann habe 
ich Marfa Petrowna geheiratet und auf dem Lande gelebt. Das 
iſt mein Lebenslauf!“ 

„Sie waren ja wohl auch Spieler?“ 

„Nein, Spieler eigentlich nicht. Ein Falſchſpieler iſt kein 
Spieler.“ 

„Alſo Sie waren Falſchſpieler?“ 

„Ja, das bin ich auch geweſen.“ 

„Da haben Sie auch wohl manchmal Pruͤgel bekommen?“ 

„Das iſt auch vorgekommen. Nun, und ...“ 

„Nun, da konnten Sie doch den Betreffenden zum Duell 
fordern. Das iſt doch eine erfriſchende Abwechſelung.“ 

„Ich will Ihnen nicht widerſprechen und habe uͤberhaupt in 
philoſophiſchen Debatten keine Übung. Ich muß geſtehen, ich 
bin hauptſaͤchlich der Weiber wegen mit ſolcher Beſchleunigung 
hierher gereiſt.“ | | 

„Nachdem Sie Marfa Petrowna eben erſt beerdigt haben?“ 

„Nun ja,“ erwiderte Swidrigailow mit ganz ungeniertem, 
offenherzigem Laͤcheln. „Was iſt denn dabei? Sie ſcheinen etwas 
Schlimmes darin zu finden, daß ich ſo von den Weibern rede?“ 


Sechſter Teil 723 


halte?“ 

„Die Unſittlichkeit! Nun, das iſt doch etwas zuviel geſagt! 
Aber ich moͤchte Ihnen zunaͤchſt einmal meine Anſicht uͤber die 
Weiber im allgemeinen ſagen; wiſſen Sie, ich bin gerade dazu 
aufgelegt, ein bißchen zu plaudern. Sagen Sie bloß, warum 
ſollte ich mir denn Enthaltſamkeit auferlegen? Warum ſollte ich 
mir die Weiber verſagen, wenn das nun einmal meine Paſſion 
iſt? Wenigſtens habe ich doch eine Beſchaͤftigung dadurch.“ 

„Sie ſuchen hier alſo weiter nichts als Unſittlichkeit?“ 

„Na, wenn Sie es ſo nennen wollen, meinetwegen! Sie immer 
mit Ihrer Unſittlichkeit! Indeſſen habe ich es ganz gern, daß 
Sie ſo offen und geradezu fragen. Dieſe Unſittlichkeit hat 
wenigſtens das Gute, daß ſie etwas Dauerndes iſt, ſogar etwas 
in der Natur Begruͤndetes, von aller Theorie Unabhaͤngiges, 
etwas, was einem wie eine Art von ſtets gluͤhender Kohle im 
Gebluͤte wohnt und ſich nicht ſo bald ausloͤſchen laͤßt, ſo be— 
ſonders ſchnell vielleicht nicht einmal bei hoͤherem Lebensalter. 
Sagen Sie ſelbſt, iſt das etwa nicht in ſeiner Art auch eine Be— 
ſchaͤftigung?“ 

„Wie koͤnnen Sie daran Ihre Freude haben? Es iſt eine Krank— 
heit, eine gefaͤhrliche Krankheit.“ 

„Nun, das iſt doch etwas zuviel geſagt! Ich gebe zu, daß es 
eine Krankheit iſt, wie alles, was uͤber das richtige Maß hinaus— 
geht (und auf dieſem Gebiete wird es unfehlbar oft vorkommen, 
daß das richtige Maß uͤberſchritten wird); aber erſtens iſt das 
doch bei verſchiedenen Menſchen verſchieden; und zweitens moͤge 
man ſich eben, wie bei allen Dingen, ſo ſelbſtverſtaͤndlich auch 
hierbei, des Maßhaltens befleißigen; Okonomie, wenn auch in 
einer gemeinen Sphaͤre. Aber was ſoll man tun? Wenn es 
dieſes Vergnuͤgen nicht gaͤbe, koͤnnte man ſich nur gleich er— 


724 Schuld und Sühne 


ſchießen! Ich gebe zu, daß ein anftändiger Menſch die Pflicht 
hat, die Langeweile zu ertragen, aber trotzdem ...“ 

„Wuͤrden Sie es fertig bringen, ſich zu erſchießen?“ 

„Hoͤren Sie mal!“ erwiderte Swidrigailow, indem er mit einer 
Gebaͤrde des Widerwillens die Frage von ſich wies. „Tun Sie 
mir den Gefallen und reden Sie davon nicht,“ fuͤgte er haſtig 
hin zu und ſogar ganz ohne den prahleriſchen Beiklang, den alle 
ſeine vorhergehenden Worte gehabt hatten. Selbſt ſein Geſicht 
ſchien ſich veraͤndert zu haben. „Ich bekenne mich da einer un— 
verzeihlichen Schwaͤche ſchuldig; aber ich kann nichts dagegen 
machen: ich fuͤrchte mich vor dem Tode und mag nicht von ihm 
reden hoͤren. Wiſſen Sie wohl, daß ich ſo ein Stuͤck Myſtiker bin?“ 

„Ach ja! Marſa Petrownas Geiſt iſt Ihnen ja erſchienen! 
Nun, dauern dieſe Erſcheinungen noch fort?“ 

„Ach, erinnern Sie mich nicht daran; in Petersburg iſt es noch 
nicht vorgekommen; hol der Teufel die Geiſtererſcheinungen!“ 
rief er ärgerlich. „Nein, laſſen Sie uns lieber über dieſe ... ja, 
aber .. . Hm! Schade, ich habe nicht mehr viel Zeit; ich kann 
nicht mehr lange mit Ihnen zuſammenbleiben; es tut mir ſehr 
leid! Ich haͤtte Ihnen noch etwas mitzuteilen.“ 

„Wo wollen Sie denn hin, zu einem Frauenzimmer?“ 

„Allerdings; ein ganz unverhoffter Zufall ... Aber das war 
es nicht, wovon ich jetzt mit Ihnen reden wollte.“ 

„Und die Ekelhaftigkeit dieſes ganzen Treibens wirkt gar nicht 
mehr auf Sie? Haben Sie ſchon die Kraft verloren, ſich ſelbſt 
ein, Halt!“ zuzurufen?“ 

„Und Sie, Sie erheben fuͤr Ihre eigene Perſon Anſpruch 
darauf, Kraft zu beſitzen? He-he-he! Sie haben mich ſoeben in 
Verwunderung verſetzt, Rodion Romanowitſch, obgleich ich der— 
gleichen vorausſah. Sie, Sie reden mir von Unſittlichkeit und 
Aſthetik! Sie ſpielen ſich als eine Art von Schiller auf, als 


1. DE VE — 


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Sechſter Teil 72⁵ 


Idealiſten! Alles das hat natuͤrlich ſeinen notwendigen inneren 
Zuſammenhang, und man muͤßte ſich wundern, wenn es anders 
waͤre; aber trotzdem kommt es einem in der Wirklichkeit ſonder— 
bar vor . .. Schade nur, daß ich [о wenig Zeit habe; denn Sie 
ſind eine uͤberaus intereſſante Perſoͤnlichkeit! Apropos, lieben 
Sie Schiller? Ich habe ihn außerordentlich gern.“ 

„Aber was find Sie für ein Prahler!“ erwiderte Wee 
mit merklichem Widerwillen. 

„Das bin ich nicht, wahrhaftig nicht!“ antwortete Swidrigailow 
lachend. „Übrigens will ich daruͤber nicht ſtreiten; mag ich ein 
Prahler ſein! Aber warum ſoll man auch nicht ein bißchen 
prahlen, wenn man niemandem etwas damit zuleide tut? Ich 
habe ſieben Jahre lang bei Marfa Petrowna auf dem Lande ge— 
lebt; darum bin ich jetzt geradezu froh, ein bißchen plaudern zu 
koͤnnen, wo ich einen klugen Menſchen wie Sie getroffen habe, 
einen klugen und im hoͤchſten Grade intereſſanten Menſchen. 
Außerdem habe ich auch ein halbes Glas Wein getrunken, und 
das iſt mir ſchon ein klein wenig in den Kopf geftiegen. Die 
Hauptſache aber iſt: ich habe da ſo eine Geſchichte, die mich ſehr 
aufregt, uͤber die ich aber ſchweigen moͤchte. Aber wo wollen 
Sie denn hin?“ fragte Swidrigailow ploͤtzlich ſehr erſtaunt. 

Raſkolnikow hatte ſich zum Aufſtehen angeſchickt. Er fühlte fich 
bedruͤckt, beklommen, unbehaglich und bedauerte, hergekommen 
zu fein. Über Swidrigailow hatte er ſich die Überzeugung ge: 
bildet, daß dies der fadeſte, wertloſeſte Boͤſewicht ſei, den es auf 
der Welt gebe. 

„Ach was! Bleiben Sie doch noch ein Weilchen ſitzen,“ bat 
Swidrigailow, „und laſſen Sie ſich etwas geben, etwa ein Glas 
Tee. Na, ſitzen Sie noch ein Weilchen; ich werde Ihnen auch 
keinen Unſinn mehr vorreden, ich meine uͤber mich. Ich werde 
Ihnen etwas erzaͤhlen. Na, wenns Ihnen recht iſt, ſo will ich 


726 Schuld und Sühne 


— — — —— —— — — 


Ihnen erzaͤhlen, wie mich eine Dame, um in Ihrer Sprache zu 
reden, ‚rettete‘. Das wird fogar eine Antwort auf Ihre erſte 
Frage ſein, weil dieſe Dame Ihre Schweſter war. Soll ich es 
Ihnen erzaͤhlen? Wir fuͤllen damit auch die Zeit aus.“ 

„Erzaͤhlen Sie; aber ich hoffe, Sie ...“ | 

„O, ſeien Sie unbeſorgt! Übrigens kann Awdotja Romanowna 
ſogar einem ſo ſchaͤndlichen und hohlen Menſchen wie mir nur 
die allergroͤßte Hochachtung einfloͤßen.“ 


IV 


„Sie wiſſen vielleicht (übrigens habe ich es Ihnen felbft ет: 
zaͤhlt),“ begann Swidrigailow, „daß ich hier wegen einer rieſigen 
Summe im Schuldgefaͤngnis ſaß, ohne die geringſte Ausſicht, 
daß ich jemals die Mittel zur Bezahlung beſitzen wuͤrde. Es hat 
keinen Zweck, im einzelnen darzulegen, auf welche Weiſe mich 
Marfa Petrowna damals loskaufte; wiſſen Sie, bis zu welchem 
Grade von Tollheit ſich ein Weib manchmal verlieben kann? 
Sie war eine ehrenhafte, recht kluge, obgleich voͤllig ungebildete 
Frau. Stellen Sie ſich vor, daß dieſe ſehr eiferfüchtige, ehren 
hafte Frau nach vielen ſchrecklichen Wutausbruͤchen und Vor— 
wuͤrfen ſich entſchloß, mit mir eine Art von Kontrakt abzuſchließen, 
den fie dann auch während der ganzen Dauer unferer Ehe ers 
fuͤllt hat. Die Sache war die, daß ſie erheblich aͤlter war als ich; 
außerdem hatte ſie beſtaͤndig eine Gewuͤrznelke im Munde. Ich 
beſaß ſo viel Gemeinheit und gleichzeitig ſo viel eigenartige Ehr— 
lichkeit, daß ich ihr offen erklaͤrte, vollftändig treu koͤnne ich ihr 
nicht ſein. Über dieſes Geſtaͤndnis geriet ſie in Wut; aber meine 
grobe Aufrichtigkeit ſchien ihr doch in gewiſſer Weiſe zu gefallen; 
‚er beabſichtigt alſo ſelbſt nicht, mich zu hintergehen,“ dachte fie, 
wenn er von vornherein eine ſolche Erklaͤrung abgibt'; na, und 
das iſt einer eiferſuͤchtigen Frau die Hauptſache. Nach vielen und 


an» 
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Sechſter Teil 727 


langen Traͤnenerguͤſſen kam zwiſchen ung ungefähr folgender 
muͤndlicher Kontrakt zuſtande: erſtens, ich werde Marfa Petrowna 
nie verlaſſen und immer ihr Mann bleiben; zweitens, ohne ihre 
Erlaubnis werde ich nirgendwohin verreiſen; drittens, ich werde 
mir nie eine ſtaͤndige Geliebte halten; viertens, dagegen geftattet 
mir Marfa Petrowna, manchmal ein Auge auf die Stubenmaͤdchen 
zu werfen, jedoch nur unter ihrer ſtillen Mitwiſſerſchaft; fuͤnf— 
tens, unter keinen Umſtaͤnden darf ich mich in ein weibliches 
Weſen aus unſerem Stande verlieben; ſechſtens, wenn (was 
Gott verhuͤten moͤge) mich eine große, ernſte Leidenſchaft uͤber— 
kommen ſollte, ſo bin ich verpflichtet, mich Marfa Petrowna zu 
eröffnen. Hinſichtlich des letzten Punktes war übrigens Marfa 
Petrowna immer ziemlich ruhig; da ſie eine kluge Frau war, mußte 
ſie von mir mit Notwendigkeit glauben, ich ſei als liederlicher 
ausſchweifender Menſch einer ernſten Liebe nicht faͤhig. Aber 
eine kluge Frau und eine eiferſuͤchtige Frau, das ſind zwei ver— 
ſchiedene Dinge, und das war das Malheur. Übrigens, um 
uͤber eine gewiſſe Art von Menſchen unparteiiſch urteilen zu 
koͤnnen, muß man ſich vorher von manchen Vorurteilen und von 
der Gewoͤhnung an die uns taͤglich umgebenden Menſchen und 
Dinge frei machen. Auf Ihre Zuſtimmung darf ich wohl dabei 
mehr hoffen als auf die irgendwelches anderen. Vielleicht haben 
Sie ſchon viel Laͤcherliches und Verdrehtes uͤber Marfa Petrowna 
gehoͤrt. Sie hatte ja auch wirklich manche recht laͤcherlichen Ge— 
wohnheiten; aber ich will Ihnen offen ſagen, daß ich aufrichtig 
bedaure, ihr ſo unendlich oft Kummer gemacht zu haben. Na, 
ich glaube, das Geſagte genuͤgt als eine hoͤchſt anſtaͤndige oraison 
kunèbre, die ein zaͤrtlicher Gatte feiner zaͤrtlichen Gattin hält. 
Wenn es zwiſchen uns zu Streit kam, ſo ſchwieg ich meiſtens 
ſtill und zeigte mich nicht erregt; und durch ein ſolches gentleman— 
like Benehmen erreichte ich faſt immer meine Abſicht; das 


728 Schuld und Suͤhne 


—— 8 —Eäꝓẽ— nennen. 


TER ый fie Eindruck und gefiel ihr; bei manchen Gelegen— 
heiten war ſie geradezu ſtolz auf mich. Aber die Eiferſucht auf 
Ihre Schweſter vermochte ſie doch nicht zu beherrſchen. Wie 
hatte ſie auch nur wagen koͤnnen, eine ſo auserleſene Schoͤnheit 
als Gouvernante in ihr Haus zu nehmen! Ich kann mir das nur 
ſo erklaͤren: Marfa Petrowna war eine leicht zu entflammende, 
ſehr begeiſterungsfaͤhige Seele und hatte ſich ganz einfach ſelbſt 
in Ihre Schweſter verliebt, jawohl, im eigentlichſten Sinne 
des Wortes verliebt. Nun, aber was iſt auch Awdotja Roma— 
nowna fuͤr ein Weſen! Ich erkannte gleich beim erſten Blick 
ſehr klar, daß hier die Sache ernſthaft und ſchlimm werden koͤnnte, 
und (was meinen Sie wohl?) ich beſchloß, uͤberhaupt nicht die 
Augen zu ihr zu erheben. Aber Awdotja Romanowna tat ſelbſt 
den erſten Schritt; koͤnnen Sie's glauben? Und koͤnnen Sie 
auch das glauben, daß Marfa Petrowna in ihrem Enthuſiasmus 
ſo weit ging, mir anfangs ſogar boͤſe zu ſein, weil ich uͤber Ihre 
Schweſter nie etwas ſagte und bei ihren eigenen ſteten ſchwaͤr— 
meriſchen Außerungen über Awdotja Romanowna mich gleich- 
guͤltig zeigte? Ich begreife ſelbſt nicht, was ſie eigentlich wuͤnſchte! 
Und natuͤrlich erzaͤhlte Marfa Petrowna Ihrer Schweſter uͤber 
mich alles bis aufs kleinſte. Sie hatte naͤmlich den ungluͤcklichen 
Hang, allen und jedem unſere geſamten Familiengeheimniſſe 
zu erzaͤhlen und ſich bei allen fortwaͤhrend uͤber mich zu be— 
klagen; wie haͤtte ſie das einer ſolchen neuen, ſchoͤnen Freundin 
gegenüber unterlaffen koͤnnen? Ich kann mir denken, daß 
zwiſchen den beiden uͤberhaupt von nichts anderem geſprochen 
wurde als von mir, und zweifellos wurde Awdotja Romanowna 
mit all den duͤſteren, geheimnisvollen Maͤrchen bekannt ge— 
macht, die über mich im Umlauf waren ... Ich möchte darauf 
wetten, daß Ihnen auch ſchon etwas davon zu Ohren ge: 
kommen iſt?“ 


Sechſter Teil 729 


— 


„Jawohl, Luſchin beſchuldigte Sie, Sie haͤtten ſogar den Tod 
eines kleinen Maͤdchens verſchuldet. Iſt das wahr?“ 

„Tun Sie mir den Gefallen und laſſen Sie mich mit all dieſen 
Abgeſchmacktheiten in Ruhe,“ erwiderte Swidrigailow aͤrgerlich 
und muͤrriſch. „Wenn Sie ſo großes Verlangen tragen, uͤber all 
dieſen Unſinn die Wahrheit zu hoͤren, ſo will ich es Ihnen ein 
andermal erzählen; aber jetzt . ..“ 

„Es wurde auch von einem Diener, den Sie auf dem Lande 
hatten, geſprochen; angeblich haͤtten Sie auch da eine Schuld 
auf ſich geladen.“ 

„Tun Sie mir den Gefallen und hoͤren Sie damit auf!“ unter— 
brach ihn Swidrigailow wieder mit ſichtlicher Ungeduld. 

„War das nicht eben der Diener, der nach ſeinem Tode zu 
Ihnen ins Zimmer kam, um Ihnen die Pfeife zu ſtopfen? Sie 
haben mir ja ſelbſt davon erzaͤhlt!“ fragte Raſkolnikow; ſein Ton 
klang immer gereizter. 

Swidrigailow blickte Raſkolnikow forſchend an, und dem letz— 
teren ſchien es, als ob in dieſem Blicke momentan, blitzartig, ein 
boshaftes Laͤcheln aufzuckte; aber Swidrigailow beherrſchte ſich 
und antwortete ſehr hoͤflich: 

„Ja, es war derſelbe. Ich ſehe, daß dies alles auch Sie außer— 
ordentlich intereſſiert, und halte es fuͤr meine Pflicht, bei der 
erſten paſſenden Gelegenheit Ihre Wißbegierde zu befriedigen. 
Hols der Teufel! Ich ſehe, daß ich wirklich manchem als eine 
romantiſche Perſoͤnlichkeit erſcheinen kann. Da koͤnnen Sie ſich 
leicht ſelbſt ſagen, wie dankbar ich unter ſolchen Umſtaͤnden der 
ſeligen Marfa Petrowna dafuͤr ſein mußte, daß ſie Ihrer Schwe— 
fter fo viel Geheimnisvolles und Intereſſantes über mich er— 
zaͤhlte. Ich wage nicht, daruͤber zu urteilen, wie groß der Ein— 
druck war, den dieſe Erzaͤhlungen auf Ihre Schweſter machten; 
aber jedenfalls war es ein fuͤr mich vorteilhafter Trotz alles 


730 Schuld und Suͤhne 


natuͤrlichen Widerwillens, den Awdotja Romanowna gegen mich 
empfand, und trotz meiner ſtets finſteren und abſtoßenden Miene 
begann ich ihr endlich leid zu tun; der verlorene Menſch tat ihr 
leid. Wenn aber ein Maͤdchenherz erſt Mitleid empfindet, fo ift 
das ſelbſtverſtaͤndlich fuͤr das Maͤdchen am allergefaͤhrlichſten. 
Da bekommt fie dann unvermeidlich Luft, den Armſten zu retten“ 
und auf die rechte Bahn zu bringen und zu bekehren und zu 
edlen Beſtrebungen anzuregen und zu neuem Leben und neuer 
Taͤtigkeit zu erwecken, — na, man weiß ja, was in dieſer Hin— 
ſicht alles zuſammenphantaſiert wird. Ich merkte ſofort, daß 
das Voͤgelchen von ſelbſt ins Netz flog, und traf meinerſeits die 
nötigen Vorbereitungen. Sie machen ein finſteres Geſicht, Ro: 
dion Romanowitſch? Dazu iſt kein Anlaß; es iſt, wie Sie wiſſen, 
uͤber Kleinigkeiten nicht hinausgekommen. (Hols der Teufel! 
Was trinke ich fuͤr eine Menge Wein!) Wiſſen Sie, ich habe 
immer, gleich von Anfang an, bedauert, daß das Schickſal Ihre 
Schweſter nicht hat im zweiten oder dritten Jahrhundert unſerer 
Zeitrechnung irgendwo als Tochter eines kleinen regierenden 
Fürften oder fo eines Staatslenkers oder eines Prokonſuls von 
Kleinaſien hat geboren werden laſſen. Sie waͤre gewiß eine der 
Frauen geweſen, die den Maͤrtyrertod erduldeten, und haͤtte 
gewiß dazu gelaͤchelt, wenn man ihr die Bruſt mit gluͤhenden 
Zangen verbrannt haͤtte. Sie haͤtte ſich dieſen Leiden abſicht— 
lich und freiwillig unterzogen; im vierten oder fuͤnften Jahr— 
hundert aber waͤre ſie in die aͤgyptiſche Wuͤſte gegangen und 
haͤtte dort dreißig Jahre lang gewohnt und ſich von Wurzeln, 
Verzuͤckungen und Viſionen genaͤhrt. Sie duͤrſtet ordentlich vor 
Verlangen, fuͤr irgend jemand irgendwelche Marter ſo bald wie 
moͤglich auf ſich zu nehmen, und wenn ihr das nicht geſtattet 
wird, ſo ſtuͤrzt ſie ſich am Ende gar aus dem Fenſter. Ich habe 
da ſo etwas uͤber einen gewiſſen Herrn Raſumichin verlauten 


и Ч’, ды — 


Sechſter Teil 731 


hoͤren. Er ſoll ja ein verſtaͤndiger junger Mann ſein; er beſucht, 
glaube ich, ein Seminar; na, der kann ja dann Ihre Schweſter 
behüten. Kurz, ich glaube fie in ihrem Weſen richtig verftanden 
zu haben, was ich mir zur Ehre anrechne. Damals jedoch, ich 
meine am Anfange unſerer Bekanntſchaft, — Sie wiſſen ja 
ſelbſt, man iſt dann immer ein bißchen dumm und unbedacht, 
ſieht falſch und irrt ſich. Aber hols der Teufel, warum war ſie 
auch ſo ſchoͤn? Ich konnte nichts dafuͤr, daß das auf mich wirkte! 
Kurz, die Sache begann bei mir mit einer unwiderſtehlichen 
ſinnlichen Begierde. Awdotja Romanowna iſt furchtbar keuſch, 
in einem ganz unerhoͤrten, nie dageweſenen Grade. (Laſſen 
Sie ſich das geſagt ſein; ich teile Ihnen da uͤber Ihre Schweſter 
eine feſtſtehende Tatſache mit. Ihre Keuſchheit hat vielleicht 
geradezu etwas Krankhaftes, trotz ihres außerordentlichen Ver 
ſtandes, und das wird ihr noch einmal zum Schaden gereichen.) 
Es kam damals gerade ein Maͤdchen namens Paraſcha zu uns, 
die ſchwarzaͤugige Paraſcha, die wir erſt vor kurzem aus einem 
anderen Dorfe hatten heruͤberkommen laſſen und die ich vorher 
noch nie geſehen hatte; fie war Stubenmaͤdchen, ſehr huͤbſch, 
aber ganz unglaublich dumm: ſie brach in Traͤnen aus und er— 
hob ein Geheul, daß man es uͤber den ganzen Hof hoͤrte; genug, 
die Geſchichte machte ein ſehr aͤrgerliches Aufſehen. Eines Tages 
nach dem Mittageſſen ſuchte mich Awdotja Romanowna ab— 
ſichtlich im Garten in einer Allee auf, wo ich allein promenierte, 
und ‚verlangte‘ von mir mit funkelnden Augen, ich ſollte die 
arme Paraſcha in Ruhe laſſen. Das war ſo ziemlich unſer erſtes 
Geſpraͤch unter vier Augen. Selbſtverſtaͤndlich verſicherte ich, es 
wuͤrde mir eine Ehre ſein, ihren Wunſch zu erfuͤllen, und gab 
mir alle Muͤhe, mich betroffen und beſchaͤmt zu ſtellen; na kurz, 
ich ſpielte meine Rolle vortrefflich. Nun begann ein Verkehr 
zwiſchen uns, geheime Geſpraͤche, Moralpredigten, Belehrungen, 


732 Schuld und Suͤhne 


Bitten, Beſchwoͤrungen, ſogar Traͤnen, — ſollten Sie es glauben, 
ſogar Traͤnen! So ſtark iſt bei manchen jungen Maͤdchen die 
Paſſion fuͤr Bekehrungen! Ich ſchob natuͤrlich alle Schuld auf 
mein bisheriges Schickſal, tat, als ob ich nach Erleuchtung heißes 
Verlangen truͤge, und brachte ſchließlich das ſtaͤrkſte und zuver— 
(äffigfte Mittel zur Eroberung von Frauenherzen in Anwendung, 
jenes Mittel, das nie verſagt und ſchlechterdings bei allen Frauen 
ohne Ausnahme feine Wirkung tut. Das Mittel ift allgemein ве: 
kannt: die Schmeichelei. Nichts auf der Welt iſt ſchwerer als 
Aufrichtigkeit und nichts leichter als Schmeichelei. Wenn bei 
der Aufrichtigkeit auch nur ein Hundertſtel einer Note falſch iſt, 
ſo entſteht ſofort eine Diſſonanz und in deren Gefolge ein Zer— 
wuͤrfnis. Wenn aber bei der Schmeichelei alles, von der erften 
bis zur letzten Note, falſch iſt, ſo bleibt ſie trotz alledem angenehm 
und wird mit Vergnuͤgen angehoͤrt, vielleicht nur mit maͤßigem 
Vergnuͤgen, aber immerhin mit Vergnuͤgen. Und mag die 
Schmeichelei auch noch ſo plump ſein, ſo wird unfehlbar doch 
wenigſtens die Haͤlfte fuͤr Wahrheit gehalten. Und das trifft 
fuͤr alle Bildungsſtufen und Schichten der Geſellſchaft zu. Selbſt 
eine Veſtalin kann man durch Schmeichelei verfuͤhren, von ge— 
woͤhnlichen Weibern gar nicht zu reden! Ich muß jedesmal 
lachen, wenn ich daran denke, wie ich einmal eine Dame ver- 
fuͤhrt habe, die ſehr an ihrem Manne und an ihren Kindern 
hing und von ihrer eigenen Tugend feſt uͤberzeugt war. Die 
Sache war hoͤchſt amuͤſant und machte mir ſo gut wie gar keine 
Muͤhe. Und dabei war die Dame wirklich tugendhaft, wenigſtens 
auf ihre Art. Meine ganze Taktik beſtand darin, daß ich jeden 
Augenblick von ihrer Keuſchheit geradezu uͤberwaͤltigt tat und 
vor derſelben anbetend niederſank. Ich ſchmeichelte ihr in einer 
nichtswuͤrdigen Weiſe, und ſo oft ich einen Haͤndedruck oder auch 
nur einen Blick von ihr erlangt hatte, machte ich mir laut Bor: 


enn. 


Sechſter Teil 733 


wuͤrfe: ich hätte ihr das gewaltſam abgenoͤtigt, und fie hätte ſich 
geſtraͤubt, und zwar ſo ernſtlich, daß ich wohl nie etwas erreicht 
haben wuͤrde, wenn ich ſelbſt nicht ſo laſterhaft waͤre; und ſie 
haͤtte in ihrer Unſchuld meine Tuͤcke nicht vorhergeſehen und un— 
verſehens, ohne ſich deſſen ſelbſt auch nur im geringſten bewußt 
zu ſein, nachgegeben, und ſo weiter, und ſo weiter. Kurz, ich 
erreichte alles; meine Dame aber blieb vollkommen uͤberzeugt, 
daß ſie unſchuldig und keuſch ſei und in vollem Umfange ihre 
Pflicht erfuͤlle und nur ganz zufaͤllig zu Fall gekommen ſei. Und 
wie zornig wurde ſie auf mich, als ich ihr zuletzt erklaͤrte, daß 
meiner aufrichtigen Überzeugung nach ſie genau ebenſo wie ich 
den Genuß geſucht habe. Auch die arme Marfa Petrowna war 
fuͤr Schmeichelei ſehr empfaͤnglich, und wenn ich nur gewollt 
hätte, fo hätte fie mir ſicher noch zu ihren Lebzeiten ihr ganzes 
Vermoͤgen vermacht. (Aber ich trinke viel zu viel Wein und ge— 
rate ins Schwatzen.) Ich hoffe, Sie werden es mir nicht uͤbel— 
nehmen, wenn ich jetzt erwaͤhne, daß ſich auch bei Awdotja Roma— 
nowna dieſelbe Wirkung zu zeigen begann. Aber ich ſelbſt be— 
nahm mich dumm und ungeduldig und verdarb ſo die ganze Ge— 
ſchichte. Ihrer Schweſter mißfiel in hohem Grade der Ausdruck 
meiner Augen; koͤnnen Sie das glauben? Das war ſchon vor— 
her einige Male der Fall geweſen, einmal aber ganz beſonders. 
Naͤmlich in meinen Augen loderte immer ſtaͤrker und unvor— 
ſichtiger eine gewiſſe Glut, die ihr Angſt machte und ihr ſchließ— 
lich geradezu verhaßt wurde. Alle Einzelheiten zu erzaͤhlen hat 
keinen Zweck; aber wir kamen auseinander. Nun beging ich 
wieder eine Dummheit. Ich fing an, in der groͤbſten Weiſe uͤber 
all dieſe Beſſerungs- und Bekehrungsverſuche zu ſpotten; Pa— 
raſcha mußte wieder auf die Buͤhne, und nicht ſie allein, — kurz, 
es war ein wahres Sodom. Ach, Rodion Romanowitſch, wenn 
Sie nur ein einziges Mal im Leben zu ſehen bekaͤmen, wie die 


СТОЯ 


734 бон und Suͤhne 


Augen Ihrer Schweſter mitunter zu funkeln derbe Wenn 
ich auch jetzt betrunken bin und ſchon ein ganzes Glas Wein ge— 
trunken habe, darum ſage ich doch die Wahrheit; ich verſichere 
Sie, daß ich ſelbſt im Traume dieſen Blick auf mich gerichtet 
ſah; es kam ſchließlich ſo weit, daß ich das Raſcheln ihres Kleides 
nicht mehr ertragen konnte. Wahrhaftig, ich dachte, ich bekaͤme 
Krampfanfaͤlle; niemals haͤtte ich geglaubt, daß ſich meine 
Leidenſchaft bis zu ſolcher Höhe ſteigern koͤnne. Kurz, ich mußte 
mich notwendig mit ihr ausſoͤhnen; aber das war nicht mehr 
moͤglich. Und nun ſtellen Sie ſich einmal vor, was ich dann tat! 
Zu welcher blödfinnigen Handlungsweiſe kann doch die Raſerei 
den Menſchen bringen! Unternehmen Sie niemals etwas im 
Zuſtande der Raſerei, Rodion Romanowitſch! In der Erwaͤgung, 
daß Awdotja Romanowna im Grunde bettelarm iſt (ach, ent— 
ſchuldigen Sie, fo wollte ich nicht ſagen, . .. aber iſt nicht fchließ- 
lich der Ausdruck ganz egal, wenn doch der Begriff derſelbe ift?), 
kurz, daß ſie von ihrer Arbeit lebt und daß ſie davon auch noch 
ihre Mutter und Sie unterhaͤlt (ach, zum Teufel, es kommt mir 
wieder fo vor, als ob Sie ein böfes Geſicht machen .. ), alſo 
da beſchloß ich, ihr mein ganzes Geld anzubieten (ſo an dreißig— 
tauſend Rubel konnte ich damals fluͤſſig machen), wenn ſie ein⸗ 
willigte, mit mir auf und davon zu gehen, beiſpielsweiſe hierher 
nach Petersburg. Natuͤrlich haͤtte ich ihr dann ewige Liebe, 
Gluͤckſeligkeit und ſo weiter und ſo weiter geſchworen. Koͤnnen 
Sie es glauben, ich war damals ſo von ihr bezaubert, — wenn 
Пе zu mir geſagt hätte: ‚Schneide deiner Frau den Hals ab oder 
vergifte ſie und heirate mich', ich haͤtte es ſofort getan! Die ganze 
Sache endete aber mit der Ihnen bereits bekannten Kataſtrophe, 
und Sie koͤnnen ſich denken, in welche Wut ich geriet, als ich 
erfuhr, daß Marfa Petrowna damals dieſen grundgemeinen 
Federfuchſer, den Luſchin, herangeholt hatte und beinahe eine 


—— — — — 


ö A r Su en an 


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4 


Sechſter Teil 735 


Heirat zuftande gebracht hätte, was im Grunde nichts anderes 
geweſen waͤre als das, was auch ich Ihrer Schweſter anbot. 
Nicht wahr? Nicht wahr? So iſt es doch? Ich merke, daß Sie 
mir jetzt mit jo großer Aufmerkſamkeit zuhören, . .. Sie inter: 
eſſanter junger Mann! 4 2 

Swidrigailow ſchlug ingrimmig mit der Fauſt auf den Tiſch. 
Sein Geſicht hatte ſich ſtark geroͤtet. Raſkolnikow ſah deutlich, 
daß das eine Glas oder die anderthalb Glaͤſer Champagner, die 
er ſo ſachte in kleinen Schluͤckchen geſchluͤrft hatte, auf ihn ſchon 
berauſchend gewirkt hatten, und beſchloß, von dieſer Gelegenheit 
Nutzen zu ziehen. Swidrigailow erſchien ihm ſehr verdaͤchtig. 

„Nach allem, was ich da eben von Ihnen gehoͤrt habe, bin ich 
der feſten Überzeugung, daß Sie auch bei der Reiſe hierher es 
auf meine Schweſter abgeſehen haben,“ ſagte er offen und un— 
verhohlen zu Swidrigailow, um ihn noch mehr zu reizen. 

„Ach, reden Sie doch nicht ſo etwas!“ erwiderte Swidrigailow, 
der plotzlich die Herrſchaft über ſich zuruͤckzugewinnen fchien. 
„Ich habe Ihnen ja ſchon geſagt, . .. und außerdem kann mich 
Ihre Schweſter nicht leiden.“ 

„Ja, das iſt auch meine Überzeugung, daß ſie Sie nicht leiden 
kann. Aber darum handelt es ſich jetzt nicht.“ 

„Alſo davon ſind Sie uͤberzeugt, daß ſie mich nicht leiden 
kann?“ Swidrigailow zwinkerte mit den Augen und laͤchelte 
ſpoͤttiſch. „Sie haben recht, ſie liebt mich nicht; aber uͤbernehmen 
Sie niemals eine Gewaͤhr fuͤr die Bewertung von Vorgaͤngen, 
die zwiſchen Mann und Frau oder zwiſchen einem Liebhaber 
und der Geliebten ſtattgefunden haben. Da iſt immer ſo ein 
Winkelchen, das der ganzen Welt verborgen bleibt und nur den 
beiden bekannt iſt. Koͤnnen Sie garantieren, daß Awdotja bei 
meinem Anblicke einen wirklichen Widerwillen empfunden hat?“ 

„Aus manchen Worten und Andeutungen in Ihrer Erzaͤhlung 


736 Schuld und Suͤhne 


entnehme ich, daß Sie auch jetzt noch Ihre Abſichten in betreff 
meiner Schweſter eifrig verfolgen, und ſelbſtverſtaͤndlich ſind es 
ganz gemeine Abſichten.“ 

„Wie? Mir ſollten ſolche Worte und Andeutungen entſchluͤpft 
ſein?“ fragte Swidrigailow hoͤchſt naiv, ohne das Beiwort, das 
ſeinen Abſichten beigelegt war, im geringſten zu beachten. 

„Auch jetzt in dieſem Augenblicke verraten Sie ſich. Warum 
find Sie denn zum Beiſpiel fo ängftlih? Warum erſchraken Sie 
jetzt eben auf einmal?“ 

„Ich bin aͤngſtlich und erſchrecke? Vor Ihnen erſchrecke ich? 
Eher haͤtten Sie Anlaß, vor mir Angſt zu haben, cher ami. Aber 
was rede ich nur für dummes Zeug zuſammen . . . Ich ſehe, ich 
bin betrunken; beinahe haͤtte ich wieder zuviel geſagt. Hol der 
Teufel den Wein! Heda, Waſſer!“ 

Er ergriff die Flaſche und ſchleuderte fie ohne Umſtaͤnde zum 
Fenſter hinaus. Philipp brachte Waſſer. 

„Das iſt alles Unſinn,“ ſagte Swidrigailow, waͤhrend er ein 
Handtuch anfeuchtete und es ſich gegen den Kopf druͤckte. „Ich 
kann Sie mit einem einzigen Worte widerlegen und Ihren 
ganzen Verdacht als nichtig erweiſen. Wiſſen Sie wohl auch, 
daß ich mich wieder verheirate? ? 

„Sie haben es mir ſchon fruͤher geſagt.“ 

„So? Nun, ich habs vergeſſen. Aber damals konnte ich es noch 
nicht mit voller Sicherheit ſagen; denn ich hatte die Braut noch 
nicht einmal geſehen. Damals war es nur erſt ein Plan. Na, 
aber jetzt habe ich bereits eine Braut, und die Sache iſt abgemacht; 
und wenn ich jetzt bloß nicht unaufſchiebbare Geſchaͤfte hätte, jo 
wuͤrde ich Sie jedenfalls fofort zu den Leuten hinfuͤhren, — denn 
ich moͤchte Sie dabei um Ihren Rat bitten. Ach, Donnerwetter! 
Ich habe ja nur noch zehn Minuten Zeit. Hier iſt meine Uhr; 
ſehen Sie ſelbſt. Aber ich will es Ihnen doch noch erzaͤhlen; denn 


Sechſter Teil 737 


es iſt ein huͤbſcher kleiner Spaß, meine Heirat meine ich, ſo in 
ihrer Art, ... aber wo wollen Sie denn hin? Wieder weg?“ 

„Nein, jetzt habe ich nicht mehr die Abſicht, von Ihnen weg— 
zugehen.“ 

„Überhaupt nicht? Na, wir wollen ſehen! Ich werde Sie hin— 
fuͤhren, ganz beſtimmt, und Ihnen meine Braut zeigen; nur nicht 
jetzt gleich. Jetzt muͤſſen wir bald gehen, Sie nach rechts, ich nach 
links. Kennen Sie dieſe Frau Roͤßlich? Die Frau Roͤßlich, bei 
der ich jetzt wohne, ja? Wiſſen Sie, das iſt dieſelbe, von der man 
erzaͤhlt, daß ſich bei ihr ein kleines Maͤdchen das Leben genommen 
hat, ins Waſſer gegangen iſt. Na, nun hoͤren Sie mal zu! Die 
hat mir alſo dieſe ganze Heiratsaffaͤre arrangiert. ‚Du langweilſt 
dich immer fo,‘ fagte fie zu mir; ‚zerftreue dich doch ein bißchen!“ 
Ich bin naͤmlich ein finſterer, truͤbſinniger Menſch. Sie denken, 


ich ſei luſtig? Nein, ich bin ein finſterer Menſch; ich tue nie- — 


mandem etwas zuleide, aber ich ſitze ſtill in einer Ecke und rede 
manchmal drei Tage lang kein Wort. Aber dieſe Roͤßlich iſt ein 
abgefeimtes Frauenzimmer, kann ich Ihnen ſagen; ſie ſpekuliert 
naͤmlich ſo: ich werde meiner Frau bald uͤberdruͤſſig werden, ſie 
im Stich laſſen und wegfahren; und meine Frau wird dann ihr 
anheimfallen, und ſie wird ſie in unſerer geſellſchaftlichen Sphaͤre, 
und auch noch in höheren, als Handelsobjekt benutzen. Da ift,‘ 
fagte fie zu mir, ‚fo ein gelaͤhmter Vater, ein verabſchiedeter Be: 
amter; der ſitzt ſchon ſeit mehr als zwei Jahren im Lehnſeſſel 
und kann ſeine Beine nicht bewegen. Und da iſt auch eine Mutter, 
fagte fie, ‚eine vernünftige Dame, ein gutes Mamachen. Sie 
haben einen Sohn, der irgendwo in der Provinz Beamter iſt; 
der unterſtuͤtzt aber ſeine Eltern nicht. Eine Tochter iſt ver— 
heiratet und laͤßt ſich bei ihnen nicht mehr blicken. Die haben 
aber ſogar noch zwei kleine Neffen auf dem Halſe (als ob ſie an 
ihrer eigenen Familie nicht Sorge genug haͤtten). Ihre juͤngſte 
ХГУ. п. 


738 Schuld und Suͤhne 


Tochter haben ſie aus dem Maͤdchengymnaſium fortnehmen 
muͤſſen, noch ehe fie es durchgemacht hatte; fie wird in einem 
Monat ſechzehn Jahre alt; alſo koͤnnen ihr die Eltern in einem 
Monat einen Mann geben.“ Und dieſer Mann ſollte ich ſein. 
Wir fuhren alſo hin; der Beſuch verlief hoͤchſt komiſch. Ich ſtellte 
mich vor: Gutsbeſitzer, Witwer, aus geachteter Familie, mit 
guten Konnexionen und huͤbſchem Vermoͤgen; — daß ich fuͤnfzig 
Jahre alt bin und das junge Maͤdchen noch nicht einmal ſechzehn, 
kam dabei weiter nicht in Betracht; wer nimmt daran Anſtoß? 
Na, das war doch alles ſehr verlockend, nicht wahr? Überaus 
verlockend, ha-ha! Sie haͤtten inich ſehen ſollen, wie ich mit dem 
Papa und der Mama ein angeregtes Geſpraͤch führte! Schon 
der bloße Anblick, wie ich da redete, war gar nicht zu bezahlen. 
Nun kam die Tochter ins Zimmer, machte einen Knicks; na, Sie 
koͤnnen ſichs vorſtellen: noch in kurzem Kleidchen, ein Knoͤſpchen, 
das ſich noch nicht geoͤffnet hat. Sie erroͤtete; ihr Geſichtchen 
war wie in Glut getaucht (der Zweck meines Beſuches war ihr 
natuͤrlich mitgeteilt worden). Ich weiß nicht, was Sie in bezug 
auf Frauengeſſchter für einen Geſchmack haben. Aber meines 
Erachtens verdienen dieſe ſech zehn Jahre, dieſe noch kindlichen 
Augen, dieſe Schuͤchternheit und dieſe Traͤnchen der Verſchaͤmt— 
heit weitaus den Vorzug vor einer reifen Schoͤnheit. Und dazu 
kommt noch, daß gerade dieſes Maͤdchen ein reizendes Perſoͤnchen 
iſt. Hellblondes Haar, zu kleinen Loͤckchen gekraͤuſelt (Laͤmmer— 
friſur!), volle, weiche Lippchen, kirſchrot, und die Fuͤßchen, — 
alles entzuͤckend! .. . Na, ich und die Kleine machten miteinander 
Bekanntſchaft; ich erklaͤrte, daß meine häuslichen Verhaͤltniſſe 
mir eine Beſchleunigung wuͤnſchenswert machten, und am naͤch— 
ſten Tage, das heißt vorgeſtern, erteilten uns die Eltern ihren 
Segen. Seitdem nehme ich meine Braut, ſowie ich hinkomme, 
ſofort auf den Schoß und laſſe fie nicht mehr herunter ... Na, 


Sechſter Teil 739 


— — 


lie wird blutrot; ich aber Füfje fie alle Augenblicke. Die Mama 
hat ihr natürlich eingepraͤgt: ‚Das iſt dein kuͤnftiger Mann, und 
das iſt ganz in der Ordnung'; kurz, es iſt eine wahre Luſt! Und 
vielleicht bin ich jetzt, wo ich ihr Braͤutigam bin, gluͤcklicher als 
ſpaͤter, wenn ich ihr Mann ſein werde. Hier habe ich, was man ſo 
nennt, la nature et la vérité. Ha⸗ha! Ich habe mich mit ihr 
ein paarmal unterhalten, — es iſt eine kluge kleine Krabbe; 
manchmal blickt ſie mich ſo verſtohlen an, das brennt ordentlich. 
Wiſſen Sie, ſie hat ein Geſichtchen im Genre der Raffaelſchen 
Madonna. Die Sixtiniſche Madonna hat doch ſo ein verzuͤcktes 
Geſicht, das Geſicht einer leidenden Schwaͤrmerin; iſt Ihnen das 
niemals aufgefallen? Na alſo, an die erinnert ſie. Gleich am 
anderen Tage nach unſerer Verlobung brachte ich ihr fuͤr andert— 
halbtauſend Rubel Geſchenke mit: einen Brillantſchmuck, einen 
aus Perlen, einen ſilbernen Toilettenkaſten — ſo groß! — mit 
allerlei Inhalt; das Geſichtchen der kleinen Madonna faͤrbte ſich 
ganz roſig. Ich ſetzte ſie geſtern auf meinen Schoß, aber wahr— 
ſcheinlich doch gar zu ungeniert; denn ſie wurde blutrot, und die 
Traͤnchen perlten ihr hervor. Aber ſie wollte es nicht zeigen; ſie 
gluͤhte uͤber das ganze Geſicht. Die andern waren alle fuͤr ein 
Weilchen aus dem Zimmer hinausgegangen, und ich war mit 
ihr ganz allein geblieben; da fiel ſie mir auf einmal um den Hals 
(zum erften Male ganz von ſelbſt), umſchlang mich mit ihren beiden 
Armchen, kuͤßte mich und ſchwur, ſie werde mir eine gehorſame, 
treue, gute Frau ſein; ſie wolle mich gluͤcklich machen; dazu werde 
ſie ihr ganzes Leben, jede Minute ihres Lebens verwenden zalles, 
alles wolle ſie dafuͤr zum Opfer bringen, und fuͤr all das wuͤnſche 
fie nur meine Achtung zu befißen; ‚weiter,‘ fagte fie, ‚brauche 
ich nichts, nichts, gar nichts, keine Geſchenke!' Das muͤſſen Sie 
doch ſelbſt ſagen: ein ſolches Geſtaͤndnis unter vier Augen an— 
zuhören von einem ſechzehnjaͤhrigen Engelchen im Tuͤllkleidchen, 


740 Schuld und Suͤhne 


mit krauſen Loͤckchen, mit der Nöte maͤdchenhafter Verſchaͤmtheit 
auf dem Geſichte und mit Traͤnen holder Schwaͤrmerei in den 
Augen, — das muͤſſen Sie doch ſelbſt ſagen, das hat einen großen 
Reiz! Nicht wahr, einen großen Reiz! Das iſt doch noch einmal 
etwas Wertvolles, nicht? Nicht wahr? Na, . .. na, hören Sie, 

.. wir wollen einmal zu meiner Braut hinfahren, ... nur 
nicht jetzt gleich!“ 

„Kurz geſagt, gerade dieſer ungeheuerliche Abſtand in den 
Jahren und in der geiſtigen Entwicklung erregt Ihre Sinn— 
lichkeit! Haben Sie denn wirklich vor, das Maͤdchen zu 
heiraten?“ 

„Aber warum denn nicht? Ganz beſtimmt! Jeder ſorgt fuͤr 
ſich, und am luſtigſten lebt derjenige, der ſich ſelbſt am beſten zu 
betruͤgen verſteht. Ha-ha! Aber Sie ſind ja wohl ſo ein ganz 
beſonderer Tugendbold? Haben Sie Nachſicht mit mir, Vaͤter— 
chen! Ich bin ein ſuͤndiger Menſch. He-he-he!“ 

„Sie haben aber doch für Katerina Iwanownas Kinder де: 
ſorgt. Indeſſen, Sie werden wohl auch dafuͤr Ihre Gruͤnde ge— 
habt haben; .. . ich verſtehe jetzt alles.“ 

„Kinder habe ich uͤberhaupt lieb; ich mag Kinder ſehr gern,“ 
erwiderte Swidrigailow lachend. „In dieſer Hinſicht kann ich 
Ihnen ſogar ein hoͤchſt intereſſantes, kleines Erlebnis mitteilen, 
das auch jetzt noch nicht ſeinen Abſchluß gefunden hat. Am erſten 
Tage nach meiner Ankunft beſuchte ich verſchiedene Sumpflokale; 
na, nach ſieben Jahren der Entbehrung ſtuͤrzte ich mich mit 
Wonne da hinein. Sie haben wohl ſchon gemerkt, daß ich es 
nicht eilig habe, mit meiner fruͤheren Sippſchaft, meinen ehe— 
maligen Freunden und Bekannten, wieder in Verkehr zu treten. 
Na, ich will ſuchen, moͤglichſt lange ohne ſie auszukommen. 
Wiſſen Sie, als ich bei Marfa Petrowna auf dem Lande wohnte, 
bin ich oft ganz krank geworden vor ſehnſuͤchtiger Erinnerung an 


Sechſter Teil 741 


— 


all dieſe geheimnisvollen Lokale und Lokaͤlchen, wo jemand, der 
darin Routine hat, gar manches zu finden vermag. Ein tolles 
Leben hier in Petersburg: das niedere Volk ſaͤuft; die gebildete 
Jugend uͤberlaͤßt ſich einem untaͤtigen Muͤßiggange, verpufft ihre 
Kraft in unerfuͤllbaren Traͤumereien und Schwaͤrmereien und 
verkruͤppelt geiſtig durch das ewige Theoretiſieren; die Juden, 
die hier von uͤberallher zuſammenſtroͤmen, ſcharren heimlich 
Geld zuſammen, und alles uͤbrige ſumpft. Gleich bei meiner An— 
kunft war es mir, als ob mir der wohlbekannte Geruch dieſer 
Stadt entgegenſchluͤge. Ich beſuchte zufaͤllig eine ſogenannte 
Tanzſoiree — es war ein ſchauderhaftes Sumpflokal (aber ſolche 
Lokale ſind mir je unſauberer um fo lieber); na, natürlich wurde 
ein Kankan getanzt, wie man ihn ſich nicht aͤrger denken kann, 
und wie er zu meiner Zeit uͤberhaupt noch gar nicht exiſtierte. 
Ja, darin kann man wirklich einen großen Fortſchritt konſtatieren. 
Da ſah ich auf einmal, wie ein etwa dreizehnjaͤhriges Maͤdchen, 
ſehr huͤbſch gekleidet, mit einem ganz extravaganten Kankan— 
taͤnzer tanzte; und einen andern von derſelben Sorte hatte ſie 
als Viſavis. An der Wand auf einem Stuhle ſaß ihre Mutter. 
Na, Sie koͤnnen ſich vorſtellen, was das fuͤr ein toller Kankan war! 
Das Maͤdchen wurde verlegen, erroͤtete, ſchließlich fuͤhlte ſie ſich 
gekraͤnkt und fing an zu weinen. Ihr Taͤnzer packte fie und Ве: 
gann ſie herumzuwirbeln und ihr gegenuͤber ſeine Kapriolen zu 
machen. Alles ringsumher lachte (ich habe meine Freude daran, 
wie ſich bei ſolchen Gelegenheiten Ihr Petersburger Publikum 
benimmt, auch wenn es nur ein Kankanpublikum iſt), alle lachten 
und ſchrien: ‚Bravo, fo iſts recht! Kinder gehören nicht hierher!“ 
Na, ich miſchte mich da weiter nicht ein; mich gings ja auch nichts 
an, ob das Amuͤſement der Leute uͤber dieſen Vorfall logiſch 
oder unlogiſch war. Ich hatte ſofort gemerkt, wie ich die Sache 
anzugreifen hatte, ſetzte mich zu der Mutter und begann damit, 


че ЛЕС, 
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742 Schuld und Sühne 


ich waͤre hier auch fremd, und wie unhoͤflich hier die Menſchen 
wären, und daß fie für Perſonen, die wirklich etwas Beſſeres 
wären, fo gar kein Verſtaͤndnis beſaͤßen und ihnen gar nicht die 
gebuͤhrende Achtung erwieſen; ich deutete an, daß ich viel Geld 
haͤtte, und machte den Vorſchlag, die Damen in meinem Wagen 
nach Haufe zu bringen. Das geſchah denn auch; ich wurde mit 
ihnen bekannt (ſie bewohnen ein kleines moͤbliertes Stuͤbchen 
und ſind erſt ganz kuͤrzlich in Petersburg angekommen). Die 
Mutter erklaͤrte mir, ſie und ihre Tochter koͤnnten ſich meine 
Bekanntſchaft nur zur groͤßten Ehre anrechnen. Ich erfuhr, daß 
ſie faſt mittellos ſind und die Reiſe hierher unternommen haben, 
um bei einer Behoͤrde etwas zu erwirken. Ich bot ihnen meine 
Dienſte und eine pefuniäre Beihilfe an. Ich hörte auch, daß fie 
nur irrtuͤmlicherweiſe zu der Tanzſoiree gegangen waren, in 
dem Glauben, es wuͤrde dort wirklich Tanzunterricht erteilt. Ich 
erklaͤrte mich meinerſeits bereit, zu der Ausbildung des jungen 
Maͤdchens behilflich zu ſein, indem ich ihr Unterricht im Fran— 
zoͤſiſchen und im Tanzen geben ließe. Das nahmen ſie mit 
tauſend Freuden an; fie halten es für eine Ehre, und ich verkehre 
noch immer bei ihnen ... Wenn Sie wollen, koͤnnen wir einmal 
hinfahren, nur nicht jetzt gleich.“ | 

„Hören Sie auf mit Ihren gemeinen, ſchaͤndlichen Geſchichten, 
Sie liederlicher, ſchaͤndlicher, ſinnlicher Menſch!“ 

„Sie find ein Schiller, ein ruſſiſcher Schiller! Ой va-t-elle la 
vertu se nicher? Wiſſen Sie was? Ich werde Ihnen abſichtlich 
noch mehr ſolche Geſchichten erzaͤhlen, bloß um Ihre Außerungen 
der Entruͤſtung zu hoͤren. Das iſt mir ein wahrer Genuß!“ 

„Zweifellos! Ich komme mir ja ſelbſt in dieſem Augenblicke 
lächerlich vor,” murmelte Raſkolnikow aͤrgerlich. 

Swidrigailow lachte aus vollem Halſe ; ſchließlich rief er Philipp, 
zahlte und ſtand auf. 


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Sechſter Teil 743 


„Na, aber was bin ich betrunken! Assez causé!“ ſagte er. „Es 
iſt mir ein wahrer Genuß geweſen!“ 

„Sehr begreiflich, daß es fuͤr Sie ein Genuß war!“ rief Raſ— 
kolnikow und erhob ſich gleichfalls. „Wie ſollte es denn auch fuͤr 
einen alten Wuͤſtling nicht ein Genuß ſein, von ſolchen Erlebniſſen 
zu erzaͤhlen, waͤhrend er ſich dabei ſchon wieder mit einem andern 
unnatuͤrlichen Vorhaben derſelben Art beſchaͤftigt, und noch dazu 
unter dieſen Umſtaͤnden und einem Menſchen, wie ich, gegen— 
uͤber. Das kitzelt!“ 

„Na, wenn dem ſo iſt,“ erwiderte Swidrigailow einigermaßen 
erſtaunt und ſah Raſkolnikow forſchend an, „wenn dem ſo iſt, 
ſo ſind Sie ſelbſt ein arger Frechling. Wenigſtens haben Sie 
im hoͤchſten Grade das Zeug dazu. Sie ſind ein ſtarker Theore— 
tiker, ein ſehr ſtarker, . . . na, und auch zum praktiſchen Handeln — 
find Sie ja ſehr wohl befähigt. Aber nun genug davon. Ich be- 
daure aufrichtig, daß ich mich nur ſo kurze Zeit habe mit Ihnen 
unterhalten koͤnnen; aber Sie laufen mir ja nicht davon ... 
Warten Sie nur! ...“ 

Swidrigailow verließ das Reſtaurant, und Raſkolnikow folgte 
ihm. Swidrigailow war nicht erheblich betrunken; der Cham— 
pagner war ihm nur fuͤr einen Augenblick zu Kopfe geſtiegen, 
und der Rauſch verflog mit jeder Minute mehr. Ein offenbar 
ſehr wichtiges Vorhaben beſchaͤftigte ihn ſtark, und er machte 
ein ſehr ernſtes Geſicht. Irgendwelche Erwartung regte ihn 
augenſcheinlich auf und verſetzte ihn in Unruhe. Raſkolnikow 
gegenuͤber hatte er in den letzten Minuten auf einmal ſein Be— 
nehmen geaͤndert und war von Minute zu Minute groͤber und 
fpöttifcher geworden. Raſkolnikow hatte das alles recht wohl Бег 
merkt und war nun gleichfalls in unruhiger Erregung. Swidri— 
gailow erſchien ihm ſehr verdaͤchtig; er beſchloß, ihm nachzugehen. 

Sie traten auf das Trottoir. 


74 Schuld und Suͤhne 


Sie gehen обо 5 rechts und ich nach links, oder meinet— 
wegen auch umgekehrt. Jedenfalls adieu, bon plaisir, auf froͤh— 
liches Wiederſehen!“ 

Damit ging er nach rechts in der Richtung auf den Heumarkt zu. 


V 


Raſkolnikow ging hinter ihm her. 

„Was ſoll denn das bedeuten?“ rief Swidrigailow, ſich um— 
wendend. „Ich habe Ihnen ja doch wohl geſagt ...“ 

„Das bedeutet, daß ich jetzt bei Ihnen bleiben werde.“ 

„Ba—as?" 

Beide blieben ftehen und blidten einander etwa eine Minute 
lang an, als ob einer den andern meſſen wollte. 

„Aus allem, was Sie in Ihrer halben Betrunkenheit geſagt 
haben,“ begann Raſkolnikow in ſcharfem Tone, „ſchließe ich mit 
Beſtimmtheit, daß Sie Ihre nichtswuͤrdigen Anſchlaͤge gegen 
meine Schweſter nicht nur nicht aufgegeben haben, ſondern ſich 
ſogar mehr als je vorher damit beſchaͤftigen. Ich weiß, daß meine 
Schweſter heute fruͤh einen Brief erhalten hat. Auch Ihr un— 
ruhiges Weſen jetzt waͤhrend unſeres ganzen Zuſammenſeins 
iſt mir verdaͤchtig. Sehr moͤglich allerdings, daß es ſich bei Ihnen 
um irgendeine andere Frauensperſon handelt, die Sie irgendwo 
en passant gefunden haben; aber dieſe Möglichkeit iſt für mich 
belanglos. Ich wuͤnſche mir perſoͤnlich Gewißheit zu ver— 
Ihaffen . 

Raſkolnikow waͤre wohl ſelbſt kaum imſtande geweſen ge: 
nauer anzugeben, was er eigentlich vorhatte und wovon er ſich 
perſoͤnlich Gewißheit zu verſchaffen wuͤnſchte. 

„Nun ſehen Sie mal! Wenn Sie es wuͤnſchen, werde ich gleich 
die Polizei rufen.“ 

„Tun Sie das!“ 


Sechſter Teil 745 


Wieder ſtanden fie einander eine Minute lang gegenüber. 
Schließlich veraͤnderte Swidrigailows Geſicht ſeinen Audsruck. 
Nachdem er ſich überzeugt hatte, daß Raſkolnikow ſich vor dieſer 
Drohung nicht fuͤrchtete, nahm er auf einmal eine ſehr heitere, 
freundſchaftliche Miene an. | 

„Заз find Sie für eine eigentuͤmlicher Menſch! Ich habe аб: 
ſichtlich mit Ihnen noch nicht über Ihre eigene Angelegenheit 
geſprochen, obwohl mich natuͤrlich die Neugier plagt. Das iſt ja 
eine ganz romanhafte Geſchichte. Ich wollte es eigentlich auf 
eine andere Gelegenheit verſchieben; aber Sie bekommen es ja 
wahrhaftig fertig, ſogar einen Toten in Harniſch zu bringen ... 
Na, dann kommen Sie mit; aber ich ſage Ihnen im voraus: ich 
gehe jetzt nur fuͤr einen Augenblick zu mir nach Hauſe, um mir 
Geld einzuſtecken; dann ſchließe ich die Wohnung zu, nehme mir 
eine Droſchke und fahre fuͤr den ganzen Abend nach den Inſeln. 
Alſo, was haben Sie davon, mich zu begleiten?“ 

„Zunaͤchſt will ich nach Ihrer Wohnung mitgehen, aber nicht 
zu Ihnen, ſondern zu Sofja Semjonowna, um mich zu ent— 
ſchuldigen, daß ich nicht an der Beerdigung ihrer Stiefmutter 
teilgenommen habe.“ 

„Ganz, wie es Ihnen beliebt; aber Sofja Semjonowna iſt nicht 
zu Hauſe. Sie iſt mit den drei Kindern zu einer Dame gegangen, 
zu einer vornehmen alten Dame, mit der ich noch von fruͤher 
her bekannt bin und die zum Patronat mehrerer Waiſenhaͤuſer 
gehoͤrt. Ich habe dieſe Dame ganz bezaubert, indem ich ihr fuͤr 
die drei Kleinen der verſtorbenen Katerina Iwanowna eine 
Summe Geldes brachte; außerdem habe ich auch noch den 
Waiſenanſtalten eine Zuwendung gemacht. Schließlich habe ich 
ihr noch Sofja Semjonownas Geſchichte erzählt, mit allen De: 
tails, ohne etwas zu verſchleiern. Das machte auf ſie ganz ge— 
waltigen Eindruck. Darum iſt nun auch Sofja Semjonowna 


746 Schuld und Suͤhne 


heute nach dem ... ſchen Hotel hinbeſtellt worden, wo meine 
Bekannte bei der geimtehr von der Sommerfriſche in die Stadt 
einſtweilen wohnt.“ 

„Schadet nichts; ich komme doch mit.“ 

„Wie es Ihnen beliebt; nur kann ich mich Ihnen heute nicht 
laͤnger widmen. Aber mich gehts ja nichts an, was Sie tun! 
Da ſind wir ſchon gleich zu Hauſe. Sagen Sie mal, ich bin uͤber— 
zeugt, Sie ſind eben deshalb ſo mißtrauiſch gegen mich, weil ich 
bisher [о zartfuͤhlend war, Sie nicht mit Fragen zu belaͤſtigen, .. 
Sie verſtehen mich wohl? Das war Ihnen gewiß gar zu auf— 
faͤllig; ich moͤchte darauf wetten, daß die Sache ſo zuſammenhaͤngt. 
Na, wenn man das davon hat, da ſoll einer nun noch zartfuͤhlend 
ſein!“ 

„Und an der Tuͤr horchen!“ 

„Aha, damit kommen Sie mir!“ erwiderte Swidrigailow 
lachend. „Ich haͤtte mich auch wirklich gewundert, wenn Sie 
unter den vorliegenden Umſtaͤnden dieſen Punkt unerwaͤhnt ge— 
laſſen haͤtten. Ha-ha! Ich habe zwar einiges verſtanden, was 
Sie damals dort fuͤr Faxen machten, und was Sie dem jungen 
Maͤdchen ſelbſt erzaͤhlten; aber wie war denn das Ganze eigent— 
lich? Ich bin vielleicht ein ganz ruͤckſtaͤndiger Menſch und kann 
nichts mehr ordentlich begreifen. Erklaͤren Sie mir die Sache, 
liebſter Freund, ich bitte Sie inſtaͤndigſt! Erleuchten Sie meinen 
Geiſt mit den neueſten Ideen!“ 

„Sie haben gar nichts hoͤren koͤnnen; was Sie da ſagen, iſt 
alles gelogen!“ 

„Ich rede ja gar nicht von dem faktiſchen Inhalte des Gehoͤrten 
(wiewohl ich uͤbrigens wirklich einiges gehoͤrt habe), ſondern bloß 
davon, daß Sie immer aͤchzen und ſeufzen und ſtoͤhnen! Der 
Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rege. Jetzt verlangen 
Sie nun ſogar, daß man nicht einmal mehr an der Tuͤr horchen 


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Sechſter Teil 747 


ſoll. Wenn Sie ſo ſtreng denken, dann gehen Sie doch zur Be— 
hoͤrde hin und erklaͤren Sie: ‚So und [о Ш es mir ergangen, ich 
habe das und das getan; es war mir in der Theorie ein kleiner 
Irrtum paſſiert.“ Wenn Sie aber der Anſicht ſind, an der Tuͤr 
duͤrfe man nicht horchen, wohl aber duͤrfe man alte Weiber mit 
irgendeinem Gegenſtande, der einem gerade in die Haͤnde kommt, 
zu ſeinem Vergnuͤgen totſchlagen, dann fahren Sie ſchleunigſt 
nach Amerika! Fliehen Sie, junger Mann! Vielleicht iſt noch 
Zeit dazu. Ich rate es Ihnen aufrichtig. Haben Sie etwa kein 
Geld zur Reiſe? Ich will Ihnen welches geben.“ 

„Das liegt durchaus nicht in meiner Abſicht!“ unterbrach ihn 
Raſkolnikow aͤrgerlich. 

„Ich verſtehe (uͤbrigens, machen Sie ſich keine Unbequemlich— 
keiten: Sie haben ja nicht noͤtig, viel zu reden, wenn Sie nicht 
moͤgen); ich kann mir auch denken, mit was fuͤr Fragen Sie ſich 
jetzt beſchaͤftigen: doch wohl mit moraliſchen, nicht wahr? Mit 
Fragen uͤber Rechte und Pflichten in der buͤrgerlichen und 
menſchlichen Geſellſchaft? Laſſen Sie doch dergleichen Über— 
legungen jetzt beiſeite; warum wollen Sie ſich damit jetzt noch 
abgeben? He⸗he! Etwa, weil Sie immer noch Buͤrger und 
Menſch geblieben ſind? Aber wenn das der Fall iſt, haͤtten Sie 
ſich nicht mit ſolchen Geſchichten befaſſen ſollen; von Sachen, mit 
denen man nicht Beſcheid weiß, muß man die Finger weglaſſen. 
Na, ſchießen Sie ſich doch tot; wie waͤrs? Oder haben Sie keine 
Luſt?“ 

„Es ſcheint, Sie wollen mich abſichtlich reizen, damit ich Sie 
jetzt nur verlaſſe ...“ : 

„Sie find ein wunderlicher Kauz; aber da find wir ja ſchon an 
Ort und Stelle; bitte ſchoͤn, ſteigen Sie die Treppe hinauf. Sehen 
Sie, hier iſt der Eingang zu Sofja Semjonownas Wohnung; 
ſehen Sie, es iſt niemand da! Sie glauben es nicht? Fragen 


748 Schuld und Suͤhne 


Sie doch bei Kapernaumows; da pflegt пе den Schluͤſſel abzu— 
geben. Da ift ja auch madame de Kapernaumow ſelbſt; da 
koͤnnen wir ja gleich fragen. Was? (Sie ſpricht etwas undeut— 
lich.) Ausgegangen ift fie? Wohin? Nun, haben Sie es jetzt де: 
hoͤrt? Sie iſt nicht zu Hauſe und kommt vielleicht erſt ſpaͤt am 
Abend zuruͤck. Na, dann kommen Sie jetzt zu mir mit herein. 
Sie wollten ja doch auch zu mir kommen, nicht wahr? Na, 
ſehen Sie, da ſind wir in meiner Wohnung. Frau Roͤßlich iſt 
nicht zu Hauſe. Dieſe Frau iſt fortwaͤhrend in geſchaͤftlicher 
Taͤtigkeit; aber ſie iſt eine gute Frau, kann ich Sie verſichern. 
. . . Vielleicht koͤnnte fie Ihnen nuͤtzlich ſein, wenn Sie ein bißchen 
vernuͤnftiger ſein wollten. Na, ſehen Sie, bitte: ich nehme aus 
dem Schreibtiſch dieſes fuͤnfprozentige Staatspapier (ſehen Sie 
mal, wieviel ich noch von derſelben Sorte habe), und dieſes 
wandert noch heute zum Bankier. Na, haben Sie geſehen? Ich 
habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der Schreibtiſch wird zu— 
geſchloſſen, die Wohnung wird zugeſchloſſen, und nun ſind wir 
wieder auf der Treppe. Na, wenns Ihnen recht iſt, nehmen wir 
uns eine Droſchke. Ich will ja nach den Inſeln. Haben Sie nicht 
Luſt, eine kleine Spazierfahrt zu machen? Hier, ich nehme dieſe 
Droſchke nach der Jelagin-Inſel. Wie? Sie wollen nicht? Alſo 
bleiben Sie Ihrer Abſicht doch nicht treu? Laſſen Sie uns doch 
fahren; warum denn nicht? Es ſcheint allerdings, als ob ein 
Regen kommt; aber das ſchadet nichts; wir laſſen das Verdeck 
in die Höhe ſchlagen ...“ 

Swidrigailow ſaß bereits im Wagen. Raſkolnikow kam zu der 
Anſicht, daß fein Verdacht, wenigſtens für den Augenblick, un: 
begruͤndet ſei. Ohne ein Wort zu antworten, drehte er ſich um 
und ging wieder zuruͤck in der Richtung nach dem Heumarkte zu. 
Haͤtte er ſich auch nur ein einziges Mal umgewendet, ſo wuͤrde 
er noch geſehen haben, wie Swidrigailow, nachdem er nicht 


mehr als hundert Schritte gefahren war, den Kutſcher ablohnte 
und auf das Trottoir ging. Gleich darauf bog Raſkolnikow um 
eine Ecke, ſo daß er nun auch gar nicht mehr die Moͤglichkeit hatte, 
den andern zu beobachten. Ein Gefuͤhl tiefen Ekels trieb ihn 
dazu, ſich von Swidrigailow zu entfernen. „Wie konnte ich auch 
nur einen Augenblick lang von dieſem rohen Boͤſewicht, von 
dieſem gemeinen Wuͤſtling und Schurken etwas erwarten!“ rief 
er unwillkuͤrlich. Freilich war dieſes ſein Urteil zu eilig und leicht— 
fertig. Es war in Swidrigailows ganzem Weſen etwas, was ihm 
wenigſtens eine gewiſſe Originalitaͤt, man koͤnnte faſt ſagen, 
etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber ſeine Schweſter be— 
traf, ſo verblieb Raſkolnikow doch mit Beſtimmtheit bei ſeiner 
Überzeugung, daß Swidrigailow nicht geſonnen war, ſie in Ruhe 
zu laſſen. Es wurde ihm aber jetzt gar zu ſchwer, ja, geradezu 
unertraͤglich, an all dies zu denken und es immer wieder zu 
uͤberlegen! 

Seiner Gewohnheit gemaͤß war er, ſobald er allein geblieben 
war, ſchon nach zwanzig Schritten tief in Gedanken verſunken. 
Als er auf die Bruͤcke trat, blieb er am Gelaͤnder ſtehen und blickte 


Sechſter Teil 749 


auf das Waſſer hinab. Unterdeſſen ſtand Awdotja Romanowna › 


in einiger Entfernung hinter ihm. 

Er war ihr am Anfang der Bruͤcke begegnet, war aber an ihr 
vorbeigegangen, ohne ſie zu beachten. Awdotja hatte ihn noch 
nie in dieſem Zuſtande auf der Straße geſehen und war uͤber— 
raſcht und erſchrocken. Sie blieb ſtehen und wußte nicht, ob ſie 
ihn anrufen ſollte oder nicht. Auf einmal bemerkte ſie den von 
der Richtung des Heumarktes her eilig herankommenden Swi— 
drigailow. 

Aber dieſer ſchien ſich bei feiner Annäherung großer Vorficht 
und Heimlichkeit zu befleißigen. Er betrat die Bruͤcke nicht, 
ſondern blieb ſeitwaͤrts auf dem Trottoir ſtehen und gab ſich die 


750 Schuld und Sühne 


groͤßte Mühe, von Raſkolnikow nicht geſehen zu werden. Aw— 
dotja hatte er ſchon laͤngſt bemerkt und machte ihr Zeichen. Wie 
es ihr ſchien, bat er fie mit feinen Zeichen, den Bruder nicht ап: 
zurufen, ſondern in Ruhe zu laſſen, und forderte ſie auf, zu ihm 
hinzukommen. 

Awdotja tat dies. Sachte ging ſie um ihren Bruder herum 
und trat zu Swidrigailow. 

„Laſſen Sie uns recht ſchnell gehen,“ fluͤſterte ihr dieſer zu. 
„Ich moͤchte nicht, daß Rodion Romanowitſch von unſerer Zu— 
ſammenkunft etwas merkt. Ich habe mit ihm nicht weit von hier 
in einem Reſtaurant geſeſſen, wo er mich ſelbſt aufgeſucht hatte, 
und habe mich nur mit Muͤhe von ihm wieder losgemacht. Er 
hat aus einer mir unbekannten Quelle von meinem Briefe an 
Sie Kenntnis erhalten und argwoͤhnt daher etwas. Sie haben 
ihm doch jedenfalls nichts davon geſagt? Aber wenn Sie es 
nicht getan haben, wer kann es ſonſt geweſen ſein?“ 

„Da ſind wir ja ſchon um die Ecke,“ unterbrach ihn Awdotja, 
„und mein Bruder kann uns nicht mehr ſehen. Ich erklaͤre Ihnen, 
daß ich nicht weiter mit Ihnen gehe. Sagen Sie mir alles hier; 
das laͤßt ſich alles auch auf der Straße ſagen.“ 

„Erſtens laͤßt ſich das ſchlechterdings nicht auf der Straße 
ſagen; zweitens muͤſſen Sie auch Sofja Semjonowna anhoͤren; 
drittens will ich Ihnen gewiſſe Beweismittel zeigen ... Na, und 
ſchließlich, wenn Sie nicht einwilligen, mit in meine Wohnung 
zu kommen, ſo lehne ich es ab, Ihnen irgendwelche Mitteilungen 
zu machen, und entferne mich ſofort. Dabei bitte ich Sie, nicht 
zu vergeſſen, daß das hoͤchſt intereſſante Geheimnis Ihres ge— 
liebten Bruders voͤllig in meinen Haͤnden iſt.“ 

Awdotja blieb unentſchloſſen ſtehen und ſchaute 1 
forſchend an. 

„Wovor fuͤrchten Sie ſich denn?“ bemerkte er ruhig. „Wir find 


Sechſter Teil 751 


hier in einer Stadt und nicht auf dem Lande. Und auf dem 
Lande haben Sie mir mehr Schaden zugefuͤgt als ich Ihnen; 
hier aber ...“ 

„Iſt Sofja Semjonowna von meinem Kommen benachrichtigt?“ 

„Nein, ich habe ihr keine Silbe davon geſagt und bin nicht ein— 
mal ganz ſicher, ob Пе auch jetzt zu Haufe iſt. Aber fie iſt wahr: 
ſcheinlich da. Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt; an einem 
ſolchen Tage pflegt man keine Beſuche zu machen. Vorlaͤufig 
will ich noch mit niemand uͤber dieſe Angelegenheit reden und 
bereue ſogar zum Teil, daß ich Ihnen davon Mitteilung gemacht 
habe. Die geringſte Unvorſichtigkeit kann hierbei die Wirkung 
einer Denunziation haben. Ich wohne gleich hier, in dieſem 
Hauſe; Sie ſehen, wir ſind ſchon da. Da ſteht der Hausknecht, 
der zu unſerem Haufe gehört; der kennt mich ganz genau; ſehen 
Sie, er gruͤßt; er ſieht, daß ich mit einer Dame komme, und hat 
ſich ſicherlich bereits Ihr Geſicht gemerkt; das kann Ihnen aber 
zuſtatten kommen, wenn Sie ſich nun einmal ſo ſehr fuͤrchten und 
mir Boͤſes zutrauen. Entſchuldigen Sie, daß ich ſo unzart rede. 
Ich ſelbſt wohne in einer moͤblierten Wohnung. Sofja Semjo— 
nowna wohnt neben mir Wand an Wand, gleichfalls in einem 
moͤblierten Zimmer. Die ganze Etage iſt in dieſer Weiſe ver— 
mietet. Alſo haben Sie keinen Anlaß, ſich wie ein kleines Kind 
zu aͤngſtigen. Oder bin ich wirklich ein ſo furchtbarer Menſch?“ 

Swidrigailows Geſicht verzog ſich zu einem freundlich uͤber— 
legenen Laͤcheln; aber in Wirklichkeit war ihm nicht nach Laͤcheln 
zumute. Das Herz pochte ihm heftig, und der Atem ſtockte ihm 
in der Bruſt. Er ſprach abſichtlich recht laut, um ſeine wachſende 
Aufregung zu verbergen; aber Awdotja nahm dieſe beſondere 
Aufregung gar nicht wahr; ſeine Bemerkung, daß ſie ſich wie 
ein kleines Kind vor ihm aͤngſtige und daß er ihr als ein furcht— 
barer Menſch erſcheine, hatte ſie gar zu ſehr gereizt. 


752 Schuld und Suͤhne 


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„Obwohl ich weiß, daß Sie ein ... ehrloſer Menſch ſind, fürchte 
ich mich dennoch nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran!“ ſagte ſie 
anſcheinend ruhig, aber ihr Geſicht war ſehr blaß. 

Swidrigailow blieb bei Sofjas Wohnung ſtehen. 

„Erlauben Sie, daß ich nachſehe, ob fie zu Haufe iſt ... Nein. 
Schade! Aber ich weiß, daß ſie wahrſcheinlich ſehr bald zuruͤck— 
kommen wird. Wenn ſie ausgegangen iſt, ſo kann ſie nur zu 
einer mir bekannten Dame gegangen ſein, um mit ihr uͤber die 
Waiſen Ruͤckſprache zu nehmen, die nun auch ihre Mutter ver— 
loren haben. Ich habe mich auch da der Sache angenommen und 
Fuͤrſorge getroffen. Sollte Sofja Semjonowna nicht binnen zehn 
Minuten zuruͤckgekehrt ſein, ſo werde ich ſie nachher zu Ihnen 
nach Ihrer Wohnung ſchicken; wenn Sie es wuͤnſchen, heute noch. 
Na, und da iſt auch meine Wohnung. Da ſind meine beiden 
Zimmer. Nebenan, durch dieſe Tuͤr verbunden, befindet ſich die 
Wohnung meiner Wirtin, einer Frau Roͤßlich. Nun ſehen Sie 
hierher, ich will Ihnen meine wichtigſten Beweismittel zeigen: 
aus meinem Schlafzimmer fuͤhrt dieſe Tuͤr hier nach zwei ganz 
leeren Stuben, die zu vermieten find. Hier find ſie, . .. dies 
muͤſſen Sie ſich mit beſonderer Aufmerkſamkeit anſehen ...“ 

Swidrigailow bewohnte zwei ziemlich geraͤumige moͤblierte 
Zimmer. Awdotja blickte mißtrauiſch um ſich, bemerkte aber 
nichts Auffaͤlliges, weder in der Ausſtattung noch in der Lage 
der Zimmer, wiewohl ſie allerdings etwas haͤtte bemerken 
koͤnnen, zum Beiſpiel daß Swidrigailows Wohnung zwiſchen 
zwei anderen Wohnungen lag, von denen die eine unbewohnt, 
die andere ſo gut wie unbewohnt war. Sie hatte ihren Eingang 
nicht unmittelbar vom Korridor aus, ſondern durch zwei faſt 
leere Zimmer der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Swi⸗ 
drigailow, nachdem er eine verſchloſſene Tuͤr aufgeſchloſſen hatte, 
dem jungen Maͤdchen eine gleichfalls leere Wohnung, die zu 


da fie nicht begriff, warum er fie aufforderte, das anzuſehen; 
aber Swidrigailow beeilte ſich, ihr dies zu erflären. 

„Hier, ſehen Sie einmal dorthin, in dieſes zweite große Zimmer. 
Beachten Sie die Tuͤr dort; ſie iſt verſchloſſen. Neben der Tuͤr 
ſteht ein Stuhl, der einzige Stuhl in beiden Zimmern. Den habe 
ich aus meiner Wohnung dorthin gebracht, um es beim Zu— 
hoͤren bequemer zu haben. Dort gleich hinter der Tuͤr ſteht Sofja 
Semjonownas Tiſch; da ſaß ſie und ſprach mit Rodion Romano— 
witſch. Ich aber ſaß hier auf dem Stuhle und horchte, zwei 
Abende hintereinander, jedesmal etwa zwei Stunden lang, — 
da konnte ich doch gewiß etwas erfahren, meinen Sie nicht?“ 

„Sie horchten?“ 

„Ja, allerdings; aber nun kommen Sie in meine Wohnung; 
hier iſt nicht einmal eine Sitzgelegenheit.“ 

Er führte Awdotja Romanowna in fein erſtes Zimmer zurüd, 
das ihm als Wohnzimmer diente, und bot ihr einen Stuhl an. 
Er ſelbſt ſetzte ſich an das andere Ende des Tiſches, gegen ſieben 
Fuß von ihr entfernt; aber in ſeinen Augen leuchtete ſchon eben 
jenes Feuer, vor dem ſie fruͤher einmal ſo heftig erſchrocken war. 
Sie fuhr zuſammen und ſah ſich noch einmal mißtrauiſch um. Sie 
tat das ganz unwillkuͤrlich; ihr Mißtrauen zu zeigen, lag offenbar 
nicht in ihrer Abſicht. Aber die einſame Lage von Swidrigailows 
Wohnung war ihr nun doch ſchließlich aufgefallen. Sie wollte 
ihn ſchon fragen, ob nicht wenigſtens ſeine Wirtin zu Hauſe ſei, 
unterließ es aber... . aus Stolz. Außerdem quälte ein anderes, 
unvergleichlich viel groͤßeres Leid als die Furcht fuͤr ihre eigene 
Perſon ihr Herz. Sie duldete unertraͤgliche Qualen. 

„Da iſt Ihr Brief,“ begann ſie und legte den Brief auf den 
Tiſch. „Iſt denn das, was Sie da ſchreiben, uͤberhaupt moͤglich? 
Sie deuten auf ein Verbrechen hin, das mein Bruder begangen 
XIX. . 


754 Schuld und Suͤhne 


habe. Sie deuten zu beſtimmt darauf hin; wagen Sie nicht etwa, 
ſich jetzt herauszureden. Schon vor Ihrer Mitteilung habe ich 
von dieſem dummen Gerede gehoͤrt; aber ich glaube kein Wort 
davon. Es iſt eine ſchaͤndliche, laͤcherliche Verdaͤchtigung; ich weiß, 
wie und woher fie entſtanden Ш. Beweiſe koͤnnen Sie nicht 
haben; Sie machten ſich anheiſchig, mir Beweiſe zu liefern: nun, 
ſo reden Sie denn! Aber ich ſage Ihnen im voraus, daß ich 
Ihnen nicht glauben werde. Ich werde Ihnen nicht glauben!“ 

Awdotja ſagte das ſchnell und haſtig, und für einen Augenblick 
ſtieg ihr das Blut ins Geſicht. 

„Wenn Sie es fuͤr ſo ganz ausgeſchloſſen gehalten haͤtten, daß 
Sie es glauben koͤnnten, fo hätten Sie es doch gewiß nicht ris— 
kiert, allein zu mir zu kommen. Warum ſind Sie denn ge— 
kommen? Nur aus Neugier?“ 

„Foltern Sie mich nicht, reden Sie, reden Sie!“ 

„Das muß man ſagen: Sie ſind ein tapferes Maͤdchen. Ich 
habe wahrhaftig gedacht, Sie wuͤrden Herrn Raſumichin bitten, 
Sie hierher zu begleiten. Aber er war auf der Straße weder bei 
Ihnen noch in der Naͤhe; ich habe gut Umſchau gehalten. Das 
iſt kuͤhn von Ihnen; Sie wollten offenbar Rodion Romano: 
witſch ſchonen. Ja, Sie find in jeder Hinſicht ein himmliſches 
Weſen ... Was nun Ihren Bruder anlangt, ja, was ſoll ich 
Ihnen da ſagen? Sie haben ihn ja dieſen Augenblick ſelbſt ge⸗ 
ſehen. Wie ſieht er nur aus!“ 

„Das iſt doch wohl nicht das einzige, worauf ſich Ihre Be⸗ 
hauptung gruͤndet?“ 

„Gewiß nicht, vielmehr auf ſeine eigenen Worte. Zwei Abende 
nacheinander iſt er zu Sofja Semjonowna hierher gekommen. 
Ich habe Ihnen gezeigt, wo ſie geſeſſen haben. Er hat ihr eine 
vollſtaͤndige Beichte abgelegt. Er iſt ein Moͤrder. Er hat eine 
alte Beamtenwitwe, eine Wucherin, bei der auch er einige 


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Sachen verſetzt hatte, ermordet; desgleichen hat er deren Schwe— 
ſter ermordet, eine Haͤndlerin namens Liſaweta, die unvermutet 
bei der Mordtat dazukam. Er hat ſie beide mit einem Beile, das 
er mitgebracht hatte, erſchlagen. Er hat ſie ermordet, um ſie zu 
berauben, und er hat auch geraubt; er hat Geld und einige Wert: 
fachen weggenommen . . . Er ſelbſt hat das alles Wort für Wort 
Sofja Semjonowna erzaͤhlt; ſie iſt die einzige, die von dem Ge— 
heimniſſe weiß. Aber ſie iſt bei dem Morde weder durch Rat noch 
durch Tat beteiligt geweſen, erfchraf vielmehr über die Mit: 
teilung gerade ebenſo wie Sie jetzt. Sie koͤnnen beruhigt ſein: 
ſie wird ihn nicht verraten.“ 

„Es iſt nicht moͤglich!“ murmelte Awdotja mit leichenblaſſen 
Lippen, nach Atem ringend. „Es iſt nicht moͤglich. Er hatte ja 
dazu nicht den geringſten Grund, gar keinen Anlaß . . . Es iſt 
eine Luͤge, eine Luͤge!“ 

„Er wollte rauben, das iſt der ganze Grund. Er hat Geld und 
Wertſachen genommen. Allerdings hat er, nach ſeiner eigenen 
Ausſage, weder von dem Gelde noch von den Wertſachen Ge— 
brauch gemacht, ſondern ſie irgendwo unter einen Stein gelegt, 
wo ſie noch liegen. Aber das hat er eben nur deshalb getan, weil 
er ſich nicht getraute, davon Gebrauch zu machen.“ 

„Aber iſt es denn denkbar, daß er ſollte imſtande geweſen ſein 
zu ſtehlen und zu rauben? Daß ihm ſo etwas auch nur haͤtte in 
den Sinn kommen koͤnnen?“ rief Awdotja und ſprang von ihrem 
Stuhle auf. „Sie kennen ihn ja doch, Sie haben ihn geſehen; 
kann denn ein Menſch wie er ein Dieb ſein?“ 

Ihr Ton klang, als ob ſie Swidrigailow anflehte; all ihre Angſt 
hatte ſie vergeſſen. 

„Da gibt es tauſend und abertauſend verſchiedene Arten und 
Schattierungen, Awdotja Romanowna. Der gewoͤhnliche Dieb 
ſtiehlt mit dem Bewußtſein, daß er ein Schuft iſt; ich habe aber 


Sechſter Teil a 755 


756 Schuld und Sühne 


auch ſchon einmal gehoͤrt, daß ein Mann beſſeren Standes die 
Poſt überfallen und ausgepluͤndert hatte; wer weiß, ob der nicht 
tatfächlich der Anſicht war, etwas ganz Anſtaͤndiges getan zu 
haben! Selbſtverſtaͤndlich hätte auch ich es ebenſowenig wie Sie 
geglaubt, wenn ich es von irgendeinem anderen gehoͤrt haͤtte. 
Aber meinen eigenen Ohren mußte ich glauben. Er hat Sofja 
Semjonowna auch alle ſeine Beweggruͤnde auseinandergeſetzt; 
die wollte zuerſt ſogar ihren Ohren nicht trauen; aber ihren 
Augen, ihren eigenen Augen mußte ſie ſchließlich doch Glauben 
ſchenken. Er ſelbſt hat es ihr ja alles perſoͤnlich erzaͤhlt.“ 

„Was waren das шт... Beweggründe?” 

„Das Ш eine lange Geſchichte, Awdotja Romanowna. Es liegt 
dabei (ja, wie ſoll ich Ihnen das nur klarmachen 2) eine eigen: 
artige Theorie zugrunde, dieſelbe Anſchauung, nach der auch ich 
zum Beiſpiel finde, daß eine einzige Übeltat erlaubt iſt, wenn 
der Hauptzweck ein guter iſt. Eine einzige uͤble Tat gegenuͤber 
hundert guten! Auch iſt es ſicherlich fuͤr einen jungen Mann von 
hervorragender Begabung und maßloſem Ehrgeiz ein em— 
poͤrender Gedanke, ſich ſagen zu muͤſſen, daß feine ganze Lauf: 
bahn, all ſeine kuͤnftigen Lebensziele ſich anders geſtalten wuͤrden, 
wenn er nur dreitauſend Rubel hätte, daß er aber dieſe drei⸗ 
tauſend Rubel eben nicht hat. Nehmen Sie als anſtachelnde 
Momente noch hinzu: den Hunger, die enge Wohnung, die deut— 
liche Erkenntnis der Klaͤglichkeit ſeiner eigenen ſozialen Stellung 
und im Verein damit der Stellung ſeiner Schweſter und ſeiner 
Mutter. Die Haupturſachen aber waren Eitelkeit und Stolz, 
vielleicht indeſſen, Gott mags wiſſen, neben beſſeren Motiven. 
Ich breche nicht den Stab uͤber ihn; bitte, glauben Sie das nicht; 
das ſteht mir auch gar nicht zu. Es ſpielte dabei auch eine be⸗ 
ſondere Theorie eine Rolle (eine Theorie, die nach etwas klingt), 
nach der die Menſchen in zwei Gruppen eingeteilt werden, ſehen 


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Sechſter Teil 757 


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Sie wohl, in Material und in beſondere Menſchen, das heißt 
ſolche Menſchen, fuͤr die wegen ihrer hohen geiſtigen Stellung 
die Geſetze nicht geſchrieben find, ſondern die vielmehr ſelbſt für 
die übrigen Menſchen, für dieſes Material, für den Kehricht, 
Geſetzgeber find. Man muß fagen: eine ganz leidliche Theorie, 
une théorie comme une autre. Ganz gewaltig hat ihm Napoleon 
imponiert, das heißt eigentlich hat ihm das imponiert, daß ſo 
viele geniale Menſchen kein Bedenken trugen, eine einzelne Übel— 
tat zu begehen, ſondern, ohne erſt lange zu reflektieren, uͤber die 
Schranken hinwegſchritten. Er ſcheint ſich eingebildet zu haben, 
daß auch er ein genialer Menſch ſei; ich meine, er iſt eine Zeit— 
lang davon uͤberzeugt geweſen. Sehr niederdruͤckend war ihm 
und ЦЕ ihm auch noch der Gedanke, daß er zwar verſtanden habe 
eine Theorie aufzuſtellen, aber nicht imſtande geweſen ſei uͤber 
die Schranken ohne lange Reflexionen hinwegzuſchreiten, und 
daß er ſomit kein genialer Menſch ſei. Na, und das iſt fuͤr einen 
ehrgeizigen jungen Mann demuͤtigend, namentlich in unſerem 
Zeitalter ...“ 

„Und ſollte er keine Gewiſſensbiſſe gehabt haben? Sie ſprechen 
ihm alſo alles moraliſche Gefuͤhl ab? So ein Menſch iſt er doch 
nicht!“ 

„Ach, Awdotja Romanowna, dieſe Begriffe ſind jetzt bei uns 
arg in Verwirrung geraten; uͤbrigens, eine beſondere Ordnung 
hat wohl nie darin geherrſcht. Die Ruſſen haben uͤberhaupt eine 
ſchrankenloſe Natur, Awdotja Romanowna, ganz wie ihr Land, 
und neigen außerordentlich ſtark zum Phantaſtiſchen, Ordnungs- 
loſen; aber eine ſolche Neigung zur Schrankenloſigkeit iſt, wenn 
ſich nicht beſondere Genialitaͤt damit vereint, ein Ungluͤck. Wiſſen 
Sie wohl noch, wie oft wir beide in ebendieſem Sinne uͤber 
ebendieſes Thema geſprochen haben, wenn wir nach dem Abend— 
eſſen im Garten auf der Terraſſe ſaßen? Gerade dieſe Neigung 


758 Schuld und Suͤhne 


zur Schrankenloſigkeit machten Sie mir damals noch zum Vor— 
wurf. Wer weiß, vielleicht haben wir manchmal gerade in der— 
ſelben Zeit davon geſprochen, wo er hier lag und ſich ſeinen Plan 
ausdachte. Bei uns in der gebildeten Geſellſchaft gibt es ja 
eigentlich keine durch das Herkommen geheiligten Grundſaͤtze, 
Awdotja Romanownaz es muͤßte denn fein, daß ſich jemand der: 
gleichen aus Buͤchern zuſammenſtellt oder aus Chroniken aus— 
graͤbt. Aber das find doch тей nur Gelehrte, und, wiſſen Sie, 
das ſind in ihrer Art rechte Schlafmuͤtzen, ſo daß es fuͤr einen 
Mann von Welt unpaffend waͤre, es ihnen nachzutun. Übrigens 
kennen Sie ja meine Anſchauungen uͤber dieſe ganze Frage; ich 
ſtehe entſchieden auf dem Standpunkte, niemand zu verurteilen. 
Ich ſelbſt bin ein Nichtstuer und halte an dieſem Lebensprinzip 
feſt. Wir haben uns daruͤber ja ſchon wiederholentlich unter— 
halten. Ich hatte ſogar das Gluͤck, durch meine Anſichten Ihr 
Intereſſe zu erregen ... Aber Sie find ja fo blaß, Awdotja 
Romanowna!“ 

„Ich kenne dieſe Theorie meines Bruders. Ich habe in einer 
Zeitſchrift eine Abhandlung von ihm geleſen uͤber Menſchen, 
denen alles erlaubt Ш... Raſumichin hat fie mir gebracht.“ 

„Raſumichin? Eine Abhandlung Ihres Bruders? In einer 
Zeitſchrift? Hat er eine ſolche Abhandlung geſchrieben? Das 
war mir nicht bekannt. Die wird gewiß ſehr intereſſant ſein! 
Aber wo wollen Sie denn hin, Awdotja Romanowna?“ 

„Ich will mit Sofja Semjonowna ſprechen,“ antwortete Aw⸗ 
dotja mit ſchwacher Stimme. „Wie komme ich zu ihr? Sie iſt 
vielleicht ſchon zuruͤckgekehrt; ich will unter allen Umſtaͤnden ſo 
ſchnell wie möglich mit ihr ſprechen. Mag fie ...“ 

Awdotja Romanowna war nicht imſtande den Satz zu Ende 
zu ſprechen; es verſagte ihr geradezu der Atem. 

„Sofja Semjonowna wird erſt ſpaͤt am Abend zuruͤckkommen. 


Sechſter Teil 759 


Ich muß das annehmen; es war zu erwarten, daß ſie ſehr bald 
zuruͤckkommen wuͤrde oder, wenn nicht, erſt ſehr ſpaͤt.“ 

„Ah, du luͤgſt alſo! Ich ſehe, . .. du luͤgſt, . .. du Бай alles 
gelogen! .. . Ich glaube dir nicht! Nein! Nein!“ rief Awdotja 
in wahrer Wut und ganz außer ſich. 

бай ohnmaͤchtig ſank fie auf einen Stuhl nieder, den ihr бил: 
drigailow ſchnell hinruͤckte. 

„Was iſt Ihnen, Awdotja Romanowna? Kommen Sie doch 
zu ſich! Hier iſt Waſſer! Trinken Sie einen Schluck!“ 

Er beſpritzte ſie mit Waſſer. Awdotja zuckte zuſammen und 
kam wieder zum Bewußtſein. 

„Das hat ſtark gewirkt!“ murmelte Swidrigailow mit finſterem 
Geſichte vor ſich hin. „Beruhigen Sie ſich, Awdotja Romanowna! 
Denken Sie daran, daß er Freunde hat. Wir wollen ihn ſchon 
retten, ihm durchhelfen. Wenn Sie es wuͤnſchen, bringe ich ihn 
ins Ausland. Ich habe Geld; in laͤngſtens drei Tagen beſchaffe 
ich ihm einen Paß. Und was den Mord betrifft, den er begangen 
hat, ſo wird er in ſeinem Leben noch viele gute Taten tun, ſo 
daß das alles wieder wettgemacht wird; daruͤber moͤgen Sie 
ruhig ſein. Er kann noch ein großer Mann werden. Nun, wie 
geht es Ihnen jetzt? Wie fuͤhlen Sie ſich?“ 

„Schlechter Menſch! Sie hoͤhnen noch! Laſſen Sie mich ...“ 

„Wohin? Wo wollen Sie denn hin?“ 

„Zu ihm. Wo iſt er? Sie wiſſen es? Wie kommt es, daß dieſe 
Tuͤr verſchloſſen iſt? Wir ſind doch durch dieſe Tuͤr hereinge— 
kommen, und jetzt iſt ſie verſchloſſen. Ich habe gar nicht gemerkt, 
daß Sie ſie zuſchloſſen; wann haben Sie das getan?“ 

„Ich mußte doch verhuͤten, daß das, was wir hier beſpraͤchen, 
von anderen Leuten gehoͤrt wuͤrde. Ich hoͤhne ganz und gar 
nicht; aber ich bin es allerdings uͤberdruͤſſig, in dem bisherigen 
Tone weiterzureden. Wohin wollen Sie in dieſer Verfaſſung 


760 Schuld und Suͤhne 


gehen? Oder wollen Sie bewirken, daß ſeine Schuld bekannt 
wird? Sie werden ihn zur Raſerei bringen, und er wird ſich 
ſelbſt angeben. Ich muß Ihnen ſagen, daß man ihn bereits ver— 
folgt, ihm auf der Faͤhrte iſt. Sie werden ihn bloß verraten. 
Warten Sie doch: ich habe ihn eben geſehen und mit ihm де 
ſprochen; er iſt noch zu retten. Warten Sie doch, ſetzen Sie ſich, 
wir wollen es zuſammen uͤberlegen. Darum habe ich Sie ja eben 
gebeten, zu mir zu kommen, um darüber mit Ihnen allein Ruͤck⸗ 
ſprache zu nehmen und alles ordentlich zu uͤberlegen. Aber ſo 
ſetzen Sie ſich doch hin!“ 

„Auf welche Weiſe koͤnnen Sie ihn retten? Iſt denn noch 
Rettung moͤglich?“ 

Awdotja ſetzte ſich. Swidrigailow ſetzte ſich neben fie. 

„Das alles wird von Ihnen abhaͤngen, von Ihnen, von Ihnen 
allein,“ begann er mit funkelnden Augen, faſt im Fluͤſtertone; 
er war fo erregt und verwirrt, daß er manche Worte nicht deut: 
lich herausbekam. 

Awdotja wich erſchrocken weiter von ihm zuruͤck. Auch er zitterte 
am ganzen Koͤrper. 

„Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er iſt gerettet! 
Ich .. . ich werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich 
werde ihn ſofort wegbringen; ich ſelbſt werde ihm einen Paß 
beſorgen, oder zwei Paͤſſe, einen fuͤr ihn, einen fuͤr mich. Ich 
habe Freunde, ich ſtehe mit geſchaͤftskundigen Leuten in Зе: 
ziehung ... Wollen Sie? Auch fuͤr Sie will ich einen Paß 
nehmen, . .. auch für Ihre Mutter ... Wozu brauchen Sie 
dieſen Raſumichin? Ich liebe Sie auch, ... ich liebe Sie grenzen⸗ 
los. Laſſen Sie mich den Saum Ihres Kleides kuͤſſen, ich bitte 
Sie darum! Ich bitte Sie darum! Ich kann es nicht mehr ап: 
hören, wie es raſchelt. Sagen Sie mir: ‚tue das!“ und ich tue 
es! Alles will ich tun. Ich will das Unmoͤgliche vollbringen. 


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Sechſter Teil 761 


Woran Sie glauben, daran will auch ich glauben. Ich will alles, 
alles tun! Sehen Sie mich nicht ſo an, ſehen Sie mich nicht ſo 
an! Sie töten mich mit dieſem Blicke ...“ 

Er redete wie im Fieber. Es war, als waͤre er ploͤtzlich trunken 
geworden. Awdotja ſprang auf und ſtuͤrzte zur Tuͤr hin. 

„Aufmachen! Aufmachen!“ rief ſie durch die Tuͤre, um jemand 
herbeizurufen, und rüttelte mit den Händen an der Tuͤr. „Auf: 
machen! Iſt niemand da?“ 

Swidrigailow kam wieder zu ſich und ſtand auf. Ein boshaftes, 
hoͤhniſches Laͤcheln kam langſam auf ſeinen immer noch zittern— 
den Lippen zum Ausdruck; dann ſagte er leiſe und in abge— 
brochenen Saͤtzen: 

„Da iſt niemand zu Hauſe. Die Wirtin iſt ausgegangen, und 
es iſt vergebliche Muͤhe, ſo zu ſchreien. Sie regen ſich unnuͤtz auf.“ 

„Wo iſt der Schluͤſſel? Offne ſofort die Tuͤr, ſofort, du ge— 
meiner Menſch!“ 

„Den Schluͤſſel habe ich verloren und kann ihn nicht wieder— 
finden.“ 

„Ah! Das Ш Gewalt!“ rief Awdotja, die leichenblaß geworden 
war, und ſtuͤrzte nach einer Ecke hin, wo ſie ſchleunigſt hinter 
einem dort ſtehenden Tiſchchen Deckung ſuchte. 

Sie ſchrie nicht, ſondern heftete ihren Blick feſt auf ihren 
Peiniger und verfolgte ſcharf jede ſeiner Bewegungen. Auch 
Swidrigailow ruͤhrte ſich nicht von feinem Platze und ſtand ihr 
gegenuͤber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte wieder die 
Herrſchaft uͤber ſich gewonnen, wenigſtens aͤußerlich. Aber ſein 
Geſicht war bleich wie vorher, und das hoͤhniſche Laͤcheln war 
nicht verſchwunden. 

„Sie fagten ſoeben ‚Gewalt‘, Awdotja Romanowna. Wenn 
ich wirklich Gewalt beabſichtigen ſollte, ſo koͤnnen Sie ſich wohl 
ſelbſt ſagen, daß ich auch die erforderlichen Maßregeln getroffen 


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762 Schuld und Suͤhne 


baben werde. Sofja Semjonowna iſt nicht zu Hauſe; bis zu 
Kapernaumoms iſt es ſehr weit; da liegen drei leere, verſchloſſene 
Zimmer dazwiſchen. Schließlich bin ich mindeſtens noch einmal 
fo ſtark wie Sie, und außerdem habe ich nichts zu befürchten; 
denn Sie koͤnnen auch nachher keine Klage gegen mich anſtrengen: 
Sie werden doch wahrhaftig nicht Ihren Bruder verraten wollen? 
Auch wird Ihnen nicht einmal jemand glauben: weshalb ſollte 
denn ein junges Maͤdchen allein zu einem alleinſtehenden Manne 
in die Wohnung gegangen ſein? Alſo ſelbſt wenn Sie Ihren 
Bruder preisgaͤben, wuͤrden Sie doch nichts gegen mich be— 
weiſen koͤnnen: eine Vergewaltigung iſt ſehr ſchwer zu beweiſen, 
Awdotja Romanowna.“ 

„Schurke!“ fluͤſterte Awdotja entrüftet. 

„Nennen Sie mich, wie Sie wollen; aber bitte, beachten Sie, 
daß ich von Gewalt nur im Sinne einer bloßen Annahme ge— 
ſprochen habe. Nach meiner perſoͤnlichen Überzeugung haben 
Sie vollkommen recht: eine Vergewaltigung iſt eine Gemeinheit. 
Ich habe von der aͤußeren Moͤglichkeit einer Gewalttat auch nur 
deshalb geſprochen, um Ihnen bemerklich zu machen, daß Sie 
ſich in Ihrem Gewiſſen nicht beſchwert zu fuͤhlen brauchen, wenn 
Sie... wenn Sie ſich entſchließen, Ihren Bruder freiwillig in 
der von mir vorgeſchlagenen Weiſe zu retten. Sie haben ſich 
dann einfach den Umſtaͤnden gefuͤgt, na, meinetwegen auch der 
Gewalt, wenn dieſes Wort nun einmal unentbehrlich iſt. Über: 
legen Sie es ſich ein Weilchen: das Schickſal Ihres Bruders und 
Ihrer Mutter liegt in Ihren Haͤnden. Ich aber werde Ihr Sklave 
ſein ... mein ganzes Leben lang .. . Ich will hier warten.“ 

Swidrigailow ſetzte ſich auf das Sofa, etwa acht Schritte von Aw: 
dotja entfernt. Fuͤr ſie beſtand nicht der geringſte Zweifel an feiner 
unerſchuͤtterlichen Entſchloſſenheit. Dazu kannte ſie ihn zu gut. 

Ploͤtzlich zog ſie einen Revolver aus der Taſche, ſpannte den 


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| Sechſter Teil 763 


Hahn und legte die Hand mit dem Revolver auf das Tiſchchen. 
Swidrigailow ſprang von ſeinem Platze auf. 

„Aha! Ei, ſehen Sie mal!“ rief er erſtaunt mit boshaftem 
Laͤcheln. „Nun, das gibt ja der Sache allerdings eine ganz andere 
Wendung! Sie erleichtern mir dadurch mein Vorhaben außer— 
ordentlich, Awdotja Romanowna! Aber wo haben Sie denn den 
Revolver her? Etwa von Herrn Raſumichin? Nein doch! Das 
iſt ja mein Revolver! Ein alter Bekannter! Und ich habe da— 
mals fo danach geſucht! ... Der Unterricht im Schießen, den ich 
auf dem Lande Ihnen zu erteilen die Ehre hatte, iſt alſo doch 
nicht unnuͤtz geweſen!“ 

„Der Revolver gehörte nicht dir, ſondern Marfa Petrowna, 
die du ermordet haſt, du Boͤſewicht! Du hatteſt in ihrem ganzen 
Hauſe nichts Eigenes. Ich nahm ihn an mich, ſobald ich merkte, 
wozu du fähig biſt. Wage es, mir auch nur einen Schritt näher: 
zukommen, ſo erſchieße ich dich; das ſchwoͤre ich dir!“ 

Awdotja befand ſich in raſender Erregung. Den Revolver hielt 
ſie ſchußbereit. 

„Na, und was ſoll aus Ihrem Bruder werden? Ich frage nur 
ſo aus Neugier!“ ſagte Swidrigailow, der immer noch an ſeinem 
Platze ſtehen geblieben war. 

„Denunziere ihn, wenn du willſt! Nicht von der Stelle! Ruͤhre 
dich nicht! Ich ſchieße! Du haſt deine Frau vergiftet, das weiß 
ich; du biſt ſelbſt ein Mörder!" 

„Wiſſen Sie das auch ganz beſtimmt, daß ich Marfa Petrowna 
vergiftet habe?“ 

„Du haſt es getan! Du haſt mir ſelbſt Andeutungen daruͤber 
gemacht; du haft mir gegenüber von Gift geſprochen, . .. ich 
weiß, du biſt weggefahren, um dir welches zu befchaffen, . .. 
du hatteft es bereitliegen ... Du haft es getan . . . Zweifellos 
haft du es getan, . . . du Schurke!“ 


764 Schuld und Sühne 


„Und ſelbſt wenn es wahr waͤre, ſo haͤtte ich es doch nur um 
deinetwillen ... fo waͤreſt doch nur du die Urſache geweſen.“ 

„Du luͤgſt! Ich habe dich immer gehaßt, immer ...“ 

„Ei, ei, Awdotja Romanowna, Sie haben offenbar vergeſſen, 
wie Sie damals in Ihrem Bekehrungseifer ſchon nachgiebiger 
wurden und auftauten ... Ich habe Ihnen das an den Augen 
angeſehen; erinnern Sie ſich noch: eines Abends, bei Mondſchein, 
die Nachtigall floͤtete?“ 

„Du luͤgſt!“ (Awdotjas Augen funkelten vor Wut.) „Du luͤgſt, 
Verleumder!“ 

„Ich luͤge? Na, meinetwegen auch das! Ich habe alſo gelogen. 
Es ſchickt ſich nicht, Frauen an ſolche Dinge zu erinnern.“ (Er 
lächelte.) „Ich weiß, daß du ſchießen wirft, du reizende Tigerin! 
Na, dann ſchieße alſo!“ 

Awdotja hob den Revolver in die Hoͤhe; ſie war totenbleich, 
die blaſſe Unterlippe bebte, die großen ſchwarzen Augen funfel- 
ten wie Feuer. Entſchloſſen blickte ſie ihn an und wartete auf 
die erſte Bewegung von ſeiner Seite. Noch nie hatte er ſie ſo 
ſchoͤn geſehen. Er hatte die Empfindung, als ob das Feuer, das 
in dieſem Augenblick aus ihren Augen ſpruͤhte, ihn verſengte, 
und ſein Herz krampfte ſich ſchmerzhaft zuſammen. Er trat einen 
Schritt vorwaͤrts, und der Schuß ertoͤnte. Die Kugel hatte ihm 
das Haar geſtreift und war hinter ihm in die Wand gefahren. 
Er blieb ſtehen und lachte leiſe auf. 

„Die Weſpe hat geſtochen! So ein Maͤdchen, zielt gerade nach 
dem Kopfe! . . . Was iſt das? Blut!“ 

Er zog das Taſchentuch heraus, um das Blut abzuwiſchen, 


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das in feinem Streifen uͤber ſeine rechte Schlaͤfe rann; augen⸗ 


ſcheinlich hatte die Kugel die Kopfhaut eben nur geritzt. Awdotja 
ließ den Revolver ſinken und blickte Swidrigailow an, nicht fo= 
wohl erſchreckt, ſondern in einer Art von ſcheuem Staunen. Es 


rann 


Sechſter Teil 765 


war, als begreife ſie ſelbſt nicht, was ſie getan hatte und was 
geſchehen war. 

„Na ja, das war vorbeigeſchoſſen! Schießen Sie noch einmal; 
ich warte,“ ſagte Swidrigailow leiſe; er laͤchelte immer noch, 
aber ſein Laͤcheln hatte jetzt etwas Duͤſteres, Truͤbes. „Wenn 
Sie ſo ſtehen bleiben, kann ich Sie ja packen, ehe Sie dazu 
kommen, den Hahn zu ſpannen!“ 

Awdotja fuhr zuſammen, ſpannte ſchnell den Hahn und hob 
den Revolver wieder in die Hoͤhe. 

„Laſſen Sie von mir ab!“ rief fie verzweifelt. „Ich ſchwoͤre 
Ihnen, ich ſchieße noch einmal; ich ... werde Sie toͤten ...“ 

„Na, ſchoͤn, . . . auf drei Schritt Entfernung kann es ja eigent— 
lich gar nicht fehlen, daß man einen totſchießt. Na, aber wenn 
Sie mich nicht totſchießen, ... dann ...“ 

Seine Augen funkelten, und er trat noch zwei Schritte naͤher. 

Awdotzja druͤckte ab; aber der Schuß verſagte. 

„Sie haben nicht ſorgfaͤltig geladen. Aber es tut nichts! Sie 
haben noch eine Patrone darin. Machen Sie Ihren Fehler 
wieder gut; ich warte.“ 

Er ſtand in einer Entfernung von zwei Schritten vor ihr, wartete 
und ſah ſie mit wilder Entſchloſſenheit an; ſeine Augen flammten 
in tiefer Leidenſchaft. Awdotja konnte nicht zweifeln, daß er 
eher ſterben als von ihr ablaſſen werde. „Und... und nun, auf 
zwei Schritt, werde ich ihn ſicher töten !" ſagte fie ſich. 

Ploͤtzlich ſchleuderte ſie den Revolver von ſich. 

„Sie hat ihn fortgeworfen!“ ſagte Swidrigailow erſtaunt und 
holte tief Atem. | 

Ihm war, als hätte ſich ihm auf einmal eine Laſt vom Herzen 
gelöft, und es war wohl nicht allein der Druck der Todesfurcht; 
die hatte er in dieſem Augenblicke vielleicht uͤberhaupt kaum 
empfunden. Es war die Befreiung von einem anderen, krank— 


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766 Schuld und Suͤhne 


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haften, düfteren Gefühle, das er in feiner ganzen Bedeutung 
ſelbſt nicht haͤtte definieren koͤnnen. 

Er trat an Awdotja heran und legte leiſe ſeinen Arm um ihre 
Taille. Sie widerſetzte ſich ihm nicht; aber ſie blickte ihn, am 
ganzen Koͤrper wie Eſpenlaub zitternd, mit flehenden Augen an. 
Er wollte etwas ſagen; aber es verzogen ſich nur ſeine Lippen; 
zu ſprechen war er nicht imſtande. 

„Laß mich!“ ſagte Awdotja flehend. 

Swidrigailow zuckte zuſammen: dieſes Du war in ganz anderem 
Tone geſprochen als vorher. 

„Du liebſt mich alſo nicht?“ fragte er leiſe. 

Awdotja ſchuͤttelte verneinend den Kopf. 

„Und .. . du wirſt es auch nie koͤnnen? ... Niemals?“ flüfterte 
er voll Verzweiflung. 

„Nein, niemals!“ fluͤſterte Awdotja. 

In Swidrigailows Seele ging einen Augenblick lang ein furcht— 
barer, ſtummer Kampf vor ſich. Mit einem unbeſchreiblichen 
Blicke ſchaute er ſie an. Ploͤtzlich loͤſte er ſeinen Arm von ihrem 
Körper, wandte ſich ab, ging ſchnell zum Fenſter und blieb dort 
ſtehen, dem Zimmer den Ruͤcken zuwendend. 

Es verging noch ein Moment. 

„Hier iſt der Schluͤſſel!“ Er zog ihn aus der linken Überzieher- 
taſche und legte ihn hinter ſich auf den Tiſch, ohne ſich umzu— 
drehen und ohne Awdotja anzublicken. „Nehmen Sie ihn und 
gehen Sie ſchnell fort!“ 

Er blickte ſtarr durch das Fenſter. 

Awdotja trat an den Tiſch, um den Schluͤſſel zu nehmen. 

„Schnell! Schnell!“ rief Swidrigailow, der ſich immer noch 
nicht ruͤhrte und nicht umwandte. 

Aber in dieſem „Schnell!“ war ein furchtbarer Ton deutlich 
hindurchzuhoͤren. 


Sechſter Teil 767 


Awdotja verſtand dieſen Ton, ergriff den Schlüffel, ftürzte zur 
Tuͤr, ſchloß ſie ſchnell auf und eilte aus dem Zimmer. Einen 
Augenblick darauf lief ſie wie wahnſinnig und ohne von ſich ſelbſt 
zu wiſſen aus dem Hauſe und rannte am Kanal entlang nach der 
... [hen Bruͤcke zu. 

Swidrigailow blieb noch etwa drei Minuten lang am Fenſter 
ſtehen; endlich wandte er ſich langſam um, blickte um ſich und 
fuhr ſich ſachte mit der Hand uͤber die Stirn. Ein ſonderbares 
Laͤcheln verzerrte ſein Geſicht, ein klaͤgliches, trauriges, mattes 
Laͤcheln, ein Laͤcheln der Verzweiflung. Das Blut, das bereits 
einzutrocknen anfing, hatte ihm bei jener Bewegung die Hand: 
flaͤche beſchmutzt; aͤrgerlich betrachtete er den Fleck; dann be— 
feuchtete er ein Handtuch und wuſch ſich die Schlaͤfe rein. Auf 
einmal fiel ihm der Revolver in die Augen, den Awdotja von 
ſich geworfen hatte und der gegen die Tuͤr geflogen war. Er 
hob ihn auf und beſah ihn. Es war ein kleiner, dreiſchuͤſſiger 
Taſchenrevolver alten Syſtems; es waren darin noch zwei 
Patronen und ein Zuͤndhuͤtchen vorhanden. Einmal konnte man 
alſo noch damit ſchießen. Er uͤberlegte ein Weilchen, ſchob dann 
den Revolver in die Taſche, ergriff ſeinen Hut und ging hinaus. 


VI 


Er verbrachte dieſen ganzen Abend bis zehn Uhr in allerlei 
Reſtaurants und unanſtaͤndigen Lokalen, indem er von dem 
einen zum andern wanderte. In einem ſolchen Lokale traf er 
auch Katja, die wieder einen Gaſſenhauer ſang, diesmal einen 
anderen, in dem eine Stelle vorkam wie: „Der arge Schurke und 
Tyrann, zu kuͤſſen fing er Katja an.“ Swidrigailow traftierte 
Katja und den Drehorgelſpieler mit Getraͤnken, ebenſo die Chor— 
ſaͤnger, die Kellner und zwei Schreiber. Mit dieſen Schreibern 
hatte er ſich eigentlich nur deswegen eingelaffen, weil fie beide 


768 Schuld und Suͤhne 


ſchiefe Nafen hatten: bei dem einen ftand die Naſe nach rechts 
ſchief, bei dem andern nach links. Das hatte Swidrigailows 
Intereſſe erweckt. Schließlich ſchleppten ſie ihn mit ſich nach 
einem Vergnuͤgungsgarten, wo er fuͤr ſie auch das Eintrittsgeld 
bezahlte. In dieſem Garten befanden ſich nur eine duͤnne, drei⸗ 
jaͤhrige Tanne und drei Straͤuche. Außerdem war darin ein 
Reſtaurant eingerichtet, das in Wirklichkeit nur eine Kneipe war; 
aber man konnte dort auch Tee bekommen. Ferner ſtanden in 
dem Garten einige gruͤn angeſtrichene Tiſche und Stuͤhle. Ein 
elender Saͤngerchor und ein betrunkener, rotnaſiger Deutſcher 
aus Muͤnchen, eine Art von Poſſenreißer, der aber, Gott weiß 
warum, ſehr truͤbſinnig war, ſorgten fuͤr das Amuͤſement des 
Publikums. Die Schreiber gerieten mit ein paar anderen Schrei—⸗ 
bern in Streit, und es fehlte nicht viel, daß es zur Pruͤgelei kam. 
Swidrigailow wurde von ihnen zum Schiedsrichter erwaͤhlt. 
Wohl eine Viertelſtunde muͤhte er ſich damit ab, die Parteien zu 
vernehmen; aber ſie ſchrien ſo, daß es ſchlechterdings unmoͤglich 


war, etwas klarzuſtellen. Am wahrſcheinlichſten hing die Sache 


fo zuſammen: einer von ihnen hatte etwas geſtohlen und es fo: 
gar ſchon an einen ploͤtzlich auf der Bildflaͤche erſchienenen Juden 
verkauft, wollte nun aber den Erloͤs nicht mit ſeinen Kollegen 
teilen. Es ergab ſich ſchließlich, daß der verkaufte Gegenſtand 
ein dem „Reſtaurant“ gehöriger Teelöffel war. In dem „Reſtau⸗ 
rant“ war der Loͤffel bereits vermißt worden, und die Sache ſchien 
ſehr kompliziert und ſchwierig zu werden. Swidrigailow bezahlte 
den Loͤffel, ſtand auf und verließ den Garten. Es war gegen 
zehn Uhr. Er ſelbſt hatte die ganze Zeit uͤber keinen Tropfen 
Branntwein getrunken und ſich nur in dem „Reſtaurant“ Tee 
geben laſſen, und auch das eigentlich nur um des Anſtandes 
willen. Der Abend war ſchwuͤl und truͤbe. Um zehn Uhr zogen 
von allen Seiten furchtbare Gewitterwolken zuſammen; ein Un⸗ 


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Sechſter Teil 769 
wetter brach los, und der Regen ſtuͤrzte wie ein Waſſerfall her— 
nieder. Das Waſſer fiel nicht in Tropfen, ſondern rauſchte in 
ganzen Strahlen auf die Erde herab. Fortwaͤhrend flammten 
Blitze; mitunter konnte man bis zu fünf faſt gleichzeitig zählen. 
Als Swidrigailow nach Hauſe kam, war er durchnaͤßt bis auf den 
letzten Faden; er ſchloß ſich ein, oͤffnete ſeinen Schreibtiſch, nahm 
ſein ganzes Geld heraus und zerriß einige Papiere. Er uͤberlegte 
einen Augenblick, ob er die Kleider wechſeln ſollte; aber nachdem 
er das Fenſter geöffnet und geſehen und gehört hatte, wie es 
noch immer donnerte und regnete, verwarf er dieſe Abſicht mit 
einer geringſchaͤtzigen Handbewegung, ſteckte das Geld in die 
Taſche, ergriff ſeinen Hut und ging, ohne ſeine Wohnung zuzu— 
ſchließen, hinaus. Er begab ſich geradeswegs zu Sofja. Dieſe 
war zu Hauſe. 

Sie war nicht allein; vier kleine Kapernaumowſche Kinder 
waren bei ihr, und ſie gab ihnen Tee zu trinken. Sie empfing 
Swidrigailow ſchweigend und reſpektvoll, bemerkte mit Er— 
ſtaunen, daß ſeine Kleider ganz durchnaͤßt waren, ſagte aber 
kein Wort. Die Kinder liefen ſaͤmtlich ſofort in groͤßter Angſt 
davon. 

Swidrigailow ſetzte ſich an den Tiſch und bat Sofja, ſich neben 
ihn zu ſetzen. Schuͤchtern ſchickte ſie ſich an, ihm zuzuhoͤren. 

„Sofja Semjonowna, ich reife vielleicht nach Amerika,“ fagte / 
Swidrigailow, „und da ich Sie wahrſcheinlich zum letzten Male 
ſehe, bin ich gekommen, um noch einiges zu ordnen. Nun, Sie 
haben alſo heute dieſe Dame beſucht? Ich weiß, was ſie zu 
Ihnen geſagt hat; Sie brauchen es mir nicht zu wiederholen.“ 
(Sofja machte eine Bewegung und erroͤtete.) „Dieſe Sorte Men— 
ſchen hat nun einmal ſo eine beſtimmte Anſchauungsweiſe. 
Was Ihre Schweſterchen und Ihr Bruͤderchen anlangt, ſo ſind 
ſie ſicher untergebracht, und das fuͤr ſie beſtimmte Geld iſt von 
XIX. 40. 


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770 Schuld und Suͤhne 


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mir für einen jeden gegen Quittung gehörigen Ortes zu zuver— 
laͤſſigen Händen eingezahlt worden. Nehmen Sie übrigens dieſe 
Quittungen an ſich, ich meine bloß ... für jeden Fall. Hier, 
nehmen Sie! Na, das iſt alſo jetzt erledigt. Hier ſind drei fuͤnf— 
prozentige Staatsſchuldſcheine im Geſamtbetrage von drei— 
tauſend Rubeln. Nehmen Sie das für ſich, ausſchließlich fuͤr ſich, 
und laſſen Sie es unter uns bleiben; ſagen Sie von dieſer Summe 
niemandem etwas, was auch immer Ihnen zu Ohren kommen 
mag. Sie werden das Geld gebrauchen koͤnnen, Sofja Semjo— 
nowna; denn ſo zu leben wie bisher iſt unwuͤrdig; das werden 
Sie nun nicht mehr noͤtig haben.“ 

„Sie haben mir ſo viele, große Wohltaten erwieſen, und auch 
den Waiſen und der Verſtorbenen,“ ſtammelte Sofja haſtig. 
„Wenn ich Ihnen bisher nur fo wenig dafür gedankt habe, ſo ... 
wollen Sie nicht meinen ...“ 

„Ach, hoͤren Sie auf, hoͤren Sie auf!“ 

„Aber dieſes Geld, Arkadi Iwanowitſch, ... ich bin Ihnen ſehr 
dankbar; aber ich habe es jetzt wirklich nicht noͤtig. Mich allein 
kann ich immer durchbringen. Halten Sie es nicht für Undank— 
barkeit; aber wenn Sie ſchon eine fo große Wohltat ſpenden 
wollen, fo koͤnnte dieſes Geld ...“ 

„Es iſt fuͤr Sie beſtimmt, Sofja Semjonowna, fuͤr Sie; und 
bitte, ohne Hin- und Herreden, denn ich habe dazu auch gar keine 
Zeit mehr. Sie werden es aber gebrauchen koͤnnen. Rodion Ro— 
manowitſch hat nur zwei Wege vor ſich: entweder eine Kugel 
vor den Kopf, oder nach Sibirien.“ (Sofja blickte ihn ſcheu an 
und fing an zu zittern.) „Beunruhigen Sie ſich nicht; ich weiß 
alles, aus feinem eigenen Munde; aber ich bin kein Schwaͤtzer 
und werde es niemandem ſagen. Sie haben ſehr gut daran getan, 
daß Sie ihm rieten, er moͤchte hingehen und ſich ſelbſt anzeigen. 
Das wird fuͤr ihn bei weitem das Beſte ſein. Na, wenn es alſo 


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Sechſter Teil 771 


zur Verſchickung nach Sibirien kommt, dann werden Sie doch 
mit ihm gehen? Nicht wahr? Nicht wahr? Na, in dieſem Falle 
werden Sie das Geld recht gut gebrauchen koͤnnen. Fuͤr ihn 
werden Sie es gebrauchen koͤnnen, verſtehen Sie? Wenn ich es 
Ihnen gebe, ſo iſt das ganz dasſelbe, als gaͤbe ich es ihm. Außer— 
dem haben Sie ja auch, wie ich gehoͤrt habe, der Wirtin Amalia 
Iwanowna verſprochen, ihr die ruͤckſtaͤndige Miete zu bezahlen. 
Warum nehmen Sie unbedachtſamerweiſe ſolche Verpflichtun— 
gen auf ſich, боба Semjonowna? Katerina Iwanowna war 
doch dieſer Deulſchen das Geld ſchuldig geblieben, und nicht Sie; 
da ſollten Sie ſich den Kuckuck um dieſes deutſche Frauenzimmer 
kuͤmmern. So kommt man in der Welt nicht vorwärts. Na, und 
wenn jemand, ſo etwa morgen oder uͤbermorgen, nach mir fragen 
ſollte (und bei Ihnen wird man gewiß nachfragen), dann er— 
waͤhnen Sie nichts davon, daß ich jetzt bei Ihnen geweſen bin, 
und zeigen Sie unter keinen Umftänden das Geld, und fagen 
Sie niemandem, daß ich Ihnen welches gegeben habe. Nun alſo, 
jetzt auf Wiederſehen!“ (Er erhob ſich von feinem Stuhle.) 
„Grüßen Sie Rodion Romanowitſch! Dabei fällt mir ein: über: 
geben Sie doch das Geld, wollen mal ſagen, Herrn Raſumichin 
zur vorlaͤufigen Aufbewahrung. Sie kennen doch Herrn Raſu— 
michin. Jedenfalls werden Sie ihn kennen. Das iſt ein ganz ver— 
ſtaͤndiger junger Mann. Bringen Sie es ihm morgen, oder .. 
wenn es an der Zeit ſein wird. Bis dahin verwahren Sie es 
ordentlich!“ 

Sofja ſprang gleichfalls vom Stuhle auf und ſah ihn erſchrocken 
an. Gern hätte fie etwas gefagt, etwas gefragt; aber fie wagte 
es im erſten Augenblicke nicht und wußte auch nicht, wie fie ап: 
fangen ſollte. 

„Aber .. . aber wollen Sie denn jetzt bei dieſem Regen aus: 
gehen?“ 


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772 Schuld und Suͤhne 


„Na, wenn einer nach Amerila reiſen will, dann darf er ſich doch 
nicht vor einem Regen fürchten, he-he! Leben Sie wohl, meine 
liebe Sofja Semjonowna! Moͤchte Ihnen ein langes Leben be— 
ſchieden ſein; Sie werden auch anderen nuͤtzen. Noch eins: ſagen 
Sie doch Herrn Raſumichin, daß ich mich ihm empfehlen laſſe. 
Beſtellen Sie ſo: ‚Arkadi Iwanowitſch Swidrigailow laͤßt ſich 
Ihnen empfehlen.“ Aber vergeſſen Sie es nicht!“ 

Er ging hinaus; erſtaunt, erſchrocken und von einem unklaren, 

quälenden Argwohn erfuͤllt blieb Sofja zuruͤck. 

Es ſtellte ſich ſpaͤter heraus, daß er an ebendieſem Abend nach 
elf Uhr noch einen ſehr ungewoͤhnlichen, unerwarteten Beſuch 
gemacht hatte. Der Regen hielt immer noch an. Ganz durch— 
näßt betrat er zwanzig Minuten nach elf Uhr die beſchraͤnkte 
Wohnung der Eltern ſeiner Braut auf der Waſili-Inſel in der 
dritten Linie beim Kleinen Proſpekt. Nur mit großer Muͤhe hatte 
er ſich durch Klopfen Eingang verſchafft und hatte zuerſt große 
Beſtuͤrzung hervorgerufen; aber Arkadi Iwanowitſch war, wenn 
er es darauf anlegte, ein Mann von bezauberndem Weſen, ſo 
daß die urſpruͤngliche (obwohl an ſich ſehr ſcharfſinnige) Ver— 
mutung der verſtaͤndigen Eltern der Braut, Arkadi Iwanowitſch 
habe ſich wohl bereits irgendwo derartig betrunken, daß er nicht 
mehr von ſich ſelbſt wiſſe, ſofort in ſich zuſammenfiel. Den ge: 
laͤhmten Vater rollte feine treue Pflegerin, die verſtaͤndige Mutter 
der Braut, im Lehnſeſſel zu Arkadi Iwanowitſch ins Zimmer 
herein und begann nach ihrer Gewohnheit ſofort mit weit aus: 
holenden Fragen. Dieſe Frau fragte niemals einfach und gerade— 
zu, ſondern ſie fing immer zunaͤchſt damit an, zu laͤcheln und ſich 
die Haͤnde zu reiben; und darauf, wenn ihr daran gelegen war, 
etwas unter allen Umſtaͤnden und zuverlaͤſſig in Erfahrung zu 
bringen, zum Beiſpiel welchen Termin Arkadi Iwanowitſch fuͤr 
die Hochzeit in Ausſicht genommen habe, begann ſie mit den 


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neugierigſten, eifrigſten Fragen über Paris und das dortige 
Hofleben und gelangte dann ſo ganz allmaͤhlich auch zur dritten 
Linie auf der Waſili⸗Inſel. Zu anderer Zeit verhielt ſich Swi— 
drigailow dieſem ſchlauen Verfahren gegenuͤber ja natuͤrlich ſehr 
reſpektvoll; aber diesmal bekundete er eine beſondere Ungeduld 
und wuͤnſchte energiſch, ſo ſchnell wie nur irgend moͤglich ſeine 
Braut zu ſehen, obgleich ihm gleich anfangs geſagt war, daß dieſe 
ſich bereits ſchlafen gelegt habe. Natuͤrlich erſchien die Braut. 
Arkadi Iwanowitſch teilte ihr ohne Umſchweife mit, er muͤſſe 
aus ſehr wichtigem Anlaſſe Petersburg fuͤr einige Zeit verlaſſen; 
er habe ihr daher fuͤnfzehntauſend Rubel in allerlei Wertpapieren 
mitgebracht und baͤte ſie, dieſe Summe von ihm als Geſchenk 
anzunehmen, da er ſchon laͤngſt vorgehabt habe, ihr dieſe Kleinig— 
keit vor der Hochzeit zu ſchenken. Ein eigentlicher logiſcher Zu— 
ſammenhang zwiſchen dem Geſchenke und der eiligen Abreiſe 
und der unbedingten Notwendigkeit, deswegen im Regen und 
mitten in der Nacht herzukommen, wurde durch dieſe Erklaͤrungen 


natuͤrlich in keiner Weiſe nachgewieſen; aber die Angelegenheit 


wurde dennoch ſehr glatt erledigt. Die Familienmitglieder ließen 
ſich ſogar ſchnell dazu bringen, mit den unvermeidlichen Ausrufen 
des Staunens und den verwunderten Fragen Maß zu halten 
und demnaͤchſt aufzuhoͤren; dafuͤr aber wurde die Dankbarkeit 
in den feurigſten Ausdruͤcken bekundet und von der ſo außer— 
ordentlich verſtaͤndigen Mutter ſogar noch durch Traͤnen be— 
kraͤftigt. Arkadi Iwanowitſch ſtand auf, lachte, kuͤßte feine Braut, 
klopfte ihr auf das Baͤckchen, verſicherte, daß er bald zuruͤckkommen 
werde, und als er in ihren Augen neben der kindlichen Neugier 
doch auch eine ſehr ernſte ſtumme Frage las, wurde er einen 
Augenblick nachdenklich, kuͤßte ſie noch einmal und verſpuͤrte 
gleichzeitig einen wirklichen Arger im Herzen daruͤber, daß ſein 
Geſchenk ſogleich der verſtaͤndigſten aller Muͤtter zur Aufbe— 


Sechſter Teil 773 


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774 Schuld und Sühne 


— — — — — — — 


wahrung unter Verſchluß werde übergeben werden. Er ging 
weg und ließ alle in einem Zuſtande größter Aufregung zuruͤck. 
Aber die gute Mama wußte im Fluͤſtertone und mit großer 
Zungenfertigkeit ſofort einige der Punkte zu erledigen, die das 
größte Staunen erregt hatten. Arkadi Iwanowitſch ſei ein Mann 
in bedeutender Stellung, der vielerlei Geſchaͤfte und Beziehungen 
habe, dazu ein reicher Mann. Gott moͤge wiſſen, was er im 
Kopfe habe, wenn er ploͤtzlich auf den Einfall gekommen ſei, weg— 
zureiſen und ſo viel Geld fortzugeben; aber daruͤber erſtaunt 
zu ſein, dazu ſei kein Anlaß. Allerdings ſei es ſonderbar, daß er 
ſo ganz durchnaͤßt zu ihnen gekommen ſei; aber die Englaͤnder 
zum Beiſpiel benaͤhmen ſich oft noch extravaganter, und Leute 
aus den hoͤheren Kreiſen kuͤmmerten ſich uͤberhaupt nicht darum, 
was uͤber ſie geredet wuͤrde, und genierten ſich nicht. Vielleicht 
gehe er ſogar abſichtlich ſo in der Regennacht umher, um zu 
zeigen, daß ihm alle Menſchen ganz egal ſeien. Die Hauptſache 
aber ſei: von dieſem Beſuche duͤrfe niemandem ein Wort geſagt 
werden; denn man koͤnne nicht wiſſen, was das fuͤr Folgen haben 
koͤnne. Und das Geld muͤſſe ſo ſchnell wie moͤglich weggeſchloſſen 
werden, und es ſei dabei noch ein wahres Gluͤck, daß das Dienſt— 
maͤdchen Fedoſja in der Kuͤche geweſen ſei und nichts gemerkt 
habe. Und namentlich duͤrfe dieſe Gaunerin, die Roͤßlich, nichts 
davon erfahren, ja nicht, ja nicht, ja nicht! Und ſo redete ſie noch 
lange fort. Bis zwei Uhr ſaßen die Eltern zuſammen und fluͤſter— 
ten; die Braut, erſtaunt uͤber das Erlebte und etwas traurig, war 
ſchon weit früher fchlafen gegangen. 

Unterdeſſen ging Swidrigailow ziemlich genau um Mitternacht 
über die Tutſchkow-Bruͤcke in der Richtung nach dem Stadtteil 
Peterburgsfaja. Der Regen hatte aufgehört; aber ein ſtarker 
Wind brauſte. Er begann zu zittern und betrachtete eine Minute 
lang mit beſonderem Intereſſe und ſogar wie fragend das ſchwarze 


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Sechſter Teil 775 


— — — 


Waſſer der Kleinen Newa. Aber bald wurde es ihm zu kalt, ſo 
uͤber dem Waſſer zu ſtehen; er drehte ſich weg und ging den 
. . . ⸗Proſpekt entlang. Lange, beinahe eine halbe Stunde lang, 
wanderte er auf dieſem endloſen Proſpekte hin, ſtolperte mehr— 
mals auf dem Holzpflaſter, ſuchte aber fortwährend eifrig etwas 
auf der rechten Seite des Proſpektes. Dort irgendwo, ſchon 
ziemlich am Ende des Proſpektes, hatte er, als er kuͤrzlich einmal 
vorbeifuhr, ein Gaſthaus bemerkt, ein geraͤumiges Holzhaus; es 
hatte, ſoweit er ſich erinnerte, ungefaͤhr ſo wie „Zur Stadt 
Adrianopel“ geheißen. Er hatte ſich nicht geirrt; das Gaſthaus 
bildete in dieſer oͤden, ſtillen Gegend einen fo auffallenden Punkt, 
daß es ſelbſt in der Dunkelheit nicht zu verfehlen war. Es war 
ein langes, hoͤlzernes, vom Alter bereits ſchwarz gewordenes 
Gebäude, in dem trotz der fpäten Stunde noch Licht brannte 
und einiges Leben zu ſpuͤren war. Er trat ein und fragte einen 
ſchaͤbig gekleideten Kellner, den er auf dem Flure traf, ob er ein 
Zimmer bekommen koͤnne. Dieſer muſterte den Ankoͤmmling 
flüchtig, ſchuͤttelte 14, um munter zu werden, und führte ihn 
ſofort nach einem weit abgelegenen Zimmer. Dieſes war dumpf 
und eng und lag ganz am Ende des Korridors in einer Ecke unter 
einer Treppe. Aber es war kein anderes zu haben; alle waren 
beſetzt. Der ſchaͤbige Kellner ſah den Gaſt fragend an. 

„Kann ich Tee bekommen?“ fragte Swidrigailow. 

„Jawohl.“ 

„Was iſt ſonſt noch zu haben?“ 

„Kalbfleiſch, Schnaps, kalter Aufſchnitt.“ 

„Dann bring mir Kalbfleiſch und Tee.“ 

„Befehlen Sie weiter nichts?“ fragte der Kellner erſtaunt. 

„Nein, weiter nichts!“ 

Der Kellner entfernte ſich ganz verdutzt. 

„Das ſcheint ja ein nettes Lokal zu ſein,“ dachte Swidrigailow. 


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776 Schuld und Suͤhne 


„Sonderbar, daß ich es nicht gekannt habe. Ich ſehe wahrſchein⸗ 
lich auch fo aus wie einer, der aus einem Café chantant kommt, 
aber unterwegs ſchon ſeine Erlebniſſe gehabt hat. Indes waͤre 
es doch intereſſant zu erfahren, was fuͤr Leute hier einkehren 
und uͤbernachten.“ 

Er zuͤndete eine Kerze an und beſah das Zimmer genauer. 
Dieſes enge Behaͤltnis war ſo niedrig, daß Swidrigailow darin 
kaum aufrecht ſtehen konnte, und hatte nur ein Fenſter; ein ſehr 
ſchmutziges Bett, ein einfacher, geſtrichener Tiſch und ein Stuhl 
nahmen faſt den ganzen Raum ein. Die Waͤnde ſchienen aus 
zuſammengenagelten Brettern zu beſtehen, die mit bereits ſehr 
defekten Tapeten beklebt waren; dieſe waren ſo verſtaubt und 
beſchmutzt, daß man nur gerade noch die urſpruͤngliche gelbe 
Farbe erraten, das Muſter aber ſchlechterdings nicht mehr ет: 
kennen konnte. Ein Teil einer Wand und der Decke war ſchraͤg 
abgeſchnitten, wie das bei Manſardenſtuben gewoͤhnlich der Fall 
iſt; hier aber befand ſich oberhalb der ſchraͤgen Flaͤche die Treppe. 
Swidrigailow ſtellte die Kerze hin, ſetzte ſich auf das Bett und 
überließ ſich feinen Gedanken. Aber ein ſeltſames, fortwaͤhrendes 
Fluͤſtern in der Kammer daneben, das ſich manchmal faſt bis zu 
einem Schreien ſteigerte, zog ſchließlich ſeine Aufmerkſamkeit auf 
ſich. Dieſes Fluͤſtern hatte von dem Augenblicke an, wo er ins 
Zimmer getreten war, ununterbrochen fortgedauert. Er horchte: 
jemand ſchalt einen andern und machte ihm faſt unter Traͤnen 
Vorwuͤrfe; aber es war immer nur die eine Stimme zu hoͤren. 
Swidrigailow ſtand auf, verdeckte die Kerze mit der Hand, und 
ſofort leuchtete an der Wand eine Ritze auf; er trat heran und 
ſchaute hindurch. In dem Zimmer, das etwas groͤßer war als 
ſein eigenes, befanden ſich zwei Gaͤſte. Einer von ihnen, ohne 
Rock, mit ſehr krauſem Haar und erhitztem, rotem Geſichte, ſtand 
in der Haltung eines Redners da; er hielt die Beine auseinander⸗ 


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Sechſter Teil 777 


geſpreizt, um das Gleichgewicht zu bewahren, ſchlug ſich haͤufig 
mit der Hand vor die Bruſt und hielt dem andern in pathetiſchem 
Tone vor, daß dieſer ein Bettler ſei und nicht einmal einen amt⸗ 
lichen Rang beſitze; er habe ihn aus dem Elend herausgezogen 
und koͤnne ihn, wenn er wolle, jeden Augenblick fortjagen, und 
alles ſehe nur allein „der Finger des Allerhoͤchſten“. Der ge— 
ſcholtene Freund ſaß auf einem Stuhle und machte ein Geſicht, 
als möchte er gar zu gern nieſen, brächte es aber nicht fertig. Mit: 
unter blickte er den Redner mit dem truͤben Blicke eines Hammels 
an, hatte aber offenbar keine Ahnung, woruͤber deſſen Rede 
handelte, und hoͤrte wohl uͤberhaupt kaum etwas davon. Auf 
dem Tiſche brannte der Stumpf einer Kerze; auch ſtand dort eine 
faſt ausgetrunkene Flaſche Schnaps, Glaͤſer, Brot und Tee— 
geſchirr, das bereits leer war. Nachdem Swidrigailow dieſes 
Bild aufmerkſam betrachtet hatte, trat er teilnahmlos wieder 
von der Ritze weg und ſetzte ſich wieder auf das Bett. 

Der ſchaͤbige Kellner brachte den Tee und das Kalbfleiſch und 
konnte ſich nicht enthalten, noch einmal zu fragen: „Befehlen 
Sie weiter nichts?“ Als er wieder eine verneinende Antwort er— 
halten hatte, entfernte er ſich fuͤr die Dauer. Swidrigailow griff 
gierig nach dem Tee, um ſich zu erwaͤrmen, und trank ein Glas 
davon; zu eſſen aber vermochte er keinen Biſſen, da ihm der 
Appetit vollſtaͤndig vergangen war. Es bildete ſich bei ihm augen— 
ſcheinlich ein Fieber heraus. Er zog den Überzieher und das 
Jakett aus, wickelte ſich in die Bettdecke und legte ſich auf das 
Bett. Er aͤrgerte ſich; „es waͤre doch beſſer, wenn ich fuͤr dieſen 
Zweck geſund waͤre,“ dachte er und laͤchelte dabei. Im Zimmer 
war eine dumpfige Luft; die Kerze brannte truͤbe; draußen 
brauſte der Wind; irgendwo in der Ecke raſchelte eine Maus; 
auch glaubte er im ganzen Zimmer einen Geruch nach Maͤuſen 
und nach Leder zu ſpuͤren. Er lag da wie im Halbtraum: ein 


778 Schuld und Suͤhne 


Gedanke loͤſte den andern ab. Er gab ſich Muͤhe, ſich mit ſeinen 
Vorſtellungen an einen beſtimmten Gegenſtand anzuklammern. 
„Vor dem Fenſter muß wohl ein Garten ſein,“ dachte er, „es 
rauſchen da Baͤume. Baumrauſchen bei Nacht, im Sturm und 
in der Dunkelheit, mag ich gar nicht leiden; eine widerwaͤrtige 
Empfindung!“ Und er erinnerte ſich, mit welchem Widerwillen 
er vorhin an den Petrowſki-Park, an dem er vorbeigekommen war, 
gedacht hatte. Dabei fielen ihm auch die Tutſchkow-Bruͤcke und 
die Kleine Newa ein, und er bekam wieder ein Kaͤltegefuͤhl, wie 
ein Weilchen vorher, als er auf das Waſſer hinunterblickte. „Das 
Waſſer habe ich nie in meinem Leben leiden koͤnnen, nicht ein— 
mal auf Landſchaftsbildern,“ dachte er und mußte ploͤtzlich wieder 
bei einem ſonderbaren Gedanken laͤcheln: „Jetzt ſollte mir doch 
wohl eigentlich alles, was ſich auf Aſthetik und Bequemlichkeit 
be zieht, ganz gleichguͤltig ſein; aber gerade jetzt bin ich waͤhleriſch 
geworden, wie ein Tier des Waldes, das ſich in aͤhnlicher Situa— 
tion auch erſt einen beſonderen Platz ausſucht. Ich haͤtte einfach 
vorhin in den Petromffi:Parf einbiegen follen! Aber da war es 


mir wohl zu dunkel und zu kalt, he-he! Als ob dabei angenehme 


Empfindungen nötig waͤren! ... Und warum loͤſche ich denn 
eigentlich das Licht nicht aus?“ (Er blies es aus.) „Die Leute 
nebenan haben ſich auch hingelegt,“ dachte er, da er an der vorher 
benutzten Ritze keinen Lichtſchimmer mehr wahrnahm. „Jetzt, 
Marfa Petrowna, jetzt hätten Sie die beſte Gelegenheit, mir 
einen Beſuch zu machen: es iſt dunkel, eine ſehr geeignete Ortlich— 
keit, ein hochintereſſanter Augenblick. Aber gerade jetzt kommen 
Sie nicht..“ 

Ploͤtzlich, ohne klaren Zuſammenhang, mußte er daran denken, 
wie er vorhin, eine Stunde bevor er feinen Anſchlag gegen Um: 
dotja ins Werk ſetzte, ihrem Bruder geraten hatte, ſie der Obhut 
Raſumichins anzuvertrauen. „In Wirklichkeit habe ich das da— 


* 


Sechſter Teil 779 


mals hauptſaͤchlich wohl nur geſagt, um meine Eiferſucht auf— 
zureizen, und Raſkolnikow hat das auch durchſchaut. Ein Schlau— 
fuchs, dieſer Raſkolnikow, wahrhaftig! Hat doch viel auf feine 
Schultern genommen! Kann mit der Zeit ein großartiger 
Halunke werden, wenn er ſeine verruͤckten Ideen los wird; jetzt 
klammert er ſich noch zu ſehr an das Leben. In dieſem Punkte 
iſt doch dieſe ganze Sorte Menſchen feige. Na, hol ihn der Teufel; 
mag er tun, was er will; was kuͤmmerts mich 2 

Einſchlafen konnte er noch immer nicht. Allmaͤhlich ſchimmerte 
vor ſeinem geiſtigen Auge Awdotjas Geſtalt auf, wie er ſie vor 
kurzem geſehen hatte, und ein Zittern lief ihm durch den ganzen 
Koͤrper. „Nein, dieſe Gedanken muß ich jetzt denn doch uͤber 
Bord werfen,“ dachte er, ſich zuſammennehmend, „jetzt muß ich 
an etwas anderes denken. Es iſt doch eigentlich ſonderbar und 
lächerlich: ich habe nie gegen jemand einen ftarfen Haß emp— 
funden, auch nie ein beſonderes Verlangen gehabt, mich an 
irgend jemand zu raͤchen; das iſt doch ein ſchlechtes Zeichen, ein 
ſchlechtes Zeichen, ein ſchlechtes Zeichen! Streiten habe ich auch 
nie gemocht und habe mich auch nie ereifert, — gleichfalls ein 
ſchlechtes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin nicht alles ver— 
ſprochen, — pfui Teufel! Wer weiß, vielleicht haͤtte ſie doch noch 
aus mir einen anderen Menſchen gemacht!“ Er hielt wieder mit 
ſeinem Selbſtgeſpraͤche inne und preßte die Zaͤhne aufeinander: 
wieder ſtand ihm Awdotjas Bild in den kleinſten Einzelheiten 
vor Augen, wie ſie damals, als ſie den erſten Schuß abgefeuert 
hatte, [о furchtbar erfchraf, den Revolver ſinken ließ und ihn — 
leichenblaß anftarrte, fo daß er zweimal Zeit gehabt hätte, fie 
zu packen, ohne daß ſie die Hand zu ihrer Verteidigung haͤtte er— 
heben koͤnnen, wenn er ſie nicht ſelbſt daran erinnert haͤtte. Er 
dachte daran, wie leid ſie ihm in jenem Augenblicke getan hatte, 
ſo daß ſich ihm ordentlich das Herz zuſammengekrampft hatte. 


780 Schuld und Suͤhne 


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„Donnerwetter! Schon wieder dieſe Gedanken! Die muß 
ich alle über Bord werfen, jawohl, über Bord werfen! ...“ 
Nun begann ihm das Bewußtſein zu ſchwinden; das fieber— 
hafte Zittern ließ nach; auf einmal war es ihm, als ob unter der 
Bettdecke ihm etwas uͤber die Hand und uͤber das Bein liefe. Er 
fuhr zuſammen. „Pfui Teufel! das war wohl eine Maus!“ dachte 
er. „Das kommt davon, daß ich das Fleiſch habe auf dem Tiſche 
ſtehen laſſen .. .“ Er hatte eine große Scheu davor, ſich aus der 
Decke herauszuwickeln, aufzuſtehen und zu frieren; ploͤtzlich aber 
lief wieder etwas mit unangenehmem Krabbeln an ſeinem Bein 
entlang; er warf die Decke von ſich und ſteckte die Kerze an. 
Zitternd vor Fieberfroſt buͤckte er ſich, um das Bett zu unter— 
ſuchen, — es war nichts zu ſehen; er ſchuͤttelte die Decke aus, und 
plotzlich ſprang eine Maus heraus und auf das Laken. Er muͤhte 


ſich, ſie zu greifen; aber die Maus ſprang nicht vom Bette her⸗ 
unter, ſondern huſchte im Zickzack nach allen Seiten hin und her, 


glitt ihm zwiſchen den Fingern durch, lief ihm uͤber die Hand 


und ſchluͤpfte auf einmal unter das Kopfkiſſen; er warf das Kopf- 


kiſſen auf den Fußboden, fuͤhlte aber in demſelben Augenblicke, 


wie ihm etwas vorn an der Bruſt unter das Hemd ſprang, am 
Koͤrper entlang krabbelte und nun ſchon am Ruͤcken unter dem 
Hemd herumarbeitete. Ein nervoͤſes Zittern uͤberkam ihn, und 


— er erwachte. Im Zimmer war es dunkel; er lag in die Decke 


eingewickelt auf dem Bette wie vorher; draußen vor dem Fen⸗ 


ſter heulte der Wind. „So eine ekelhafte Geſchichte!“ dachte er 
ärgerlich. 


Er ſtand auf und fekte ſich auf den Rand des Bettes, mit dem 


Ruͤcken nach dem Fenſter zu. „Da ſchlafe ich lieber uͤberhaupt 


nicht,“ ſagte er ſich. Vom Fenſter kam aber eine kalte, feuchte 
Zugluft her; ohne von ſeinem Platze aufzuſtehen, ſchlug er die 


Decke um ſich und wickelte ſich darin ein. Die Kerze ſteckte er 


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ELTSeSeetchſter Teil 781 


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nicht an. Er dachte an nichts und wollte auch an nichts denken. 
Aber allerlei Traumbilder tauchten eins nach dem andern in 
ſeinem Gehirne auf; Bruchſtuͤcke von Gedanken, ohne Anfang 
Hund Ende und ohne Zuſammenhang huſchten ihm durch den 
Kopf. Er verſank in einen Halbſchlummer. War es nun die Kaͤlte 
oder die Dunkelheit oder die Feuchtigkeit oder der Wind, der 
draußen vor dem Fenſter heulte und die Baͤume ſchuͤttelte, — 
irgend etwas rief in ihm ein romantiſches Sehnen und Ver— 
langen hervor, das gar nicht weichen wollte: er ſah nur Blumen, 
Blumen und lauter Blumen. Eine reizende, blumige Landſchaft 
ſtand ihm vor Augen: ein heller, warmer, beinahe heißer Tag, 
ein Feſttag, ein Pfingſttag. Eine elegante, lururiöfe Villa in 
engliſchem Geſchmack, rings von duftenden Blumenbeeten um— 
geben; eine Freitreppe, von Schlinggewaͤchſen umrankt, mit 
Roſenſtraͤuchen in Kuͤbeln beſetzt; drinnen eine helle, kuͤhle 
Treppe, mit einem praͤchtigen Teppich belegt, auf allen Stufen 
zur Seite ſeltene Blumen in chineſiſchen Porzellangefaͤßen. 
Seine beſondere Beachtung erregten an den Fenſtern in waſſer— 
gefuͤllten Vaſen Straͤuße zarter weißer Narziſſen, deren Bluͤten 
ſich von den hellgruͤnen, kraͤftigen, langen Stielen niederbeugten 
und einen ſtarken, aromatiſchen Duft ausſtroͤmten. Lange konnte 
er ſich gar nicht von ihnen losreißen; endlich ſtieg er doch die 
Treppe hinan und trat in einen großen, hohen Saal, und wieder 
ſtanden auch hier überall, an den Fenſtern, neben der geöffneten 
Tuͤr, die nach einem weiten Balkon fuͤhrte, auf dem Balkon 
ſelbſt, Blumen, überall Blumen. Der Fußboden war mit friſch 
gemaͤhtem, duftigem Graſe beſtreut, die Fenſter geoͤffnet; ein 
friſcher, leichter, kuͤhler Lufthauch drang in den Saal; Voͤgel 
zwitſcherten vor den Fenſtern; aber mitten in dem Saale, auf 
einem Tiſche, der mit einer weißen Atlasdecke behaͤngt war, ſtand 
ein Sarg. Dieſer Sarg war mit weißem Seidenſtoff ausge— 


АССА. 


782 Schuld und Sühne 


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ſchlagen, mit dichten, weißen Ruͤſchen garniert und rings mit 
Blumengirlanden umwunden. Ganz in Blumen gebettet lag 
darin ein Maͤdchen, in weißem Tuͤllkleide, die wie aus Marmor 
gemeißelten Haͤnde zuſammengefaltet und auf die Bruſt gelegt. 
Aber ihr aufgeloͤſtes, hellblondes Haar war feucht; ein Kranz aus 
Roſen ſchlang ſich um ihren Kopf. Ihr Geſicht mit den ſtrengen, 
ſchon ftarr gewordenen Zügen war gleichfalls wie aus Marmor 
gearbeitet; aber in dem Lächeln der blaffen Lippen lag ein nicht 
kindliches, grenzenloſes Leid und eine furchtbare, ergreifende 
Klage. Swidrigailow kannte dieſes Maͤdchen; weder Heiligen— 
bilder noch brennende Kerzen umgaben dieſen Sarg, auch wurden 
keine Gebete bei ihm gemurmelt. Das Maͤdchen war eine Selbſt— 
moͤrderin: ſie hatte ſich ertraͤnkt. Sie war erſt vierzehn Jahre alt 
geweſen; aber es war ihr bereits das Herz gebrochen; und ſo 
hatte ſie ſich ſelbſt den Tod gegeben, aufs tiefſte verletzt durch eine 
ihr angetane Schmach, die dieſes junge, kindliche Gemuͤt mit 
ſtaunendem Entſetzen erfuͤllt, ihre engelreine Seele mit un— 
verdienter Schande bedeckt und ihr einen letzten Schrei der Ver— 
zweiflung entriſſen hatte, der keine Erhoͤrung fand, ſondern durch 
rohe Schimpfworte erwidert wurde, in dunkler, kalter Nacht, bei 
feuchtem Tauwetter, als der Wind heulte ... 

Swidrigailow kam wieder zur Beſinnung, ſtand vom Bette 
auf und trat ans Fenſter. Taſtend fand er den Riegel und oͤffnete 
das Fenſter. Der Wind drang wild tobend in die enge Kammer 
hinein und bedeckte ihm wie mit eiſigem Reif das Geſicht und 
die Bruſt unter dem bloßen Hemde. Vor dem Fenſter war wirk— 
lich eine Art Garten, und zwar wieder ein Vergnuͤgungslokal; 
wahrſcheinlich produzierten ſich auch hier bei Tage Chorſaͤnger, 
und es wurde an kleinen Tiſchen Tee getrunken. Jetzt flogen von 
den Baͤumen und Straͤuchen Waſſertropfen durch das Fenſter 
herein; es war eine Finſternis wie in einem Keller, ſo daß ſich 


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Sechſter Teil 783 


kaum einige dunkle Flecke als Andeutungen dort befindlicher 
Gegenſtaͤnde abhoben. Swidrigailow bog ſich, die Ellbogen auf 
das Fenſterbrett ſtuͤtzend, hinaus und ſtarrte nun ſchon fünf 
Minuten lang unverwandt in dieſe Finſternis hinein. Da ertoͤnte 
in dem nächtlihen Dunkel ein Kanonenſchuß, nach ihm ein 
zweiter. 

„Aha, das Signal! Das Waſſer ſteigt!“ dachte er. „Gegen 
Morgen wird es an den tiefer liegenden Stellen die Straßen 
uͤberſchwemmen, die Keller und Souterrains anfuͤllen; die Keller— 
ratten werden herausgeſchwommen kommen, und die Menſchen 
werden in Regen und Wind ſchimpfend und durchnaͤßt ihren 
Trödel nach den höheren Stockwerken hinaufſchleppen ... Was 
mag wohl jetzt die Uhr ſein?“ Kaum hatte er das gedacht, als 
irgendwo in der Nähe eine Wanduhr mit haftigen Schlägen, als 
haͤtte ſie es uͤberaus eilig, drei ſchlug. „So, in einer Stunde wird 
es alſo ſchon hell werden! Worauf warte ich noch? Ich will gleich 
von hier weggehen und geradeswegs nach dem Petrowſki-Park. 
Da ſuche ich mir ein großes Gebuͤſch aus, das ganz mit Regen— 
tropfen behangen Ш, fo daß einem, wenn man nur mit der 
Schulter anſtreift, Tauſende von Tropfen uͤber den ganzen Kopf 
rieſeln ...“ Er trat vom Fenſter zuruͤck, ſchloß es, zuͤndete die 
Kerze an, zog ſich Jakett und Überzieher an, ſetzte den Hut auf 
und ging mit dem Lichte auf den Korridor, um den Kellner, der 
wohl irgendwo in einem Kaͤmmerchen zwiſchen allerlei Geruͤmpel 
und Lichtſtumpfen ſchlafen mochte, aufzuſuchen, ihm das Zimmer 
und das Eſſen zu bezahlen und dann das Gaſthaus zu verlaſſen. 
„Es iſt jetzt der paſſendſte Augenblick; einen beſſeren kann ich gar 
nicht finden!“ 

Lange ging er auf dem ganzen langen, ſchmalen Korridor hin 
und her, ohne jemand zu finden, und wollte ſchon laut rufen, als 
er plöglic in einer dunklen Ecke zwiſchen einem alten Schranke 


784 Schuld und Sühne 


und einer Tuͤr einen ſonderbaren Gegenſtand erblickte, der etwas 
Lebendes zu ſein ſchien. Er beugte ſich mit der Kerze daruͤber 
hin und ſah ein Kind: ein kleines Maͤdchen von nicht mehr als 
etwa fuͤnf Jahren, zitternd und weinend, das Kleidchen triefend 
naß wie ein Scheuerlappen. Sie ſchien ſich vor Swidrigailow 
gar nicht zu fuͤrchten, ſondern blickte ihn in verſtaͤndnisloſem 
Staunen mit ihren großen ſchwarzen Auglein an und ſchluchzte 
zuweilen auf, wie Kinder, die lange geweint, aber dann bereits 
aufgehoͤrt und ſich ſogar ſchon beruhigt haben und nun doch noch 
ab und zu plotzlich aufſchluchzen. Das Geſichtchen der Kleinen 
war blaß und abgemagert; ſie war von der Kaͤlte ganz erſtarrt. 
„Aber wie iſt ſie nur hierher geraten?“ fragte er ſich. „Sie hat 
ſich wohl hier verſteckt und die ganze Nacht nicht geſchlafen.“ Er 
begann ſie auszufragen. Das kleine Maͤdchen wurde auf einmal 
lebhaft und erzaͤhlte ihm mit großer Geſchwindigkeit etwas in 
ihrem kindlichen Kauderwelſch. Es kam darin etwas von Mama 
vor, und daß Mama ſie ſchlagen werde, und von einer Taſſe, die 
ſie zerbrochen habe. Das Maͤdchen redete immerzu weiter, ohne 
Pauſe; aus ihrer Erzaͤhlung war mit einiger Muͤhe zu entnehmen, 
daß ihre Mutter, eine fortwaͤhrend betrunkene Koͤchin, wahr— 
ſcheinlich aus ebendieſem Gaſthauſe, fie nicht leiden koͤnne, fon: 
dern ſie immer ſchlage und in ſteter Angſt erhalte; daß die Kleine 
die Taſſe der Mama zerbrochen und daruͤber einen ſolchen Schreck 
bekommen habe, daß ſie ſchon geſtern abend weggelaufen ſei. 
Wahrſcheinlich hatte ſie ſich lange irgendwo auf dem Hofe im 
Regen verſteckt gehalten, ſich endlich hierher geſchlichen, ſich hinter 
dem Schranke verborgen und in dieſer Ecke weinend und zitternd 
vor Naͤſſe, vor Furcht wegen der Dunkelheit und vor Angſt, 
nun fuͤr alles Getane grauſam gezuͤchtigt zu werden, die ganze 
Nacht zugebracht. Er nahm ſie auf den Arm, ging mit ihr in ſein 
Zimmer, ſetzte ſie auf das Bett und kleidete ſie aus. Die zer⸗ 


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Sechſter Teil 785 


loͤcherten Schuhchen, die ſie auf den bloßen Fuͤßen trug, waren 
jo naß, als hätten fie die ganze Nacht hindurch in einer Pfuͤtze ge— 
legen. Nachdem er die Kleine entkleidet hatte, legte er ſie auf 
das Bett, breitete die Decke uͤber ſie und wickelte ſie ganz und 
gar mitſamt dem Kopfe darin ein. Sie ſchlief ſofort. Nachdem 
er dies erledigt hatte, verſank er wieder in ſeine ingrimmigen 
Überlegungen. 

„Ein dummer Einfall von mir, mich mit dem Kinde abzugeben!“ 
dachte er verdroſſen und hoͤhniſch. „So ein Unſinn!“ Argerlich 
ergriff er die Kerze, um hinauszugehen, unter allen Umſtaͤnden 
den Kellner ausfindig zu machen und moͤglichſt ſchnell das Haus 
zu verlaſſen. „Was ſchert mich das kleine Maͤdchen!“ dachte er 
mit einem Fluche und oͤffnete ſchon die Tuͤr; aber er kehrte doch 
noch einmal um, um nach der Kleinen zu ſehen, ob ſie wohl ſchliefe, 
und wie ſie ſchliefe. Vorſichtig luͤftete er die Decke. Das Maͤd— 
chen lag in feſtem, geſundem Schlafe. Sie war unter der Decke 
warm geworden, und ihre blaſſen Baͤckchen hatten ſchon wieder 
rote Farbe bekommen. Aber ſonderbar: dieſe Roͤte ſah greller 
und dunkler aus, als es ſonſt bei Kindern gewoͤhnlich iſt. „Das 
iſt eine fieberhafte Nöte,’ dachte Swidrigailow, „das iſt eine 
Roͤte wie von Branntwein, als haͤtte jemand ſie ein ganzes Glas 
austrinken laſſen. Die roten Lippen brennen und gluͤhen ja nur 
ſo; aber was iſt das?“ Es ſchien ihm auf einmal, als ob ihre 
langen, ſchwarzen Wimpern zuckten und zwinkerten, als ob ſie 
ſich hoͤben und ein ſchlaues, ſcharfes, ſehr unkindlich blinzelndes 
Auge unter ihnen hervorſchaute, als ob das Mädchen nicht ſchliefe, 
ſondern ſich nur ſo ſtellte. Ja, und ſo war es auch: ihre Lippen 
oͤffneten ſich zu einem Laͤcheln; die Mundwinkel zuckten, wie 
wenn die Kleine ſich noch beherrſchen wollte. Aber nun gab ſie 
dieſes Bemuͤhen voͤllig auf; das war ſchon ein Lachen, ein deut— 


liches Lachen; ein frecher, herausfordernder Ausdruck leuchtete 
XIX. so, 


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786 Schuld und Sühne 


— — —— — — — 


in dieſem ganz unkindlichen Geſichte auf; das war die Unzucht, 
das Geſicht einer Dirne, das freche Geſicht einer feilen franz 
zoͤſiſchen Dirne. Da, jetzt öffneten ſich ohne weitere Zuruͤck— 
haltung beide Augen ; fie richteten ſich mit einem feurigen, ſcham— 
(ofen Blicke auf ihn, forderten ihn auf und lachten ... Etwas 
unendlich Abſtoßendes und Empoͤrendes lag in dieſem Lachen, 
in dieſen Augen, in der ganzen Gemeinheit, die ſich auf dieſem 
Kindergeſichte auspraͤgte. „Wie? Ein fuͤnfjaͤhriges Kind!“ fluͤ— 
ſterte Swidrigailow wahrhaft entſetzt. „Wie ... wie iſt das nur 
moͤglich?“ Aber da wandte ſie ſich ſchon mit dem gluͤhendheißen 
Geſichtchen ganz zu ihm hin, ſie ſtreckte die Haͤnde nach ihm aus 

„Ha, du verruchtes Weſen!“ rief Swidrigailow entſetzt und 
hob die Hand, um ihr einen Schlag zu verſetzen ... Aber in 
demſelben Augenblicke erwachte er. 

Er lag immer noch auf dem Bette, noch ebenſo i in die Decke 
eingewickelt wie vorher; die Kerze war nicht angezuͤndet; aber 
durch das Fenſter ſchien bereits der helle Tag herein. 

„Wirre Traͤume die ganze Nacht hindurch!“ Er erhob ſich 
aͤrgerlich und fuͤhlte ſich voͤllig wie zerſchlagen; alle Knochen taten 
ihm weh. Draußen lag ein dichter Nebel, und es war nichts zu 
erkennen. Es war bald fuͤnf Uhr; er hatte laͤnger geſchlafen, als 
ihm lieb war. Er ſtand auf und zog ſich das Jakett und den 
Überzieher an, die noch feucht waren. Dann taſtete er in der 
Taſche nach dem Revolver, nahm ihn heraus und brachte das 
Zuͤndhuͤtchen in Ordnung; hierauf ſetzte er ſich hin, zog ет Notiz. 
buch aus der Taſche und ſchrieb auf die vorderſte Seite, die зи: 
erſt ins Auge fallen mußte, mit großer Schrift einige Zeilen. 
Nachdem er ſie noch einmal durchgeleſen hatte, ſtuͤtzte er einen 
Ellbogen auf den Tiſch und verſank in Gedanken. Der Revolver 
und das Notizbuch lagen auch auf dem Tiſch, neben feinem Ell— 
bogen. Die Fliegen waren auch ſchon aufgewacht und krochen 


Sechſter Teil 787 


auf dem Kalbfleiſch umher, das er unangeruͤhrt auf dem Tiſche 
hatte ſtehen laſſen. Er ſchaute ihnen lange zu und machte ſchließ— 
lich mit der freien rechten Hand den Verſuch, eine von ihnen zu 
fangen. Lange muͤhte er ſich mit Anſtrengung ab, konnte aber 
keine bekommen. Als er ſich endlich dieſer intereſſanten Be— 
ſchaͤftigung bewußt wurde, ſammelte er ſeine Gedanken, raffte 
ſich zuſammen, ſtand auf und ging entſchloſſen aus dem Zimmer 
hinaus. Eine Minute darauf war er bereits auf der Straße. 

Ein milchweißer, dichter Nebel lagerte über der Stadt. Swi⸗ 
drigailow ſchritt auf dem ſchluͤpfrigen, ſchmutzigen Holzpflaſter 
hin, in der Richtung nach der Kleinen Newa zu. Er mußte immer 
an das uͤber Nacht ſtark geſtiegene Waſſer der Kleinen Newa 
denken, an die Petrowſki-Inſel, die feuchten Fußwege, das feuchte 
Gras, die feuchten Baͤume und Straͤucher und ſchließlich an eben 
jenes Gebuͤſch, das er ſich in der Nacht ausgemalt hatte ... Aber 
das aͤrgerte ihn, und um auf andere Gedanken zu kommen, be— 
gann er die Haͤuſer zu betrachten. Weder einen Fußgaͤnger noch 
eine Droſchke traf er auf dem Proſpekt. Truͤbſelig und ſchmutzig 
ſahen die kleinen hellgelben Holzhaͤuſer mit den geſchloſſenen 
Fenſterlaͤden drein. Ein Gefuͤhl der Kaͤlte und der Feuchtigkeit 
breitete ſich uͤber ſeinen ganzen Koͤrper aus, und es begann ihn 
zu froͤſteln. Ab und zu fiel ſein Blick auf die Schilder von Kauf— 
laͤden und Gruͤnkramgeſchaͤften, und er las dann jedes mit großer 
Sorgfalt. Nun war das Holzpflafter zu Ende. Er kam ſchon bei 
einem großen, ſteinernen Hauſe vorbei. Ein ſchmutziger, vor 
Kaͤlte zitternder Hund mit eingezogenem Schwanze lief ihm uͤber 
den Weg. Ein voͤllig betrunkener Mann in einem Mantel lag 
mit dem Geſichte nach unten quer uͤber dem Trottoir. Er be— 
trachtete ihn einen Augenblick und ging weiter. Nach links zu 
wurde ihm ein hoher Feuerwehrturm ſichtbar. 

„Ach was!“ dachte er. „Das iſt ja hier auch ein guter Platz; 


788 Schuld und Suͤhne 


wozu ſoll ich da erſt nach dem Petrowſki-Park gehen? Wenig: 
ſtens habe ich da gleich einen offiziellen Zeugen ...“ 

Er laͤchelte beinahe uͤber dieſen neuen Gedanken und bog in 
die . . . ſkaja-Straße ein. Hier ſtand ein großes Haus und der 
Feuerwehrturm. An dem großen geſchloſſenen Tore des Hauſes 
ſtand, mit der Schulter dagegen gelehnt, ein kleines Maͤnnchen, 
in einen grauen Uniformmantel eingehuͤllt, auf dem Kopfe einen 
Meſſinghelm mit hohem Kamm, einen ſogenannten Achilles— 
helm. Mit ſchlaͤfrigem, kuͤhlem Blicke ſchielte er nach dem ſich 
naͤhernden Swidrigailow hin. Auf ſeinem Geſichte war jener 
ewige muͤrriſche Kummer ſichtbar, der bei der juͤdiſchen Raſſe 
allen Geſichtern ohne Ausnahme einen ſo ſaͤuerlichen Ausdruck 
verleiht. Beide, Swidrigailow und Achilles, blickten einander 
eine Weile ſchweigend an. Schließlich fand Achilles es nicht in 
der Ordnung, daß ein Mann, der nicht betrunken war, ſich drei 
Schritte von ihm entfernt hinſtellte, ihn ſtarr anſah und nichts 
redete. 

„Sie! Was haben Se hier ße ſuchen?“ fragte er, ohne ſich zu 
ruͤhren und ſeine Stellung zu veraͤndern. т 

„Gar nichts weiter, Bruder! Guten Tag!“ antwortete Swi⸗ 
drigailow. 

„Hier is kei Platz fer Sie!“ 

„Ich reiſe nach einem fernen Lande, Bruder.“ 

„Nach & fernen Lande?“ 

„Ja, nach Amerika.“ 

„Nach Amerika?“ 

Swidrigailow zog den Revolver heraus und ſpannte den Hahn. 
Achilles zog die Augenbrauen in die Hoͤhe. 

„Sie! Was tun Se da! Fuͤr ſolche Spaͤßche is hier nich der 
Ort!“ 

„Warum ſoll hier nicht der Ort dafuͤr ſein?“ 


Sechſter Teil GER 


„Weil Мет nich der Ort fer ſowas is.“ 
„Na, Bruder, das iſt ganz einerlei. Der Ort iſt gut. Wenn du 
nachher gefragt wirſt, ſo antworte nur, ich haͤtte geſagt, daß ich 
nach Amerika reiſen wollte.“ 
Er ſetzte den Revolver an ſeine rechte Schlaͤfe. 
„Das derf hier nich ſein; hier is nich der Ort fer ſo was!“ rief 
erſchrocken Achilles, deſſen Pupillen ſich immer mehr erweiterten. 
Swidrigailow druͤckte den Hahn ab. 


VII 


An demſelben Tage, aber erſt am Abend, zwiſchen ſechs und 
ſieben Uhr, ging Raſkolnikow nach der Wohnung feiner Mutter 
und ſeiner Schweſter, nach eben jener Wohnung im Bakalejew— 
ſchen Hauſe, die ihnen Raſumichin beſorgt hatte. Die Treppe 
hatte ihren Eingang von der Straße her. Noch als Raſkolnikow 
ſich bereits der Wohnung naͤherte, ging er nur zoͤgernden Schrittes 
und ſchien zu ſchwanken, ob er hineingehen ſollte oder nicht. 
Aber er waͤre um keinen Preis umgekehrt; ſein Entſchluß war 
gefaßt. 

„Zudem iſt es ja auch ganz gleich,“ dachte er. „Sie wiſſen noch 
nichts und ſind es ſchon gewohnt, mich fuͤr einen wunderlichen 
Geſellen zu halten ...“ 

Seine Kleidung ſah ſchrecklich aus: alles war ſchmutzig und 
verdruͤckt, da er die ganze Nacht im Regen zugebracht hatte. Sein 
Geſicht war ganz entſtellt infolge der Ermuͤdung, des Unwetters, 
der phyſiſchen Erſchoͤpfung und eines faſt vierundzwanzig Stun— 
den waͤhrenden Seelenkampfes. Dieſe ganze Nacht uͤber war er 
allein geweſen, Gott mochte wiſſen wo. Aber wenigſtens war er 
zu einem Entſchluſſe gelangt. 

Er klopfte an die Tuͤr, die Mutter oͤffnete ihm. Awdotja war 
nicht zu Hauſe. Auch das Dienſtmaͤdchen war gerade nicht da. 


790 Schuld und Suͤhne 


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Pulcheria Alexandrowna war zuerſt ganz ſprachlos vor freudigem 
Erſtaunen; dann ergriff ſie ihn an der Hand und zog ihn ins 
Zimmer hinein. 

„Nun, da biſt du ja auch!“ begann ſie, vor Freude ſtotternd. 
„Sei mir nicht boͤſe, Rodion, daß ich dich ſo dumm begruͤße, mit 
Traͤnen: aber ich lache ja nur, ich weine nicht. Denkſt du, ich 
weine? Nein, ich freue mich bloß; aber das iſt ſo eine dumme 
Angewohnheit bei mir, daß mir dann gleich die Traͤnen kommen. 
Das habe ich ſeit dem Tode deines Vaters ſo an mir: alles bringt 
mich zum Weinen. Setz dich, lieber Sohn, du biſt gewiß muͤde, 
das ſehe ich. Ach, was haſt du dich ſchmutzig gemacht!“ 

„Ich bin geſtern im Regen aus geweſen, Mama .., begann 
Raſkolnikow. 

„Nicht doch! Nicht doch!“ fiel ihm Pulcheria Alexandrowna 
lebhaft ins Wort. „Du denkſt wohl, ich fange gleich an, dich aus— 
zufragen, wie ich das fruͤher nach Weiberart zu tun pflegte; aber 
ſei unbeſorgt! Ich ſehe ja ein, daß das nicht paſſend war; ich 
ſehe das durchaus ein; jetzt habe ich ſchon die hieſigen Sitten де: 
lernt, und wirklich, ich muß ſelbſt geſtehen, daß die verſtaͤndiger 
ſind. Ich habe mir ein fuͤr allemal geſagt: wie kann ich deine 
Ideen faſſen und von dir Rechenſchaft verlangen? Du haſt viel— 
leicht Gott weiß was fuͤr Unternehmungen und Plaͤne im Kopfe, 
oder es keimen und wachſen da ſo allerlei Gedanken; wie darf 
ich dich da immer in die Seite ſtoßen mit der Frage: ‚Woran 
denkſt du?“ Siehſt du, ich ... Ach, mein Gott! Was ſchwatze ich 
denn da in die Kreuz und Quer wie verdreht... Weißt du, Rodion, 
deinen Aufſatz in der Zeitſchrift leſe ich jetzt ſchon zum dritten 
Male; Dmitri Prokofjitſch hat ihn mir gebracht. Ach fo, ach fo!‘ 
rief ich aus, als ich ihn las. ‚Was bin ich für eine Naͤrrin!' dachte 
jch bei mir. ‚Alſo mit ſolchen Dingen beſchaͤftigt er ИФ! Das Ш 
die Löfung des Raͤtſels! Die Gelehrten find alle fo. Er hat viel: 


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Sechſter Teil 791 


leicht gerade neue Gedanken im Kopfe und uͤberlegt ſich die, und 
da komme ich ihm dazwiſchen und quäle und belaͤſtige ihn!' Ich leſe 
deinen Aufſatz, lieber Sohn, aber verſtehen tue ich natuͤrlich nicht 
viel davon. Das iſt ja auch ganz natuͤrlich; wie ſollte ich denn auch!“ 

„Zeigen Sie ihn mir doch einmal, Mama.“ 

Raſkolnikow nahm die Zeitſchrift und warf einen fluͤchtigen 
Blick auf ſeinen Aufſatz. So wenig das auch zu ſeiner Lage und 
zu ſeinem Zuſtande paſſen wollte, ſo empfand er doch jenes 
eigentuͤmliche, wonnig kitzelnde Gefuͤhl, welches ein Verfaſſer 
durchkoſtet, der ſich zum erſten Male gedruckt ſieht; auch wirkten 
dabei ſeine dreiundzwanzig Jahre mit. Indes dauerte das nur 
einen Augenblick. Nachdem er einige Zeilen geleſen hatte, ver— 
finſterte ſich ſein Geſicht, und ein furchtbarer Gram preßte ihm 
das Herz zuſammen. Der ganze ſeeliſche Kampf, den er in den 
letzten Monaten durchgemacht hatte, kam ihm auf einmal wieder 
ins Gedaͤchtnis. Voll Widerwillen und Arger warf er die Zeit— 
ſchrift auf den Tiſch. 

„Aber wenn ich auch noch ſo dumm bin, Rodion, das kann ich 
doch beurteilen, daß du ſehr bald in unſerer Gelehrtenwelt einer, 
der erſten Maͤnner, wenn nicht der allererſte ſein wirſt. Und da 
haben die Leute gewagt zu meinen, du waͤreſt geiſtesgeſtoͤrt! 
Ha⸗ha⸗ha! Du weißt das nicht; aber fie haben das gedacht! Ach, 
dieſes niedrige Gewuͤrm; die haben ja keine Ahnung davon, was 
Verſtand И. Und Awdotja, Awdotja hat es auch beinahe ge— 
glaubt, — was ſagſt du dazu? Dein ſeliger Vater hat zweimal 
etwas an Zeitſchriften eingeſandt, das erſtemal Gedichte (ich habe 
das Heft aufbewahrt und will es dir bei Gelegenheit einmal 
zeigen) und das zweitemal eine ganze Novelle (er hatte mir auf 
meine Bitte erlaubt, ſie ſelbſt ins Reine zu ſchreiben). Und wie 
haben wir beide gebetet, daß die Einſendungen moͤchten ange— 
nommen werden; aber ſie wurden nicht angenommen! Ach, 


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792 Schuld und Suͤhne 


Rodion, vor ſechs, ſieben Tagen war ich ſo tieftraurig, als ich 
deine Kleidung ſah, und wie du wohnſt, und was du ißt. Aber 
jetzt ſehe ich ein, daß auch das wieder einmal dumm von mir war; 
denn wenn du nur wollteſt, fo koͤnnteſt du jetzt mit einem Schlage 
alles durch deinen Verſtand und durch dein Talent erreichen. Aber 
du willſt das vorlaͤufig nur nicht und biſt mit weit wichtigeren 
Dingen beſchaͤftigt ...“ 

„Iſt Awdotja nicht zu Hauſe, Mama?“ 

„Nein, Rodion. Sie iſt jetzt ſehr oft von Hauſe weg und laͤßt 
mich allein. Dmitri Prokofjitſch kommt häufig heran und ſitzt ein 
Weilchen bei mir; dafuͤr bin ich ihm ſehr dankbar. Er ſpricht 
immer von dir; der liebt und ſchaͤtzt dich ſehr, lieber Sohn. Was 
deine Schweſter angeht, ſo kann ich von ihr nicht ſagen, daß ſie 
gerade reſpektlos gegen mich waͤre. Ich beklage mich nicht uͤber 
ſie. Sie hat eben ihren eigenen Charakter und ich den meinigen. 
Sie hat jetzt irgendwelche Geheimniſſe vor mir; na, ich meiner— 
ſeits habe vor euch keine Geheimniſſe. Ich bin ja natuͤrlich der 
feſten Überzeugung, daß Awdotja ein ſehr kluges Mädchen iſt 
und außerdem mich und dich liebt, . .. aber ich weiß wirklich 
nicht, welchen Ausgang das alles noch nehmen wird. Zum Bci— 
ſpiel jetzt: du haſt mich gluͤcklich gemacht, Rodion, dadurch daß 
du hergekommen biſt; aber fie iſt durch ihre ewigen Spazier⸗ 
gaͤnge dieſer Freude verluſtig gegangen. Wenn ſie wiederkommt, 
will ich aber auch zu ihr ſagen: Als du weg warſt, iſt dein Bruder 
hier geweſen; aber du, wo haſt du wieder die Zeit verbracht?“ 
Verwoͤhne mich nur auch nicht zu ſehr, Rodion: wenn du kommen 
kannſt, ſo komm; kannſt du nicht, nun, dann iſt eben nichts zu 
machen, dann muß ich warten. Ich weiß ja doch, daß du mich 
liebſt, und das genuͤgt mir. Siehſt du, ich werde deine Abhand— 
lungen leſen und von allen Leuten etwas uͤber dich hoͤren, und 
ab und zu kommſt du auch ſelbſt einmal heran, um mich zu Бе: 


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Sechſter Teil 793 


ſuchen; was will ich mehr? Du biſt ja auch jetzt gekommen, um 
deiner Mutter eine Freude zu machen; das ſehe ich ja .. .“ 

Hier brach Pulcherig Alexandrowna plotzlich in Tränen aus. 

„Da weine ich ſchon wieder! Achte nicht auf mich Naͤrrin! 
Ach Gott, was ſitze ich denn hier!“ ſchrie ſie auf und ſprang von 
ihrem Platze in die Hoͤhe. „Es iſt ja Kaffee da, und ich ſetze dir 
keinen vor! Ja, ja, da ſieht man recht, daß alte Frauen immer 
nur an ſich ſelbſt denken. Sofort, ſofort!“ 

„Laſſen Sie, laſſen Sie, liebe Mama, ich gehe gleich wieder. 
Darum bin ich nicht gekommen. Bitte, hoͤren Sie mich an.“ 

Pulcheria Alexandrowna trat ſchuͤchtern zu ihm heran. 

„Liebe Mama, was auch geſchehen mag, was Sie auch uͤber 
mich hoͤren moͤgen, was man Ihnen auch uͤber mich ſagen mag, 
— werden Sie mich trotzdem ſo lieb behalten wie jetzt?“ fragte 
er ſo recht aus uͤberquellendem Herzen, ohne ſeine Worte zu be— 
denken und abzuwaͤgen. 

„Aber Rodion, Rodion, was iſt mit dir? Wie kannſt du nur ſo 
fragen! Und wer wird mir denn auch etwas Unguͤnſtiges uͤber 
dich ſagen? Ich wuͤrde es ja auch niemandem glauben; wer mit 
ſo etwas zu mir kaͤme, dem wuͤrde ich einfach die Tuͤre weiſen.“ 

„Ich bin hergekommen, um Ihnen zu ſagen, daß ich Sie immer 
geliebt habe, und ich bin jetzt froh, daß wir beide allein ſind; ja, 
ich bin ſogar froh, daß Awdotja nicht hier iſt,“ fuhr er in dem— 
ſelben herzlichen Tone fort. „Ich bin hergekommen, um Ihnen 
frei und offen zu ſagen, daß, wenn Sie auch ungluͤcklich werden 
ſollten, Sie doch uͤberzeugt ſein koͤnnen, daß Ihr Sohn Sie jetzt 
mehr liebt als ſich ſelbſt und daß alles, was Sie von mir ge— 
dacht haben, als waͤre ich hartherzig und haͤtte Sie nicht mehr 
lieb, daß das alles unrichtig iſt. Ich werde nie aufhoͤren, Sie 
zu lieben ... Nun aber genug; ich glaubte, Ihnen dies ſagen 
und damit beginnen zu muͤſſen . . .“ 


79 Schuld und Suͤhne 


Pulcheria ne umarmte ihn RER: drüdte ihn 
an ihre Bruſt und weinte ftill. 

„Ich weiß nicht, was mit dir iſt, Rodion,“ fagte fie endlich. „Ich 
habe die ganze Zeit her gedacht, wir waͤren dir einfach langweilig 
geworden; jetzt aber ſehe ich aus allem, was du ſagſt, daß dir ein 
großes Leid bevorſteht und du deshalb ſo befümmert biſt. Ich 
habe das ſchon lange geahnt, Rodion. Verzeih mir, daß ich davon 
angefangen habe; aber ich denke immerzu daran und kann keine 
Nacht ſchlafen. Die letzte ganze Nacht hat auch deine Schweſter 
fortwährend phantafiert und immer von dir geſprochen. Ich 
habe einige Worte davon verſtanden, konnte mich aber nicht 
daraus vernehmen. Den ganzen Vormittag bin ich umher— 
gegangen wie eine zum Tode Verurteilte; ich erwartete etwas, 
ahnte etwas, und nun iſt es eingetreten! Rodion, Rodion, wo 
willſt du hin? Willſt du vielleicht irgendwohin reiſen?“ 

„Ja, ich verreiſe.“ 

„Das habe ich mir doch gedacht! Aber da koͤnnte ich doch 
mit dir reifen, wenn du mich brauchen kannſt. Und Awdotja 
auch; ſie hat dich lieb, ſehr lieb; auch Sofja Semjonowna 
kann ja in Gottes Namen mit uns mitfahren, wenn es noͤtig 
iſt; ſiehſt du, ich will ſie gern an Tochter Statt aufnehmen. 
Dmitri Prokofjitſch wird uns behilflich fein, daß wir alle зи: 
ſammen rechtzeitig fertig werden ... Aber ... wohin willſt du 
denn reiſen?“ 

„Leben Sie wohl, liebe Mama.“ 

„Wie? Heute ſchon?“ rief ſie erſchrocken, als ſollte ſie ihn fuͤr 
immer verlieren. 

„Ich muß; ich habe keine Zeit mehr; es iſt durchaus notwendig.“ 

„Kann ich dich denn nicht begleiten?“ 

„Nein; aber knien Sie nieder und beten Sie für mich. Viel⸗ 
leicht findet Ihr Gebet Erhoͤrung.“ 


—— uJ. 131 rrU — — 


Sechſter Teil 795 


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„Komm, ich will dich bekreuzen und ſegnen! So! So! O Gott, 


was ſollen wir nur tun!“ 

Ja, er war froh, ſehr froh, daß niemand weiter da war, daß er 
mit der Mutter allein war. Es war, als ob im Ruͤckſchlage von 
dieſer ganzen ſchrecklichen Zeit ſein Herz nun auf einmal weich 
geworden waͤre. Er fiel vor ihr nieder, er kuͤßte ihre Fuͤße; 
weinend hielten ſie beide einander umſchlungen. Und nun war 
ſie nicht mehr erſtaunt und fragte ihn nach nichts mehr. Es war 
ihr ſchon lange klar geworden, daß mit ihrem Sohne etwas 
Schreckliches vorging und nun ein furchtbarer Augenblick fuͤr ihn 
heranruͤckte. 

„Rodion, mein Lieber, mein Erſtgeborener,“ ſagte ſie ſchluch— 
zend, „jetzt biſt du wieder ſo, wie du als kleiner Knabe warſt; da 
kamſt du ebenſo zu mir und umarmteſt mich und kuͤßteſt mich. 
Damals, als noch dein Vater lebte und er und ich zuſammen 
darbten, war ſchon allein das ein Troſt fuͤr uns, daß wir dich um 
uns hatten; und als ich deinen Vater begraben hatte, wie oft habe 
ich da an ſeinem Grabe dich ebenſo umſchlungen gehalten und 
geweint! Und daß ich jetzt ſchon ſo lange weine, das kommt da— 
her, daß mein Mutterherz dein Ungluͤck geahnt hat. So wie ich 
dich damals zum erſten Male erblickt hatte (erinnerſt du dich? 
am Abend, gleich nachdem wir hier angekommen waren), da er— 
riet ich gleich alles aus deinem bloßen Blicke, und es gab mir 
gleich einen Stich ins Herz; und heute, als ich dir aufmachte, da 
ſah ich, — Jetzt,“ dachte ich,, iſt ſicher die verhaͤngnisvolle Stunde 
gekommen!“ Rodion, Rodion, du wirft doch nicht jetzt gleich weg— 
re iſen?“ 

„Nein.“ 

„Du kommſt noch einmal her?“ 

„Ja, . . . ich komme.“ 

„Rodion, ſei mir nicht boͤſe, ich darf dich ja nicht zu viel fragen. 


796 Schuld und Sühne 


Ich weiß, daß ich es s nicht darf; aber nur ein paar leine Woͤrtchen 
ſage mir: reiſeſt du weit von hier fort?“ 

„Sehr weit.“ 

„Was haſt du denn dort? Bekommſt du da ein Amt? Beginnſt 
du da deine Laufbahn?“ 

„Ich nehme hin, was Gott mir ſendet ... Beten Sie nur Ни 
mich ...“ 

Raſkolnikow ging zur Tuͤr; aber ſie hielt ihn feſt und ſchaute 
ihm mit einem verzweiflungsvollen Blick in die Augen. Ihr Фе: 
ſicht war ganz entſtellt von Angſt. 

„Nun laß es genug fein, liebe Mama!“ ſagte Raſkolnikow und 
bereute tief, daß er auf den Gedanken gekommen war, hierher 
zu gehen. 

„Du gehſt doch nicht fuͤr immer fort? Doch noch nicht fuͤr 
immer? Du wirſt doch noch einmal herkommen? Kommſt du 
morgen her?“ 

„Ja, ich komme, ich komme! Leben Sie wohl!“ 

Endlich riß er ſich los. 

Der Abend war friſch, warm und heiter; das Wetter hatte ſich 
ſeit dem Vormittage aufgeklärt. Raskolnikow ging nach feiner 
Wohnung; er eilte. Vor Sonnenuntergang wollte er alles er: 
ledigt haben. Bis dahin wollte er mit niemand mehr zuſammen⸗ 
ſein. Als er zu ſeiner Wohnung hinaufſtieg, bemerkte er, daß 
Naftafja von dem Samowar, mit dem ſie beſchaͤftigt war, auf— 
ſchaute, ihn aufmerkſam anblickte und mit den Augen verfolgte. 
„Es wird doch nicht etwa jemand bei mir ſein?“ dachte er. Der 
Gedanke an Porfiri Petrowitſch fuhr ihm durch den Kopf und 
erregte ihm heftigen Widerwillen. Aber als er zu ſeinem Zimmer 
gelangt war und die Tuͤr oͤffnete, erblickte er Awdotja. Sie ſaß 
ganz allein, tief in Gedanken verſunken, da und mochte ſchon 
lange auf ihn gewartet haben. Er blieb auf der Schwelle ſtehen. 


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Sechſter Teil 797 


Sie erſchrak, erhob ſich langſam vom Sofa und blieb aufgerichtet 
vor ihm ſtehen. Ihr ſtarr auf ihn gerichteter Blick druͤckte Angſt 
und untroͤſtlichen Kummer aus. Schon allein an dieſem Blicke 
erkannte er ſofort, daß ſie alles wußte. 

„Soll ich zu dir hereinkommen, oder ſoll ich wieder weggehen?“ 
fragte er unſicher. 

„Ich habe den ganzen Tag bei Sofja Semjonowna geſeſſen; 
wir haben dort beide auf dich gewartet. Wir dachten, du wuͤrdeſt 
ſicher dorthin kommen.“ 

Raſkolnikow trat ins Zimmer und ſetzte ſich völlig erſchoͤpft 
auf einen Stuhl. 

„Ich bin etwas ſchwach, Awdotja, ſehr müde; und doch möchte 
ich gern, wenigſtens für dieſe Minute, meiner Kraft vollſtaͤndig 
maͤchtig ſein.“ 

Er warf ihr einen mißtrauiſchen Blick zu. 

„Wo biſt du denn die ganze Nacht geweſen?“ 

„Ich kann mich nicht mehr recht erinnern. Siehſt du, Schweſter, 
ich wollte zu einem definitiven Entſchluſſe gelangen und bin 
lange Zeit an der Newa auf und ab gegangen; daran erinnere 
ich mich. Ich wollte gleich dort ein Ende machen; aber . .. ich 
konnte mich nicht dazu entſchließen .. . fluͤſterte er und {аб da: 
bei Awdotja wieder mißtrauiſch an. 

„Gott ſei Dank! Und wie wir beide, ich und Sofja Semjo— 
nowna, gerade das gefuͤrchtet haben! Alſo haſt du den Glauben an 
das Leben doch noch nicht verloren; Gott ſei Dank, Gott ſei Dank!“ 

Raſkolnikow laͤchelte bitter. 

„Dieſen Glauben hatte ich freilich nicht; aber ich bin ſoeben bei 
unſerer Mutter geweſen, und wir haben uns umarmt und zu— 
ſammen geweint. Ich erhoffe vom Leben nichts mehr; aber doch 
habe ich ſie gebeten, fuͤr mich zu beten. Gott weiß, wie das alles 
zuſammenſtimmt, Awdotja; ich begreife nichts davon.“ 


98 Schuld und Suͤhne 


„Du biſt bei der Mutter geweſen? Du haſt es ihr geſagt?“ rief 
Awdotja erſchrocken. „Haſt du es wirklich uͤbers Herz gebracht, 
es ihr zu ſagen?“ 

„Nein, ich habe es ihr nicht geſagt, . .. nicht mit ausdruͤcklichen 
Worten; aber ſie hat manches davon durchſchaut. Sie hat in der 
Nacht gehoͤrt, wie du im Traum geſprochen haſt. Ich bin uͤber— 
zeugt, daß ſie bereits die Haͤlfte verſteht. Ich habe vielleicht uͤbel 
daran getan, daß ich zu ihr gegangen bin. Ich weiß eigentlich 
auch nicht, warum ich es getan habe. Ich bin ein gemeiner 
Menſch, Awdotja!“ 

„Du ein gemeiner Menſch und biſt doch willens, hinzugehen 
und das Leid auf dich zu nehmen! Du willſt doch hingehen?“ 

„Ja, ich will hingehen. Sogleich. Um dieſer Schande zu ent: 
gehen, wollte ich mich ſchon ertraͤnken, Awdotja; aber als ich 
ſchon am Waſſer ſtand, dachte ich: Haſt du dich bis jetzt fuͤr ſtark 
ge halten, jo darfſt du dich jetzt auch nicht vor der Schande fuͤrch— 
ten.“ Das war Stolz, Awdotja.“ 

„Ja, das war Stolz, Rodion.“ 

Es war, als leuchtete ein Feuer in ſeinen matten Augen auf; 
er ſchien ſich daruͤber zu freuen, daß er noch ſtolz ſein konnte. 

„Und du glaubſt nicht, Schweſter, daß ich einfach Angſt vor dem 
Waſſer hatte?“ fragte er und blickte ihr mit einem entſtellenden 
Laͤcheln ins Geſicht. 

„O, Rodion, hör auf!“ rief Awdotja bitter. 

Sie ſchwiegen etwa zwei Minuten lang. Er ſaß mit geſenktem 
Kopfe da und blickte auf den Fußboden; Awdotja ſtand am 
anderen Ende des Tiſches und betrachtete ihn mit tiefem Mit⸗ 
leide. Ploͤtzlich ſtand er auf: 

„Es iſt ſchon ſpaͤt, es wird Zeit! Ich gehe ſogleich hin und gebe 
mich an. Aber warum ich das tue, das weiß ich nicht.“ 

Große Traͤnen liefen uͤber Awdotjas Wangen. 


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Sechſter Teil 799 


„Du weinft, Schwefter? Kannft du es über dich gewinnen, mir 
die Hand zu geben?“ 

„Haſt du daran gezweifelt?“ 

Sie umarmte ihn innig. 

„Machſt du nicht dadurch, daß du hingehſt und dich dem Leide 
darbieteſt, dein Verbrechen ſchon zur Hälfte wieder gut?“ rief 
ſie, indem ſie ihn feſt an ſich druͤckte und kuͤßte. 

„Mein Verbrechen? Was fuͤr ein Verbrechen?“ rief er auf ein— 
mal in einer Art von ploͤtzlichem Wutanfall. „Daß ich eine 
garſtige, gemeinſchaͤdliche Laus getoͤtet habe, eine alte Wucherin, 
die niemandem etwas nuͤtze war, fuͤr deren Ermordung einem 
eigentlich viele Suͤnden vergeben werden muͤßten, die armen 
Leuten das Lebensblut ausſog, das ſoll ein Verbrechen ſein? 
Ich halte es nicht dafuͤr und habe gar nicht vor, es wieder gut 
zu machen. Warum ſchreit man mir denn von allen Seiten zu: 
‚Ein Verbrechen, ein Verbrechen!“ Jetzt erſt erkenne ich klar, wie 
grundtoͤricht mein Kleinmut war, jetzt, wo ich mich ſchon ent— 
ſchloſſen habe, ganz unnoͤtigerweiſe dieſe Schande auf mich zu 
nehmen! Lediglich weil ich ein geringwertiger, talentloſer Menſch 
bin, habe ich mich dazu entſchloſſen, und vielleicht auch noch, weil 
ich dadurch auf einen Vorteil ſpekuliere, wie mir das dieſer ... 
Porfiri ... nahegelegt hat! ...“ 

„Bruder, Bruder! Was redeſt du da! Du haſt doch Blut ver— 
goſſen!“ rief Awdotja verzweiflungsvoll. 

„Blut vergießen ſie alle,“ fiel er ihr faſt raſend ins Wort. „Blut 
wird in der Welt vergoſſen maſſenhaft wie ein Waſſerfall und iſt 
immer fo vergoſſen worden; Blut wird vergoſſen wie Cham: 
pagner, und fuͤr das Blutvergießen wird man auf dem Kapitol 
gekroͤnt und nachher ein Wohltaͤter der Menſchheit genannt. 
Mach doch nur die Augen auf und ſieh genauer hin! Ich ſelbſt 
wollte den Menſchen Gutes erweiſen und haͤtte hundert, tauſend 


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800 Schuld und Suͤhne 


gute Taten dolle zum Ausgleich fuͤr dieſe eine Dummheit, 
die nicht einmal eine Dummheit war, ſondern lediglich eine Un— 
geſchicklichkeit; denn der ganze Gedanke war gar nicht ſo dumm, 
wie er jetzt nach dem Mißlingen ausſieht ... (was mißlingt, 
ſieht immer dumm aus!). Durch dieſe Dummheit wollte ich mir 
nur eine unabhaͤngige Poſition ſchaffen, den erſten Schritt tun, 
die Mittel erlangen, und ſpaͤter waͤre dann alles durch einen un— 
verhältnismäßig viel größeren Nutzen aufgewogen worden ... 
Aber meine Kraft hat nicht einmal fuͤr den erſten Schritt aus— 
gereicht, weil ich eben nur fo ein Lump bin. Das iſt der Kern: 
punkt! Ich kann die Sache nicht von eurem Standpunkte aus 
anſehen; waͤre es mir gelungen, ſo wuͤrde man mich bekraͤnzen; 
aber jetzt muß ich in den Kerker!“ 

„Aber die Sache liegt doch anders, ganz anders! Bruder, was 
redeſt du da nur!“ 

„Aha, es war wohl nicht die richtige Form, keine aͤſthetiſch ſchoͤne 
Form! Nun, ich kann ſchlechterdings nicht abſehen, warum es 
eine anſtaͤndigere Form ſein ſoll, wenn man die Menſchen mit 
Bomben oder mittelſt einer regulaͤren Belagerung ums Leben 
bringt. Die aͤngſtliche Ruͤckſicht auf die Aſthetik iſt das erſte 
Zeichen von Schwäche! ... Niemals, niemals habe ich das 
klarer begriffen als jetzt, und weniger als je verſtehe ich, worin 
denn mein Verbrechen beſtehen ſoll! Niemals, niemals war ich 
feſter in meiner Überzeugung als jetzt!“ 

Sein blaſſes, abgemagertes Geſicht hatte ordentlich Farbe ge— 
wonnen. Aber als er den letzten Satz ſprach, begegnete ſein Blick 
unverſehens dem Blicke Awdotjas, und er las darin fo viel qual: 
volles Mitleid mit ihm, daß er unwillkuͤrlich wieder zur Be— 
ſinnung kam. Er fuͤhlte, daß er trotz ſeiner ſchoͤnen Theorien 
dieſe beiden armen Frauen unglüdlich gemacht hatte; er blieb 
immer doch die Urſache ihres Leides. 


{ 


Sechſter Teil 801 


„Awdotja, liebe Schweſter! Bin ich ſchuldig, ſo vergib mir 
(freilich, wenn ich wirklich ſchuldig bin, ſo kann ich eigentlich gar 
keine Vergebung finden). Lebe wohl! Wir wollen nicht mit— 
einander ſtreiten! Es iſt Zeit fuͤr mich, hohe Zeit. Folge mir 
nicht, ich bitte dich dringend; ich muß noch zu jemand herangehen. 
... Sondern geh jetzt und ſetze dich ſogleich zu unſerer Mutter. 
Darum bitte ich dich inſtaͤndig! Das iſt meine letzte, groͤßte Bitte 
an dich. Weiche dieſe ganze Zeit uͤber nicht von ihr; ich habe ſie 
in einer Unruhe verlaſſen, die ſie kaum uͤberſtehen wird: ſie wird 
entweder ſterben oder den Verſtand verlieren. Bleibe um ſie. 
Raſumichin wird euch eine Stuͤtze ſein; ich habe ihn darum ge— 
beten ... Weine nicht um mich; ich werde mich bemühen, mann: 
haft und ehrenhaft zu ſein mein ganzes Leben lang, obgleich ich 
ein Moͤrder bin. Vielleicht hoͤrſt du noch einmal meinen Namen. 
Ich werde euch keine Schande machen, das ſollſt du ſehen; ich 
werde ſchon noch zeigen, daß ich . . . Jetzt vorläufig auf Wieder: 
ſehen!“ ſchloß er haſtig, da er bei feinen letzten Worten und Зет: 
ſprechungen wieder einen eigentuͤmlichen Ausdruck in Awdotjas 
Augen bemerkte. „Warum weinſt du denn ſo? Weine nicht, 
weine nicht; wir trennen uns ja nicht für immer! ... Ach ja, 
warte, das hatte ich vergeſſen!“ 

Er trat an den Tiſch, ergriff ein dickes, verſtaubtes Buch, ſchlug 
es auf und nahm ein kleines Portraͤt heraus, das zwiſchen den 
Blaͤttern lag. Es war ein auf Elfenbein gemaltes Aquarell und 
ſtellte die Tochter feiner Wirtin dar, feine frühere Braut, die am 
Fieber geſtorben war, eben jenes ſeltſame junge Maͤdchen, das 
in ein Kloſter hatte gehen wollen. Etwa eine Minute lang be— 
trachtete er dieſes ausdrucksvolle, kraͤnkliche Geſichtchen; dann 
kuͤßte er das Bild und reichte es Awdotja hin. 

„Mit dieſem Maͤdchen habe ich viel auch uͤber meine Ideen ge— 
ſprochen, mit ihr allein,“ ſagte er, in Nachſinnen verloren. „Dieſer 
XIX. п. 


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2 1 


802 Schuld und Suͤhne 


treuen Seele habe ich viel von dem mitgeteilt, was ſpaͤter in ſo 
haͤßlicher Weiſe zur Wirklichkeit geworden iſt. Beunruhige dich 
nicht,“ wandte er ſich an Awdotja, „fie ſtimmte mir nicht bei, 
ebenſowenig wie du, und ich freue mich, daß ſie nicht mehr am 
Leben iſt. Die Hauptſache iſt, daß jetzt alles einen neuen Anfang 
nimmt, mein ganzes bisheriges Daſein zerbrochen und beſeitigt 
wird,“ rief er ploͤtzlich, wieder in ſeine verzweifelte Stimmung 
zuruͤckſinkend, „mein ganzes bisheriges Daſein! Aber bin ich auch 
dazu vorbereitet? Iſt das auch mein eigener Wille? Es heißt, es 
ſei notwendig zu meiner Pruͤfung! Aber wozu, wozu all dieſe 
ſinnloſen Pruͤfungen? Wozu ſind ſie? Werde ich denn nach 
zwanzigjaͤhriger Zwangsarbeit, niedergebeugt durch die Qualen 
und das ſtumpfſinnige Leben, ein vorzeitiger, kraftloſer Greis, 
werde ich denn dann ein beſſeres Verſtaͤndnis haben als jetzt? 
Und wozu ſoll ich dann noch leben? Warum willige ich denn jetzt 
ein, ſo zu leben? O, ich wußte, daß ich ein Lump bin, als ich 
heute im Morgengrauen an der Newa ſtand!“ 

Endlich gingen ſie beide hinaus. So ſchwer es ihr der Bruder 
machte, Awdotja liebte ihn dennoch! Sie ging weg; nachdem 
fie aber fünfzig Schritte gegangen war, wandte fie ſich noch ет: 
mal um, um ihm nachzuſehen. Er war noch ſichtbar. Aber als 
er an die Straßenecke gelangt war, wandte er ſich gleichfalls um, 
und ihre Blicke trafen ſich zum letzten Male. Sowie er jedoch 
bemerkte, daß ſie nach ihm ſah, winkte er ihr ungeduldig, ja 
ärgerlich mit der Hand, fie möchte weitergehen, und bog ſelbſt 
kurz um die Ecke. 

„Ich habe einen ſchlechten Charakter, das ſehe ich wohl,“ dachte 
er eine Minute darauf, indem er ſich ſeiner Handbewegung gegen 
Awdotja ſchaͤmte. „Aber weshalb lieben mich denn meine Mutter 
und meine Schweſter ſo, wenn ich es nicht verdiene? Ach, haͤtte 
ich doch allein dageſtanden, und haͤtte niemand mich geliebt, und 


7 


Sechſter Teil 803 


hätte ich ſelbſt nie jemand geliebt! Dann waͤre das alles nicht 
geſchehen! Ich moͤchte wohl wiſſen, ob dieſe bevorſtehenden fuͤnf— 
zehn oder zwanzig Jahre meine Seele ſo niederbeugen werden, 
daß ich dann demuͤtig vor den Leuten herumwinſele und mich 
ſelbſt fortwährend einen Räuber nenne. Jedenfalls! Darum 
eben ſchicken ſie mich ja jetzt nach Sibirien; gerade das be— 
zwecken fie... Da rennen nun alle die Menſchen auf den Straßen 
hin und her, und jeder von ihnen ift ſchon feiner ganzen Charakter- 
anlage nach ein Schurke und Raͤuber, ja noch Schlimmeres: 
ein Idiot! Aber das Gericht ſollte einmal verſuchen, mir die 
Verſchickung nach Sibirien zu erſparen, — da wuͤrden ſie alle 
aus der Haut fahren vor edler Entruͤſtung! O, wie ich ſie alle 
haſſe!“ 

Er verſank in Nachdenken uͤber die Frage, durch welchen Ent— 
wicklungsprozeß es wohl dahin kommen koͤnne, daß er ſich ſchließ— 
lich vor allen dieſen Menſchen widerſpruchslos demuͤtige, ſich 
aus Überzeugung demuͤtige. „Nun ja,“ ſagte er ſich, „warum 
ſollte es denn auch nicht dahin kommen? Gewiß, das muß ja ſo 
ſein. Als ob zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes einen 
Menſchen nicht gruͤndlich muͤrbe machen koͤnnten! Steter Trop— 
fen hoͤhlt den Stein. Aber wozu, wozu ſoll ich denn dann nach 
alledem noch weiterleben? Warum gehe ich jetzt hin, wenn ich 
doch ſelbſt weiß, daß alles genau ſo kommen wird, wie es im 
Buche ſteht, und nicht anders!“ 

Er legte ſich dieſe Frage ſeit dem vorhergehenden Abend viel— 
leicht ſchon zum hundertſten Male vor; aber er ging dennoch hin. 


VIII 


Als er zu Sofja ins Zimmer trat, begann es ſchon zu daͤmmern. 
Den ganzen Tag uͤber hatte Sofja in ſchrecklicher Aufregung auf 
ihn gewartet, zuſammen mit Awdotja. Dieſe war ſchon am Mor: 


804 Schuld und Suͤhne 


gen zu ihr gekommen, da ſie ſich der Angabe Swidrigailows er— 
innerte, daß Sofja uͤber Raſkolnikows Tat alles wiſſe. Wir be— 
abſichtigen nicht, das Geſpraͤch der beiden Maͤdchen in ſeinen 
Einzelheiten zu ſchildern, auch nicht, wie ſie miteinander weinten, 
und wie fie einander ſeeliſch näherrüdten. Awdotja nahm von 
dieſem Zuſammenſein wenigſtens den einen Troſt mit, daß ihr 
Bruder nicht allein ſein werde: zu Sofja war er zuerſt mit ſeiner 
Beichte gegangen; in ihr hatte er einen Menſchen geſucht, als er 
einen Menſchen brauchte; und ſie war auch entſchloſſen, ihm zu 
folgen, wohin auch immer das Schickſal ihn fuͤhren wuͤrde. Aw— 
dotja fragte danach gar nicht erſt; ſie wußte, daß es ſo ſein werde. 
Sie blickte auf Sofja ſogar mit einer Art von Ehrfurcht und ſetzte 
dieſe am Anfang durch ihr reſpektvolles Benehmen ſtark in Ver: 
wirrung. Sofja war nahe daran, in Traͤnen auszubrechen; ſie 
hielt ſich ihrerſeits fuͤr unwuͤrdig, Awdotja auch nur anzublicken. 
Das ſchoͤne Bild Awdotjas, wie dieſe bei ihrer erſten Begegnung 
in Raſkolnikows Zimmer ſich ſo hoͤflich und achtungsvoll von ihr 
verabſchiedete, hatte ſich ſeitdem ihrer Seele fuͤr das ganze Leben 
eingepraͤgt, als eine der ſchoͤnſten, begluͤckendſten Erinnerungen. 

Awdotzja hatte es ſchließlich nicht laͤnger aushalten koͤnnen und 
war von Sofja weggegangen, um ihren Bruder in ſeiner Woh— 
nung zu erwarten; fie meinte immer, dorthin würde er doch zus 
erſt kommen. Als Sofja allein geblieben war, begann fie ſich fo: 
gleich mit dem Gedanken zu aͤngſtigen, er werde vielleicht wirk⸗ 
lich Selbſtmord begehen. Dieſelbe Befürchtung hegte auch Am: 
dotja. Aber die beiden Maͤdchen hatten den ganzen Tag uͤber 
mit allen möglichen Gründen wetteifernd einander zu über: 
zeugen geſucht, daß dies ausgeſchloſſen ſei, und hatten ſich ruhiger 
gefuͤhlt, ſolange ſie beiſammen waren. Jetzt aber, ſowie ſie ſich 
getrennt hatten, hatte ſowohl die eine wie die andere keinen 
anderen Gedanken. Sofja erinnerte ſich, wie Swidrigailow 


Sechſter Teil 805 


geſtern zu ihr geſagt hatte, Raſkolnikow habe nur zwei Wege vor 
ſich: Sibirien oder —. Zudem kannte ſie ſeine Eitelkeit, ſeinen 
Hochmut, ſein Ehrgefuͤhl und ſeinen Unglauben. 

„Sind denn wirklich Kleinmut und Furcht vor dem Tode die 
einzigen Beweggruͤnde, die ihn veranlaſſen koͤnnen weiter— 
zuleben?“ dachte ſie ſchließlich verzweiflungsvoll. 

Unterdes war die Sonne ſchon tief geſunken. Sofja ſtand traurig 
am Fenſter und blickte unverwandt hinaus; aber da war nichts 
zu ſehen als die ungetuͤnchte, fenſterloſe Seitenmauer des vor: 
ſpringenden Nachbarhauſes. Endlich, als ſie von dem Tode des Un— 
gluͤcklichen ſchon ganz feſt uͤberzeugt war, trat er zu ihr ins Zimmer. 

Ein Freudenſchrei entrang ſich ihrer Bruſt. Aber als ſie ihm 
forſchend ins Geſicht blickte, wurde ſie ploͤtzlich blaß. | 

„Nun ja,“ ſagte Raſkolnikow laͤchelnd, „ich komme, mir dein 
Kreuz zu holen, Sofja. Du haſt mich ja ſelbſt auf den Kreuzweg 
geſchickt; iſt dir etwa jetzt, wo es ſo weit iſt, bange geworden?“ 

Sofja blickte ihn beſtuͤrzt an. Dieſer Ton erſchien ihr ſo ſeltſam; 
ein Froſtzittern lief uͤber ihren Koͤrper hin; aber einen Augen— 
blick darauf durchſchaute ſie es ſchon, daß dieſer Ton und dieſe 
Worte erkuͤnſtelt waren. Auch ſah er, waͤhrend er zu ihr ſprach, 
nach einer Ecke hin und vermied es anſcheinend, ihr ins Geſicht 
zu blicken. 

„Siehſt du, Sofja, ich habe mir geſagt, daß es ſo fuͤr mich wohl 
auch am vorteilhafteſten ſein wird. Es kommt naͤmlich in Be— 
tracht . .. Aber es dauert zu lange, das auseinanderzuſetzen, und 
es hat auch keinen Zweck. Weißt du, mich aͤrgert bloß eines. 
Was mich aͤrgert, iſt, daß alle dieſe dummen, viehiſchen Fratzen 
mich ſofort umringen und mit ihren Glotzaugen anſtarren werden, 
daß dieſe Bande mir ihre dummen Fragen vorlegen wird, auf 
die ich dann Antwort geben muß, und daß die Leute mit Fingern 
auf mich zeigen werden . .. Pfui Teufel! Weißt du, ich werde 


806 Schuld und Suͤhne 


nicht zu Porfiri gehen; den habe ich ſatt bekommen. Ich will 
lieber zu meinem Freunde Schießpulver gehen; den werde ich 
in Erſtaunen verſetzen; da werde ich einen ganz eigenartigen 
Effekt erzielen. Ich müßte nur mehr Kaltbluͤtigkeit dabei zeigen; 
aber ich bin in der letzten Zeit gar zu reizbar geworden. Kannſt 
du das glauben: ich habe ſoeben meiner Schweſter beinahe mit der 
Fauſt gedroht, bloß weil ſie ſich umwandte, um mir noch einen 
letzten Blick zuzuwerfen. Ein ganz abſcheulicher Zuſtand! Ja, 
ja, ſo weit iſt es mit mir gekommen! Nun alſo, wo haſt du die 
Kreuze?“ 

Er hatte ſich ſelbſt gar nicht in der Gewalt. Nicht einen ЭГидеп: 
blick konnte er ruhig auf einem Flecke ſtehen, konnte ſeine Auf— 
merkſamkeit nicht auf einen einzelnen Gegenſtand konzentrieren; 
feine Gedanken huͤpften einer über den anderen weg; er ver: 
wirrte ſich beim Reden; ſeine Haͤnde zitterten leiſe. 

Sofja nahm ſchweigend aus einem Kaſten zwei Kreuze heraus, 
eines aus Zypreſſenholz und ein kupfernes, bekreuzte ſich ſelbſt, 
bekreuzte ihn, und haͤngte ihm das aus Zypreſſenholz auf die 
Bruſt. 

„Das iſt alſo nun ein Symbol dafuͤr, daß ich das Kreuz auf 
mich nehme, he-he! Als haͤtte ich bis jetzt nur wenig gelitten! 
Aus Zypreſſenholz, wie es gewoͤhnliche Leute tragen; das 
kupferne hat alſo Liſaweta gehoͤrt; das nimmſt du nun fuͤr dich; 
zeig es doch mal her! Alſo das hat Liſaweta früher umgehabt... 
Ich beſinne mich auch auf zwei aͤhnliche ſolche Kreuze und ein 
ſilbernes Heiligenbildchen. Ich warf ſie damals dem alten Weibe 
auf die Bruſt. Die wuͤrden mir jetzt zupaß kommen, wahrhaftig, 
die ſollte ich mir umhaͤngen .. . Aber ich ſchwatze und ſchwatze 
und vergeſſe den Zweck meines Beſuches; ich bin fo zerſtreut! ... 
Siehſt du, Sofja, ich bin eigentlich bloß hergekommen, um es dir 
vorher mitzuteilen, damit du es weißt .. . Що das war der 


— РАЦИИ 


Sechſter Teil 807 


—— 4 


ganze Zweck . .. Bloß deshalb bin ich hergekommen. (Hm! Ich 
dachte uͤbrigens, ich würde dir noch mehr zu ſagen haben.) Du 
haſt ja doch ſelbſt gewollt, daß ich hingehen ſollte; na, da werde 
ich nun alſo im Gefaͤngnis ſitzen, und dein Wunſch wird erfuͤllt 
werden. Aber warum weinſt du denn? Du auch? Hoͤr doch 
auf, laß es genug ſein; ach, wie ſchwer iſt das alles fuͤr mich!“ 

Indes ward doch bei ihm das Mitleid rege; ſein Herz zog ſich 
bei ihrem Anblicke ſchmerzlich zuſammen. „Auch die weint? 
Auch die? Warum?“ dachte er bei ſich. „Was bin ich ihr? War— 
um weint ſie? Warum iſt ſie um mich beſorgt wie die Mutter 
und Awdotja? Sie wird wohl meine Kinderfrau werden!“ 

„Bekreuze dich und bete doch nur ein einziges Mal!“ bat Sofja 
mit zitternder, ſchuͤchterner Stimme. 

„O, meinetwegen, ſoviel du nur wuͤnſcheſt! Und ich tue es 
von Herzen, Sofja, von Herzen ...“ 

Indeſſen wollte er eigentlich etwas ganz anderes ſagen. 

Er bekreuzte ſich mehrere Male. Sofja ergriff ihr Tuch und 
legte es ſich um den Kopf. Es war ein gruͤnes Tuch von drap 
de dame, wahrſcheinlich dasſelbe, von dem Marmeladow damals 
geſprochen hatte, das Familientuch. Eine fluͤchtige Erinnerung 
daran kam Raſkolnikow in den Sinn; aber er fragte weiter nicht. 
Er begann ſich nun ſeiner ſchrecklichen Zerſtreutheit und un— 
gewöhnlichen Aufregung bewußt zu werden und bekam einen 
großen Schreck darüber. Auch überrafchte es ihn, daß Sofja mit 
ihm mitgehen wollte. 

„Was haſt du denn? Wo willſt du hin? Bleib nur hier, bleib 
hier! Ich gehe allein!“ rief er aͤngſtlich und aͤrgerlich und ging 
beinahe erboſt zur Tuͤr. „Was ſoll ich denn da mit einer ganzen 
Eskorte!“ murmelte er beim Hinausgehen. 

Sofja blieb mitten im Zimmer ſtehen. Er hatte nicht einmal 
Abſchied von ihr genommen und dachte ſchon gar nicht mehr an 


Ze д Nen 


8 Schuld und Sühne 2 


йе; nur ein peinigendet, redelliſcher Zweifel verjegte ſeine Seele 
in arge Unruhe. 

Iſt das auch wirklich das Richtige? / dachte er wieder, während 
er die Treppe hinunterging. „Kann ich nicht noch einhalten und 
alles wieder umaͤndern .. und dieſen Gang unterlaſſen?“ 

Ader er ging trotzdem. Es kam ihm auf einmal die beſtimmte 
Empfindung, daß es zwecklos ſei, ſich weitere Fragen vorzulegen. 
Als er auf die Straße hinaustrat, fiel ihm ein, daß er von боба 
nicht Adſchied genommen hatte und daß fie mitten im Zimmer 
in ihrem grünen Tuche ſtehen geblieben war und nicht gewagt 
hatte ſich zu ruͤhren, nachdem er ſie ſo angefahren hatte. Dieſe 


Erinnerung ließ ihn einen Augenblick ſtehen bleiben. Aber gleich⸗ 


zeitig leuchtete in ſeinem Gehirn grell noch ein anderer Gedanke 
auf, der nur auf dieſen Zeitpunkt gewartet zu haben ſchien, um 
ihn vollftändig aus der Faſſung zu bringen. 

„Nun, warum, wozu bin ich jetzt eben bei ihr geweſen? Ich 
hade zu ihr gejagt, mein Beſuch hätte einen Zweck; was hatte 
er denn für einen Zweck? Überhaupt gar keinen! Ihr mitzu⸗ 
teilen, daß ich nun hingehe, nicht wahr? Dieſe Mitteilung war 
auch hoͤchſt nötig! Liebe ich etwa dieſes Mädchen? Doch wohl 
nicht! Ich habe ſie ja ſoeben wie einen Hund von mir gewieſen. 
War es mir denn ein wirkliches Beduͤrfnis, von ihr das Kreuz 
zu dekommen? O, wie tief bin ich geſunken! Nein, ich hatte das 
Bedürfnis, ihre Tränen und ihre Angſt zu ſehen; ich wollte ſehen, 
wie ihr das Herz weh tut, und wie ſie leidet! Ich hatte das Be⸗ 
duͤrfnis, mich an irgend etwas anzuflammern, die Ausführung 
meines Entſchluſſes noch Binzuzögern, noch einen Menſchen zu 
ſehen! Und ich, ich habe es gewagt, ſo gewaltige Hoffnungen 
auf mich zu ſetzen, mich {о phantaſtiſchen Träumereien über 
meine Zukunft hinzugeben, — und bin ein armſeliges, wertloſes 
Sudjeft, ein Lump, ein Lump!“ 


r о ³˙ ee 


Sechſter Teil 809 


Er ſchritt die Kanalſtraße entlang und hatte nicht mehr weit 
bis zu ſeinem Ziele. Als er aber bis zur Bruͤcke gekommen war, 
blieb er ſtehen, bog zur Seite ab auf die Bruͤcke und ging nach 
dem Heumarkte. 

Begierig ſchaute er nach rechts und nach links und richtete mit 
Anſtrengung ſeine Blicke auf einen jeden Gegenſtand, konnte 
aber mit feiner Aufmerkſamkeit bei keinem ausharren; alles ent— 
glitt ihm ſofort wieder. „In einer Woche, in einem Monat werde 
ich im Gefaͤngniswagen uͤber dieſe Bruͤcke fahren; mit welchen 
Gefuͤhlen werde ich dann auf dieſen Kanal blicken? Ich ſollte 
mir ſein Bild bis dahin einpraͤgen!“ fuhr es ihm durch den Kopf. 
„Dieſes Ladenſchild da, mit welchen Gefuͤhlen werde ich dann 
dieſe ſelben Buchſtaben leſen? In der Aufſchrift iſt ein ortho— 
graphiſcher Fehler, ein falſches a; ich moͤchte mir dieſen Buch— 
ſtaben a merken und ihn nach einem Monat wieder anſehen; mit 
welchen Gefuͤhlen werde ich es dann wohl tun? Was werde ich 
dann empfinden und denken? ... Mein Gott, wie unwuͤrdig 
und gemein das alles iſt, . .. daß ich mich um ſolche Dinge jetzt 
noch kuͤmmere! Freilich, dies alles iſt auch wieder ſehr inter— 
eſſant ... in feiner Art .. (Ha⸗ha⸗ha! Was kommen mir bloß 
fuͤr Gedanken in den Kopf!) Ich werde geradezu zum Kinde 
und tue vor mir ſelber groß. Na, aber warum ſchelte ich mich 
deswegen? O, o! Was iſt hier fuͤr ein Gedraͤnge! Da, der 
dicke Kerl, der mich geſtoßen hat (gewiß ein Deutſcher), ob der 
wohl weiß, wen er geſtoßen hat? Hier bettelt eine Frau mit 
einem Kinde; es iſt doch intereſſant, daß fie mich für gluͤcklicher 
hält als ſich. Der Kurioſitaͤt halber ſollte ich ihr etwas geben. 
Sieh, da hat ſich ja noch ein Fuͤnfkopekenſtuͤck in meiner Taſche 
erhalten; wie geht das zu? Da, nimm, Muͤtterchen, da!“ 

„Gott lohne es Ihnen!“ erwiderte die Bettlerin in weiner— 
lichem Tone. 


810 Schuld und Suͤhne 


Er betrat den Heumarkt. Es war ihm unangenehm, ſehr un— 
angenehm, ſich zwiſchen dem Volke herumzudraͤngen; aber er 
ging gefliſſentlich dahin, wo das größte Gewuͤhl war. Er hätte 
wer weiß was darum gegeben, allein zu ſein; aber er fuͤhlte 
ſelbſt, daß er es nicht einen Augenblick allein wuͤrde aushalten 
konnen. Inmitten eines Volkshaufens vollfuͤhrte ein Betrunkener 
ſeine Narrheiten: er verſuchte fortwaͤhrend zu tanzen, fiel aber 
immer ſeitwaͤrts auf die Erde. Ein dichter Kreis von Zuſchauern 
umgab ihn. Raſkolnikow drängte ſich durch den Haufen hindurch, 
ſah dem Betrunkenen ein Weilchen zu und lachte ploͤtzlich kurz 
und ſcharf auf. Einen Augenblick darauf hatte er ihn bereits ver— 
geſſen; ja, er ſah ihn gar nicht mehr, wiewohl er die Augen auf 
ihn gerichtet hielt. Er trat ſchließlich zuruͤck, ohne daß er ſich be— 
wußt geweſen waͤre, wo er ſich uͤberhaupt befand; aber als er bis 
zur Mitte des Platzes gelangt war, ging plößlich in feinem Innern 
eine Bewegung vor; eine beſtimmte Empfindung ergriff ihn mit 
einem Male und nahm ihn mit Leib und Seele in ihren Bann. 

Es waren ihm Sofjas Worte eingefallen: „Geh zu einem Kreuz⸗ 
wege, verbeuge dich vor allem Volke, kuͤſſe die Erde, weil du dich 
auch gegen ſie verſuͤndigt haſt, und ſage laut zu der ganzen Welt: 
Ich bin ein Moͤrder!“ Er zitterte am ganzen Koͤrper bei dieſer 
Erinnerung. Und bis zu dem Grade hatte ihn die verzweifelte 
Angſt und Unruhe dieſer ganzen Zeit, und beſonders der letzten 
Stunden, bereits muͤrbe gemacht, daß er ſich mit einer wahren 
Begierde in dieſe reine, neue, kraftige Empfindung hineinſtuͤrzte. 
Wie ein Anfall war es ploͤtzlich uͤber ihn gekommen; es war, als 
haͤtte ſich in ſeiner Seele ein Funke entzuͤndet und dann mit ge⸗ 
падет Geſchwindigkeit die Flamme ihn ganz und gar er— 
griffen. Sein ganzes Inneres wurde auf einmal weich, und die 
Traͤnen ſtuͤrzten ihm hervor. An dem Flecke, wo er ſtand, fiel 
er auf den Boden. 


Dr 


Sechſter Teil 811 


Mitten auf dem Platze kniete er nieder, verbeugte fich bis zur 
Erde und kuͤßte dieſe ſchmutzige Erde gluͤckſelig und voll Wonne. 
Dann ſtand er auf und verbeugte ſich ein zweites Mal. 

„Na, der hat ſich gehoͤrig beduſelt!“ bemerkte neben ihm ein 
junger Burſche. 

Die Leute lachten. 

„Der geht nach Jeruſalem, Bruͤder, und nimmt vorher von 
ſeinen Kindern und von ſeiner Heimat Abſchied, verneigt ſich 
vor der ganzen Welt und kuͤßt die Reſidenzſtadt Petersburg und 
ihren Boden!“ fügte ein etwas angetrunkener Klein buͤrger hinzu. 

„Es iſt doch noch ſo ein junges Buͤrſchchen!“ meinte ein dritter. 

„Einer aus den hoͤheren Staͤnden!“ bemerkte jemand mit 
ernſter, ruhiger Stimme. 

„Das kann man heutzutage nicht mehr unterſcheiden, ob einer 
zu den hoͤheren Staͤnden gehoͤrt oder nicht.“ 

Alle dieſe Ausrufe und Bemerkungen hielten Raſkolnikow von 
Weiterem zuruͤck, und die Worte: „Ich habe einen Mord be— 
gangen“, die ihm vielleicht ſchon auf den Lippen ſchwebten, er— 
ſtickten ungeſprochen. Er ertrug indeſſen alle dieſe Außerungen 
des Publikums mit Ruhe und ging, ohne ſich umzuſehen, durch 
eine Seitengaſſe geradeswegs nach dem Polizeibureau. Unter— 
wegs glaubte er einen Augenblick lang eine huſchende Geſtalt 
zu ſehen; aber er wunderte ſich daruͤber nicht; er hatte ſchon ge— 
ahnt, daß es wohl ſo kommen werde. Waͤhrend er ſich auf dem 
Heumarkte zum zweiten Male bis zur Erde verneigte, hatte er 
bei einer zufälligen Wendung nach links in einer Entfernung von 
etwa fuͤnfzig Schritten Sofja erblickt. Sie hatte ſich dann vor 
ihm hinter einer der hoͤlzernen Buden verſteckt, die auf dem 
Platze ſtanden. Alſo hatte ſie ihn auf ſeinem ganzen Leidens— 
wege begleitet! Raſkolnikow fuͤhlte und begriff in dieſem Augen— 
blicke fuͤr immer, daß Sofja jetzt lebenslaͤnglich bei ihm bleiben 


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812 Schuld und Suͤhne 


und ihm bis ans Ende der Welt folgen werde, mochte ihn das 
Schickſal führen, wohin es wollte. Das Herz ſchwoll ihm, .. 
aber da war er auch bereits an der verhaͤngnisvollen Stelle an— 
gelangt... 

Ziemlich gefaßten Mutes betrat er den Hof. Er mußte zum 
vierten Stockwerk hinaufſteigen. „Vorlaͤufig ſteige ich nur erſt 
die Treppe hinauf,“ dachte er. Überhaupt hatte er die Vor: 
ſtellung, als laͤge der Augenblick der Entſcheidung noch in weiter 
Ferne, als bliebe ihm noch viel Zeit bis dahin uͤbrig, und als 
koͤnne er ſich noch vieles uͤberlegen. 

Wieder derſelbe Schmutz, dieſelben Eierſchalen auf der Wendel⸗ 
treppe, wieder ſtanden die Tuͤren zu den Wohnungen weit offen, 
wieder dieſelben Kuͤchen, aus denen Qualm und uͤbler Geruch 
herausdrang. Raſkolnikow war feit jenem Tage nicht wieder hier 
geweſen. Die Beine waren ihm ganz taub geworden und knickten 
ein, gingen aber mechaniſch weiter. Er blieb einen Augenblick 
ſtehen, um Atem zu ſchoͤpfen und ſein Außeres in Ordnung zu 
bringen, damit er „als Menſch“ eintreten koͤnne. „Aber wozu? 
Was hat das fuͤr Zweck?“ dachte er ploͤtzlich, als er ſich ſeines 
Tuns bewußt wurde. „Wenn ich doch einmal dieſen Kelch leeren 
muß, iſt es dann nicht ganz gleich, wie ich ausſehe? Je garſtiger, 
um ſo beſſer!“ Unwillkuͤrlich kam ihm in dieſem Augenblicke die 
Geſtalt des Polizeileutnants Ilja Petrowitſch Schießpulver in 
den Sinn. „Soll ich wirklich zu dem hingehen? Koͤnnte ich nicht 
vielleicht zu einem anderen gehen? Nicht vielleicht zum Revier⸗ | 
inſpektor Nikodim Fomitſch ſelbſt? Wie wärs, wenn ich gleich 
umkehrte und zu dem in die Wohnung ginge? Wenigſtens wickelt 
ji) die Sache dann mehr in privater Form ab . . . Nein, nein! 
Zu Leutnant Schießpulver, zu Leutnant Schießpulver! Muß 
ich den Kelch trinken, dann auch mit einem Male ganz ...“ 

Von Froſt geſchuͤttelt und ſich kaum ſeiner ſelbſt bewußt, oͤffnete 


Sechſter Teil 813 


er die Tuͤr zum Bureau. Diesmal waren nur ſehr wenige Leute 
darin; nur ein Hausknecht ſtand da und noch ſo ein Mann aus 
dem niederen Volke. Der Waͤchter blickte nicht einmal aus ſeinem 
Verſchlage heraus. Raſkolnikow ging weiter in das folgende 
Zimmer. „Vielleicht iſt es noch moͤglich, daß ich nichts davon 
ſage,“ fuhr es ihm durch den Kopf. Hier ſchickte ſich ein Schreiber, 
welcher Zivilkleider trug, gerade an, ſeine Schreibarbeit am Pulte 
zu beginnen. In einer Ecke ſetzte ſich noch ein anderer Schreiber 
zurecht. Sametow war nicht da. Nikodim Fomitſch war natuͤr— 
lich gleichfalls nicht anweſend. 

„Iſt niemand hier?“ fragte Raſkolnikow, ſich an den Schreiber 
am Pulte wendend. 

„Wen wuͤnſchen Sie zu ſprechen?“ 

„Ah, ah, ah! ‚Erfah ihn nicht, er hörte ihn nicht, aber er witterte 
den ruſſiſchen Duft“, ... wie heißt es doch da im Märchen, ... 
ich weiß nicht mehr genau! Er—gebenfter Diener!“ rief auf ein: 
mal eine bekannte Stimme. 

Raſkolnikow begann zu zittern. Vor ihm ſtand Leutnant Schieß— 
pulver, der ſoeben aus dem dritten Zimmer hereingekommen 
war. „Das iſt mein Verhaͤngnis,“ dachte Raſkolnikow, „warum 
muß der hier ſein?“ : 

„Wollten Sie zu uns? Was führt Sie her?“ rief Ilja Petro— 
witſch. Er war anſcheinend in vorzuͤglicher und ſogar ein wenig 
angeheiterter Stimmung. „Wenn es etwas Amtliches iſt, ſo ſind 
Sie etwas zu fruͤh hergekommen. Ich ſelbſt bin nur zufaͤllig hier. 
. . Aber was in meinen Kräften ſteht ... Übrigens, ich muß 
Ihnen geſtehen, . .. wie war doch ... wie war doch? Entſchul— 
digen Sie ...“ 

„Raſkolnikow.“ 

„Na natuͤrlich, Raſkolnikow! Wie koͤnnen Sie nur glauben, daß 
ich Ihren Namen vergeſſen haͤtte! So etwas muͤſſen Sie ven 


814 Schuld und Suͤhne 


mir nicht denken ... Rodion, Ro... Ro . .. Rodionowitſch, 
ſo war es ja doch wohl?“ 

„Rodion Romanowitſch.“ 

„Ja, ja, ja! Rodion Romanowitſch, Rodion Romanowitſch! 
So wollte ich ja auch ſagen! Ich habe mich ſogar mehrmals nach 
Ihnen erkundigt. Offen geftanden, es hat mir nachher aufrichtig 
leid getan, daß ich damals mit Ihnen fo... Es iſt mir ſpaͤter 
alles erklaͤrt worden, und ich habe gehoͤrt, daß Sie ein junger 
Schriftſteller find, ſogar ein Gelehrter, ... und daß Sie ſozuſagen 
am Anfange Ihrer Laufbahn .. . Du mein Gott, welcher Schrift: 
ſteller und Gelehrte haͤtte nicht am Anfange ſeiner Laufbahn 
ſeine Beſonderheiten gehabt! Ich und meine Frau, wir ſchwaͤr— 
men beide für Literatur, meine Frau ſogar leidenſchaftlich! ... 
Fuͤr Literatur und Kunſt! Aus anſtaͤndiger Familie muß man 
natuͤrlich ſein; alles andere aber kann man durch Talent, Wiſſen, 
Verſtand und Genie erreichen! Na, zum Beiſpiel ein Hut, — 
was hat ein Hut fuͤr einen Wert? Ein Hut iſt ein Topfdeckel; den 
kann ich mir im Magazin von Zimmermann kaufen; aber was 
unter dem Эше ftedt und vom Hute verborgen wird, das kann 
man nicht kaufen! . . . Offen geſtanden, ich wollte ſogar ſchon 
zu Ihnen gehen, um mich zu entſchuldigen; aber ich dachte, Sie 
wuͤrden vielleicht ... Aber ich vergeſſe ganz zu fragen: haben 
Sie wirklich ein Anliegen an uns? Ich hoͤre, Ihre Angehoͤrigen 
ſind zu Ihnen hierher nach Petersburg gekommen?“ 

„Ja, meine Mutter und meine Schweſter.“ 

„Ich habe ſogar die Ehre und das Gluͤck gehabt, Ihre Schweſter 
kennen zu lernen, — eine ſehr gebildete, reizende junge Dame. 
Offen geftanden, ich habe lebhaft bedauert, daß wir beide, Sie 
und ich, damals ſo hitzig wurden. Ein eigentuͤmlicher Fall! Und 
daß ich Ihnen damals anlaͤßlich Ihrer Ohnmacht ſo einen be— 
ſonderen Blick zuwarf, — nun, es hat ſich ja nachher alles auf 


— ` 


D n nit nei. 


Sechſter Teil 815 


das glaͤnzendſte aufgeklaͤrt! Es war von meiner Seite zu hitzig, 
Übereifer! Ihre Entruͤſtung iſt mir durchaus verſtaͤndlich. Ziehen 
Sie vielleicht infolge der Ankunft der Ihrigen in eine andere 
Wohnung?“ 

„N—nein, ich bin nur gekommen . . . Ich wollte nur fragen ... 
Ich glaubte, ich wuͤrde Sametow hier finden.“ 

„Ach ja! Sie haben ſich ja miteinander angefreundet; ich habe 
davon gehoͤrt. Na, Sametow iſt nicht mehr bei uns; den finden 
Sie hier nicht mehr vor. Ja, dieſen Alexander Grigorjewitſch 
Sametow haben wir verloren! Seit geftern iſt er fort; er iſt ver: 
ſetzt worden und hat ſich bei der Gelegenheit mit allen gezankt, 
.. in recht unhoͤflicher Weiſe. Ein windiges Kerlchen, weiter 
nichts; man hoffte ja, es wuͤrde etwas aus ihm werden; aber 
gehen Sie mir mit dieſen Leuten, mit unſerem brillanten jungen 
Nachwuchs! Er will da irgendein Examen ablegen; aber in 
unſerem Fache iſt das ſo: wenn man nur ein bißchen was hin— 
ſchwatzt und mit ein paar großtoͤnenden Phraſen um ſich wirft, 
ſo hat man damit das ganze Examen beſtanden. Dagegen Sie 
zum Beiſpiel oder Ihr Freund, Herr Raſumichin, Sie ſind ja 
ganz andere Leute! Ihre Laufbahn liegt auf dem Gebiete der 
Wiſſenſchaft, und kein Mißerfolg kann Sie beirren! Alle Ge— 
nuͤſſe des Lebens ſind Ihnen ſozuſagen ein weſenloſes Nichts; 
Sie find ein Asket, ет Moͤnch, ein Einſiedler! ... Ihr ein und 
alles ſind die Buͤcher, die Feder hinter dem Ohr, gelehrte Unter— 
ſuchungen, — in ſolchen Regionen ſchwebt Ihr Geiſt! Teilweiſe 
bin ich ſelbſt ©... Haben Sie Livingſtones Reiſeberichte ges 
leſen?“ 

„Nein.“ 

„Aber ich habe ſie geleſen. Übrigens haben ſich heutzutage die 
Nihiliſten ganz gewaltig ausgebreitet; na, es iſt ja auch begreif— 
lich; was ſind das jetzt fuͤr Zeiten? frage ich Sie. Übrigens, ich 


816 Schuld und Suͤhne 


rede mit Ihnen fo frei von der Leber weg, . .. Sie find ja doch 
gewiß kein Nihiliſt! Antworten Sie aufrichtig, ganz aufrichtig!“ 

„N- nein ...“ 

„Wiſſen Sie, reden Sie mit mir ganz offen; genieren Sie ſich 
gar nicht; reden Sie, als ob Sie mit ſich ſelbſt ſpraͤchen! Das 
ſind zwei Dinge, die ich ſehr wohl zu ſondern weiß: Dienſt und 
. . . Sie haben gewiß gedacht, ich wollte ſagen: Freundſchaft; 
nein, da haben Sie doch falſch geraten! Nicht Freundſchaft, 
ſondern das Gefuͤhl, daß man Buͤrger und Menſch iſt, die Huma— 
nität und die Liebe zu Gott dem Allmaͤchtigen. Ich kann eine 
offizielle Perſoͤnlichkeit ſein und ein Amt bekleiden, bin aber da⸗ 
bei doch verpflichtet, mich als Buͤrger und Menſch zu fuͤhlen und 
mich danach zu benehmen ... Sie erwähnten da vorhin Sametow. 
Sametow, der iſt imſtande in einem unanſtaͤndigen Lokale bei 
einem Glaſe Champagner oder Donwein eine Skandalſzene ſo 
in franzoͤſiſchem Genre zu veranſtalten, — ja, ſo einer iſt Ihr 
Sametow! Ich dagegen gluͤhte ſozuſagen von Freundestreue 
und hohen Gefühlen, und außerdem beſitze ich ein gewiſſes Эт: 
ſehen, habe einen Rang, bekleide ein Amt! Ich bin verheiratet 
und habe Kinder. Ich erfuͤlle meine Pflicht als Buͤrger und 
Menſch; aber er, was iſt er denn? moͤchte ich fragen. Ich wende 
mich an Sie als an einen Mann von hoher geiſtiger Bildung. 
Ja, und noch eins: auch dieſe Hebammen haben ſich außerordent⸗ 
lich ſtark ausgebreitet.“ 

Raſkolnikow zog fragend die Augenbrauen in die Hoͤhe. Die 
Worte des Polizeileutnants, der offenbar eben erſt vom Mittags— 
tiſche gekommen war, vernahm er groͤßtenteils nur als leere Toͤne, 
wie ein Geklapper und Geraſſel. Aber einen Teil davon hatte 
er doch fo einigermaßen verſtanden; er blickte ihn fragend an und 
wußte nicht, worauf dieſe Bemerkung abzielte. 

„Ich ſpreche von dieſen jungen Mädchen mit dem kurzge— 


Sechſter Teil ! 817 


ſchnittenen Haar,“ fuhr Ilja Petrowitſch redfelig fort. „Ich habe 
ihnen aus eigener Erfindung den Namen Hebammen gegeben 
und finde, daß das eine ſehr gluͤckliche Bezeichnung iſt. He-he! 
Sie draͤngen ſich in die Hoͤrſaͤle, ſie ſtudieren Anatomie; na, 
ſagen Sie ſelbſt, wenn ich krank werden ſollte, wuͤrde ich dann 
wohl zu einem jungen Maͤdchen ſchicken, um mich behandeln zu 
laſſen? He-he!“ 

Ilja Petrowitſch lachte laut auf, hoͤchſt befriedigt von ſeinen 
eigenen Witzen. 

„Es mag ja fein, daß da ein gewaltiger Bildungsdrang dahinter: 
ſteckt; aber wenn ſich einer nun die Bildung angeeignet hat, 
dann muß es auch damit ſein Bewenden haben. Dann darf er 
doch ſeine Bildung nicht mißbrauchen. Dann darf er doch nicht 
anſtaͤndige Perſonen beleidigen, wie es dieſer Taugenichts, der 
Sametow, tut. Warum hat er mich beleidigt? frage ich Sie. 
Und noch eins: wie die Selbſtmorde zugenommen haben, — 
davon koͤnnen Sie ſich gar keinen Begriff machen. Dieſe ganze 
Sorte verbringt das letzte Geld und nimmt ſich dann das Leben. 
Junge Mädchen, unreife Burſchen, alte Männer... Noch heute 
fruͤh iſt wieder eine Anzeige eingegangen von dem Selbſtmorde 
eines Herrn, der erſt kuͤrzlich nach Petersburg gekommen iſt. 
Nil Pawlowitſch, he! Nil Pawlowitſch! Wie hieß doch der 
Gentleman, uͤber den wir Anzeige bekamen, daß er ſich in der 
Peterburgſkaja erſchoſſen hat?“ 

„Swidrigailow,“ antwortete teilnahmlos eine heiſere Stimme 
aus dem andern Zimmer. 

Raſkolnikow fuhr zuſammen. 

„Swidrigailow! Swidrigailow hat ſich erſchoſſen!“ rief er. 

„Wie? Kennen Sie dieſen Swidrigailow?“ 

„Ja, ... ich kenne ihn ... Er iſt erſt kuͤrzlich hier angekommen ...“ 

„Na ja, er iſt erſt kuͤrzlich angekommen, ſeine Frau war ihm 
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818 Schuld und Suͤhne 


geſtorben, ein Menſch von ganz liederlichem Lebenswandel, und 
auf einmal erſchießt er ſich, und in einer ſo ſkandaloͤſen Weiſe, 
daß man es ſich gar nicht vorſtellen kann, ... hinterlaͤßt in feinem 
Notizbuche ein paar Worte: er ſcheide aus dem Leben bei vollem 
Verſtande und bitte, niemandem eine Schuld an ſeinem Tode 
beizumeſſen. Der Menſch ſoll fruͤher Geld gehabt haben. Woher 
kennen Sie ihn?“ 

„Ich ... kannte ihn, . . . meine Schweſter war Gouvernante 
in ſeiner Familie.“ 

„So, fo, ſo ... Da koͤnnen Sie uns wohl über ihn etwas 
Naͤheres mitteilen. Sie haben vorher nichts davon geahnt?“ 

„Ich bin geſtern noch mit ihm zuſammengeweſen er 
trank Wein, . . . ich habe ihm nichts angemerkt.“ 

Raſkolnikow hatte eine Empfindung, als ſei eine ſchwere Laſt 
auf ihn niedergeſtuͤrzt und druͤcke ihn zu Boden. 

„Sie ſind ja wieder ordentlich blaß geworden. Es iſt hier auch 
bei uns fo eine beklommene Luft ...“ 

„Ja, ich muß gehen, ich habe keine Zeit mehr,“ murmelte 
Raſkolnikow. „Entſchuldigen Sie, daß ich Sie beläftigt habe ...“ 

„O, bitte ſehr! Durchaus nicht der Fall! Ganz zu Ihren 
Dienſten! Es iſt mir ein Vergnuͤgen geweſen; ich habe mich ſehr 
gefreut.“ 

Ilja Petrowitſch reichte ihm ſogar die Hand. 

„Ich wollte eigentlich nur... nur zu Sametow ...“ 

„Weiß wohl, weiß wohl; es iſt mir ein Vergnuͤgen geweſen.“ 

„Ich ... habe mich ſehr gefreut ... Auf Wiederſehen!“ ſagte 
Raſkolnikow laͤchelnd. 

Er ging hinaus, taumelnd und ſchwindlig; er fuͤhlte gar nicht, 
ob er noch auf den Beinen ſtand. Er ſtieg die Treppe hinunter, 
mit der rechten Hand ſich gegen die Wand ſtuͤtzend. Es ſchien 


* 
1 


Sechſter Teil 819 


ihm, daß er von einem Hausknecht, der mit einem Buche in der 
Hand nach dem Bureau hinaufſtieg und ihm auf der Treppe 
begegnete, geſtoßen wurde und daß ein Hund in einem tieferen 
Stockwerk heftig bellte und eine Frau mit einem Mangelholz 
nach dem Tiere warf und ſchimpfte. Er kam unten an und 
trat auf den Hof hinaus. Hier auf dem Hofe, nicht weit 
vom Ausgange, ſtand ſtarr und leichenblaß Sofja und blickte 
ihn ſcheu und verſtoͤrt an. Er blieb vor ihr ſtehen. Schmerz, 
Qual und Verzweiflung malten ſich auf ihrem Geſichte. Sie 
ſchlug die Haͤnde zuſammen. Ein haͤßliches, verlegenes Laͤcheln 
trat auf ſeine Lippen. So ſtand er eine kleine Weile laͤchelnd 
da; dann wandte er ſich um und ging wieder hinauf nach dem 
Bureau. 

Ilja Petrowitſch hatte ſich hingeſetzt und kramte in allerlei 
Akten. Vor ihm ſtand derſelbe Hausknecht, der vorhin auf der 
Treppe Raſkolnikow geſtoßen hatte. 

„Ah, ah, ah! Da ſind Sie ja wieder! Haben Sie etwas hier 
liegen laſſen? ... Aber was Ш Ihnen?“ 

Raſkolnikow näherte ſich ihm ſachte mit blaſſen Lippen und 
ſtarrem Blicke, trat dicht an den Tiſch heran, ſtuͤtzte ſich mit der 
Hand darauf und wollte etwas ſagen; aber er vermochte es 
nicht; es wurden nur einige unzuſammenhaͤngende Laute vers 
nehmbar. 

„Ihnen iſt nicht wohl. Einen Stuhl her! Hier, ſetzen Sie ſich 
auf den Stuhl, ſetzen Sie ſich! Waſſer!“ 

Raſkolnikow ließ ſich auf den Stuhl niederſinken, wandte aber 
die Augen von dem Geſichte des ſehr unangenehm uͤberraſchten 
Ilja Petrowitſch nicht ab. Beide blickten einander etwa eine 
Minute lang an und warteten. Es wurde Waſſer gebracht. 

„Ich habe ..., begann Raſkolnikow. 

„Trinken Sie einen Schluck Waſſer!“ 


Raſkolnikow wies mit der Hand das Waſſer Е und ſagte 
leiſe, in Abſaͤtzen, aber klar und deutlich: | 

„Ich habe damals die alte Beamtenwitwe und ihre Schweſter 
Liſaweta mit einem Beile erſchlagen und beraubt.“ 

Ilja Petrowitſch riß den Mund auf. Von allen Seiten kamen 
Beamte herbeigelaufen. * 

Raſkolnikow wiederholte feine Selbſtanzeige. — — — — 


Nachwort 
I 


ibirien. Am Ufer eines breiten, oͤden Stromes liegt eine 

Stadt, der Sitz hoͤherer Verwaltungsbehoͤrden. In der 

Stadt befindet ſich eine Feſtung, in der Feſtung ein Gefaͤngnis. 

In dieſem Gefaͤngnis ſitzt ſchon ſeit neun Monaten der Straͤfling 

zweiter Klaſſe Rodion Raſkolnikow. Seit der Begehung des Ver— 
brechens find faft anderthalb Jahre vergangen. 

Das Gerichtsverfahren gegen ihn hatte ſich ohne beſondere 
Schwierigkeiten abgeſpielt. Der Verbrecher, in ſeinen Angaben 
feſt, genau und klar, hielt ſeine Selbſtbezichtigung aufrecht, ohne 
die Begleitumſtaͤnde zu verwirren, ohne ſie zu ſeinem Vorteil 
abzuſchwaͤchen, ohne die Tatſachen zu verdrehen, und ohne die 
geringſte Einzelheit zu verſchweigen. Er erzaͤhlte den ganzen 
Hergang beim Morde auf das allergenaueſte, erklaͤrte das Ge— 
heimnis des wunderlichen Pfandobjektes (des Holzbrettchens mit 
der Metallplatte), das die ermordete alte Frau bei ihrer Auf— 
findung in den Haͤnden hatte, erzaͤhlte eingehend, wie er der Er— 
mordeten die Schluͤſſel abgenommen habe, beſchrieb dieſe Schluͤſ— 
ſel, beſchrieb die Truhe, und womit ſie angefuͤllt geweſen ſei, 
zaͤhlte ſogar einige von den Gegenſtaͤnden auf, die darin gelegen 
haͤtten, erklaͤrte das Raͤtſel von Liſawetas Ermordung, erzaͤhlte, 
wie Koch gekommen ſei und geklopft habe, und nach ihm der 
Student, berichtete alles, was ſie untereinander geſprochen 
haͤtten, wie er, der Verbrecher, dann die Treppe hinuntergelaufen 
ſei und Nikolais und Dmitris Gekreiſch gehoͤrt habe, wie er ſich in 
der leeren Wohnung verſteckt habe und nach Hauſe gekommen ſei, 
und zum Schluſſe bezeichnete er auf dem Woſneſenſki-Proſpekte, 
auf dem Hofe, am Tore, den Stein, unter dem dann wirklich 
die Wertſachen und der Geldbeutel gefunden wurden. Kurz, die 


Be SET 
a" 9 * 251 
* ’ 1 


822 Schuld und Sühne 


Sache wurde vollſtaͤndig klar. Die Beamten, die die Unter: 
ſuchung fuͤhrten, ſowie die Richter, wunderten ſich unter anderem 
auch darüber ſehr, daß er den Geldbeutel und die Wertſachen 
unter dem Steine verſteckt hatte, ohne ſie ſich zunutze zu machen, 
noch mehr aber daruͤber, daß er fuͤr die einzelnen geraubten 
Gegenſtaͤnde keine Erinnerung hatte, ja, ſich ſogar in ihrer Zahl 
irrte. Geradezu unglaublich aber erſchien ſeine Angabe, daß er 
den Beutel überhaupt nicht geöffnet habe und nicht wiſſe, wie— 
viel Geld darin geweſen ſei; vorgefunden wurden in dem Beutel 
dreihundertundſiebzehn Rubel und drei Zwanzigkopekenſtuͤcke; 
infolge des langen Liegens unter dem Steine hatten einige be— 
ſonders hohe Banknoten, die obenauf gelegen hatten, ſtark ge— 
litten. Lange muͤhte man ſich, herauszubekommen, warum der 
Angeklagte eigentlich in dieſem einen Punkte luͤge, waͤhrend er 
doch in allen übrigen freiwillig ein wahrheitsgetreues Geſtaͤndnis 
abgelegt habe. Schließlich gaben einige, namentlich die Pſycho— 
logen, es als moͤglich zu, daß er tatſaͤchlich nicht in den Beutel 
hineingeſehen und daher auch keine Kenntnis von dem Inhalte 
erlangt habe, ſondern ohne Kenntnis des Inhalts den Beutel 
ohne weiteres unter den Stein gelegt habe; ſie ſchloſſen aber 
daraus zugleich, das Verbrechen koͤnne nur in einem Zuſtande 
zeitweiliger Geiftesvermwirrung begangen fein, unter der Ein⸗ 
wirkung einer krankhaften Manie zu rauben und zu morden, 
ohne weitere Zwecke und gewinnſuͤchtige Abſichten. Gerade Фа: 
mals naͤmlich war die neumodiſche Theorie von der zeitweiligen 
Geiſtesverwirrung aufgekommen, die man in unferer Zeit fo 
oft bemüht iſt bei manchen Verbrechern in Anwendung zu 
bringen. Außerdem wurde ein ſchon von laͤngerer Zeit her 
datierender hypochondriſcher Zuſtand Raſkolnikows von vielen 
Zeugen, naͤmlich von dem Arzte Soſimow, ſeinen fruͤheren 
Kommilitonen, ſeiner Wirtin und ihrem Dienſtmaͤdchen, auf das 


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Nachwort 823 


beſtimmteſte bekundet. Alles dies diente als ſtarke Stuͤtze für die 
Schlußfolgerung, daß Raſkolnikow mit einem gewoͤhnlichen Moͤr— 
der, Raͤuber und Diebe nicht auf eine Stufe geſtellt werden koͤnne, 
ſondern daß hier denn doch etwas anderes vorliege. Zum groͤßten 
Verdruſſe derjenigen, die dieſe Anſicht vertraten, machte der Ver: 
brecher ſelbſt ſo gut wie gar keinen Verſuch ſich zu verteidigen; 
auf die ausdruͤckliche Frage, was ihn denn eigentlich zu dem 
Morde und dem Raube veranlaßt habe, antwortete er mit groͤßter 
Klarheit und überrafchender Offenheit, die Urſache feiner ganzen 
Handlungsweiſe fei feine üble Lage geweſen, feine völlige Armut 
und Hilfloſigkeit und der Wunſch, fich die erſten Schritte auf feiner 
Laufbahn mit Hilfe von wenigſtens dreitauſend Rubeln zu er— 
möglichen, die er bei der Getöteten zu finden gehofft habe. Den 
Entſchluß zum Morde habe er infolge ſeines leichtſinnigen, klein— 
muͤtigen Charakters gefaßt; uͤberdies habe er ſich auch noch in— 
folge von Entbehrungen und Mißerfolgen in gereizter Stimmung 
befunden. Und auf die Frage, was ihn denn zu der Selbſtanzeige 
bewogen habe, erwiderte er offen, daß dies eine Wirkung auf— 
richtiger Reue geweſen ſei. Das alles machte ſchon beinahe den 
Eindruck allzu großer Derbheit. 

Das Urteil fiel milder aus, als nach der Schwere des veruͤbten 
Verbrechens eigentlich zu erwarten geweſen war, und zwar viel— 
leicht gerade deswegen, weil der Verbrecher nicht nur jeden Ver— 
ſuch ſich zu rechtfertigen verſchmaͤht, ſondern ſogar gewiſſer— 
maßen ein Beſtreben an den Tag gelegt hatte, ſich ſelbſt noch mehr 
zu belaſten. All die ſeltſamen und eigenartigen Umſtaͤnde, unter 
denen die Tat begangen war, wurden bei der Strafabmeſſung 
beruͤckſichtigt. Der krankhafte Zuſtand und die ſchreckliche Armut 
des Verbrechers vor Begehung der Tat konnten nicht dem ge— 
ringſten Zweifel unterliegen. Daß er das geraubte Gut nicht 
zu ſeinem Nutzen verwandt hatte, wurde teils als Wirkung der 


824 Schuld und Suͤhne 


erwachenden Reue, teils als Folge feiner nicht normalen geiſtigen 
Verfaſſung bei Ausübung des Verbrechens angeſehen. Die Art, 
wie es zu der von vornherein nicht in Ausſicht genommenen 
Ermordung Liſawetas gekommen war, diente ſogar als Beweis, 
um die letztere Annahme zu erhaͤrten: ein Menſch begeht zwei 
Morde und denkt dabei nicht daran, daß die Tuͤr offen ſteht! 
Ins Gewicht fiel ſchließlich auch noch, daß das Geſtaͤndnis gerade 
zu einer Zeit erfolgt war, wo die Sache durch die unwahre 
Selbſtbezichtigung eines Fanatikers der Demut (Nikolai) ein 
überaus verworrenes Ausſehen angenommen hatte, und wo 
außerdem gegen den wirklichen Verbrecher nicht nur keine klaren 
Indizien, ſondern ſogar faſt kein Verdacht vorgelegen hatte. (Por— 
firi Petrowitſch hatte durchaus Wort gehalten.) Alles dies wirkte 
zuſammen, um das Schickſal des Angeklagten milder zu geſtalten. 

Überdies wurden ganz unerwartet auch noch andere Umſtaͤnde 
bekannt, die ſehr zugunſten des Angeklagten ſprachen. Der 
fruͤhere Student Raſumichin hatte irgendwo die Nachricht auf— 
getrieben, fuͤr die er dann auch die Beweiſe beibrachte, daß der 
Verbrecher Raſkolnikow zur Zeit feiner Zugehoͤrigkeit zur Uni— 
verfität mit feinen letzten Geldmitteln einen beduͤrftigen, ſchwind— 
ſuͤchtigen Kommilitonen unterſtuͤtzt und faſt ein halbes Jahr lang 
allein unterhalten hatte. Nachdem dieſer geſtorben war, hatte er 
die Sorge fuͤr deſſen alten, gelaͤhmten Vater auf ſich genommen 
(dieſen hatte der Sohn faſt von ſeinem dreizehnten Lebensjahre 
an durch ſeine eigene Arbeit vollſtaͤndig erhalten gehabt), den 
alten Mann ſchließlich in einem Krankenhauſe untergebracht und 
ihn, als dann auch er geſtorben war, beerdigen laſſen. All dieſe 
Mitteilungen uͤbten eine guͤnſtige Wirkung auf die Entſcheidung 
von Raſkolnikows Schickſal aus. Auch ſeine bisherige Wirtin, 
die Mutter feiner verſtorbenen Braut, die verwitwete Frau Sar— 
nizuͤna, bezeugte, daß, als ſie noch in einem anderen Hauſe, bei 


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Nachwort 825 


den Fuͤnf⸗Ecken, gewohnt hätten, Raſkolnikow bei einer naͤcht— 
lichen Feuersbrunſt aus einer bereits brennenden Wohnung zwei 
kleine Kinder herausgeholt und dabei ſelbſt Brandwunden davon— 
getragen habe. Dieſe Angabe wurde ſorgſam nachgepruͤft und 
von vielen Zeugen durchaus glaubwuͤrdig beſtaͤtigt. Kurz, das 
Reſultat war, daß der Verbrecher in Anbetracht ſeiner Selbſt— 
anzeige und mancher mildernden Umſtaͤnde nur zu acht Jahren, 
Zwangsarbeit zweiter Klaſſe verurteilt wurde. 

Gleich bei Beginn des Prozeſſes war Raſkolnikows Mutter er— 
krankt. Awdotja und Raſumichin machten es moͤglich, ſie fuͤr die 
ganze Dauer der Gerichtsverhandlungen aus Petersburg фот 
zuſchaffen. Raſumichin waͤhlte dazu eine nicht weit von Peters— 
burg an der Eiſenbahn gelegene Stadt aus, um den Prozeß in 
ſeinem ganzen Gange regelmaͤßig verfolgen und gleichzeitig moͤg— 
lichſt oft mit Awdotja zuſammenkommen zu koͤnnen. Pulcheria 
Alexandrowna litt an einer eigenartigen Nervenkrankheit, ver— 
bunden mit einer wenn auch nicht totalen, ſo doch mindeſtens 
partiellen geiſtigen Stoͤrung. Als Awdotja von der letzten Zu— 
ſammenkunft mit ihrem Bruder zuruͤckgekehrt war, hatte ſie ihre 
Mutter ſchon ganz krank, fiebernd und phantaſierend, vor— 
gefunden. Noch an demſelben Abend hatte ſie ſich mit Raſu— 
michin verabredet, was ſie der Mutter auf ihre Fragen nach dem 
Sohne antworten wollten, und hatte ſogar im Verein mit ihm 
fuͤr die Mutter eine ganze Geſchichte ausgeſonnen: Raſkolnikow 
ſei nach einem fernen Orte an der Grenze Rußlands gereiſt, in— 
folge eines privaten Auftrages, der ihm endlich Geld und Be— 
ruͤhmtheit eintragen werde. Aber es war ihnen verwunderlich, 
daß Pulcheria Alexandrowna weder damals noch ſpaͤter eine 
Frage nach dem Ergehen ihres Sohnes ſtellte. Man konnte viel— 
mehr merken, daß ſie ſelbſt eine ganze Geſchichte uͤber eine ploͤtz— 
liche Abreiſe ihres Sohnes im Kopfe hatte; ſie erzaͤhlte unter 


a, DEE 


826 Schuld und Suͤhne 


Traͤnen, wie er zu ihr gekommen ſei, um Abſchied zu nehmen, 
machte dabei Andeutungen, daß viele ſehr wichtige, geheimnis— 
volle Umſtaͤnde nur ihr allein bekannt ſeien und daß Rodion 
viele ſehr maͤchtige Feinde habe, vor denen er ſich verbergen 
muͤſſe. Was ſeine kuͤnftige Laufbahn anlangte, ſo glaubte ſie, 
daß ſie zweifellos eine glaͤnzende ſein werde, ſobald gewiſſe 
hinderliche Umſtaͤnde beſeitigt ſein wuͤrden; ſie verſicherte Raſu— 
michin, ihr Sohn werde mit der Zeit ſogar ein großer Staats— 
mann werden; das beweiſe fein Aufſatz und feine glänzende 
ſchriftſtelleriſche Begabung. Dieſen Aufſatz las fie fortwaͤhrend, 
mitunter ſogar laut, und trennte ſich ſelbſt in der Zeit des Schlafes 
ſelten von ihm; trotzdem aber fragte ſie faſt nie, wo ſich Rodion 
jetzt eigentlich befinde, obgleich Awdotja und Raſumichin es 
augenſcheinlich vermieden, mit ihr daruͤber zu ſprechen, — was 
ſchon allein ihren Argwohn hätte rege machen koͤnnen. Schließ— 
lich wurde ihnen dieſes ſonderbare Schweigen der Mutter uͤber 
gewiſſe Punkte aͤngſtlich. Sie beklagte ſich zum Beiſpiel gar nicht 
darüber, daß keine Briefe von Rodion ankamen, während fie 
fruͤher, als ſie noch in ihrem Staͤdtchen wohnte, nur von der 
Hoffnung und der Erwartung gelebt hatte, recht bald einen Brief 
von ihrem geliebten Sohne zu erhalten. Dieſer letztere Umſtand 
war ganz unerklaͤrlich und verſetzte Awdotja in ſtarke Unruhe; 
es kam ihr der Gedanke, daß die Mutter vielleicht etwas Schred: 
liches uͤber das Geſchick ihres Sohnes ahne und ſich fuͤrchte zu 
fragen, um nicht etwas noch Schrecklicheres zu erfahren. Jeden— 
falls aber ſah Awdotja klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht 
bei geſundem Verſtande war. 

Ein paarmal war es vorgekommen, daß die Mutter ſelbſt das 
Geſpraͤch ſo leitete, daß bei Beantwortung ihrer Fragen eine 
Erwaͤhnung von Rodions jetzigem Aufenthaltsorte ſchwer zu um: 
gehen war; da nun die Antworten notgedrungen unbefriedigend 


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Nachwort 827 


und verdaͤchtig ausfielen, wurde ſie ploͤtzlich überaus traurig, 
duͤſter und ſchweigſam und verharrte in dieſem Zuftande fehr 
lange. Awdotja ſah ſchließlich ein, daß es auf die Dauer doch zu 
ſchwer war, etwas zu erdichten und der Mutter vorzuluͤgen, und 
nahm ſich nun ein fuͤr allemal vor, uͤber gewiſſe Punkte lieber 
vollſtaͤndig zu ſchweigen; aber es wurde immer klarer und augen- 
ſcheinlicher, daß die arme Mutter etwas Furchtbares ahnte. 
Awdotja erinnerte ſich unter anderem an die Mitteilung ihres 
Bruders, daß die Mutter die wirren Reden mitangehoͤrt habe, 
die ſie in der Nacht vor jenem verhaͤngnisvollen Tage, nach ihrem 
Zuſammenſein mit Swidrigailow, im Schlafe geführt hatte; ob 
ſie vielleicht damals etwas von dem wahren Sachverhalte ver— 
ſtanden hatte? Haͤufig, und zwar manchmal nach mehreren 
Tagen und ſogar Wochen finſteren, bruͤtenden Schweigens und 
ſtummer Traͤnen, geriet die Kranke in eine Art von hyſteriſcher 
Lebhaftigkeit und begann auf einmal laut und faſt ohne Unter— 
brechung von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen und von der 
Zukunft zu ſprechen ... Ihre Phantaſien waren mitunter recht 
ſeltſam. Die beiden jungen Leute troͤſteten ſie und redeten ihr 
nach dem Munde, — ſie durchſchaute das vielleicht ſelbſt, daß ſie 
ihr nur nach dem Munde reden und ſie troͤſten wollten; aber 
dennoch redete und redete fie immer weiter ... 

Fünf Monate nach der Selbſtanzeige des Verbrechers wurde 
das Urteil über ihn gefällt. Raſumichin beſuchte ihn im Gefaͤng⸗ 
nis, ſo oft es nur irgend moͤglich war. Ebenſo Sofja. Endlich 
kam die Trennungsſtunde. Awdotja ſchwur ihrem Bruder, dies | 
folle keine Trennung fürs Leben fein; desgleichen Rafumichin. | 
In Raſumichins jugendlichem, feurigem Kopfe war ein Plan 
entſtanden und zum feſten Entſchluſſe geworden: in den naͤchſten 
drei, vier Jahren nach Moͤglichkeit wenigſtens den Grund zu 
einem kuͤnftigen Vermoͤgen zu legen, wenigſtens eine gewiſſe 


$25 Schuld und Sühne 


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Summe Geldes zufammenzufparen und dann nach Sibirien 
überzufiedeln, wo der Boden in jeder Beziehung reich fei, 
waͤhrend es an Arbeitern, Menſchen und Kapital mangele; dort 
wollte er ſich dann in derſelben Stadt, wo Rodion ſein wuͤrde, 
niederlaſſen, .. . und da ſollte für alle ein neues Leben beginnen. 
Beim Abſchied weinten alle. Raſkolnikow war in den letzten 
Tagen ſehr ſchwermuͤtig geweſen, hatte ſich viel nach der Mutter 
erkundigt und ſich fortwaͤhrend um ſie beunruhigt. Sein Gram 
und Kummer um fie war fo heftig geweſen, daß Awdotja ſich 
darüber aufregte. Als er die Einzelheiten über den Krankheits— 
zuſtand der Mutter erfahren hatte, war er ſehr finſter geworden. 
Sofja gegenuͤber war er die ganze Zeit her beſonders wortkarg 
geweſen. Sofja hatte ſich mit Hilfe des Geldes, das ihr Swidri— 
gailow vor feinem Tode eingehändigt, ſchon längft reiſefertig ge— 
macht und war bereit, der Straͤflingsabteilung zu folgen, in der 
auch er transportiert werden ſollte. Hieruͤber war zwiſchen ihr 
und Raſkolnikow niemals auch nur ein Wort geſprochen worden; 
aber beide wußten, daß es ſo ſein werde. Beim letzten Abſchiede 
lächelte er ſeltſam, als Awdotja und Raſumichin ſich in eifrigen 
Verſicherungen ergingen, ein wie gluͤckliches Leben ihnen allen 
bevorftände, ſobald er die Zwangsarbeit hinter ſich haben würde, 
und ſagte vorher, daß die Krankheit der Mutter bald einen 
ſchlimmen Ausgang nehmen werde. Endlich brachen er und 
Sofja auf. 

Zwei Monate darauf heirateten ſich Awdotja und Raſumichin. 
Es war eine traurige, ſtille Hochzeit. Unter den eingeladenen 
Gaͤſten befanden ſich uͤbrigens auch Porfiri Petrowitſch und 
Soſimow. Waͤhrend der ganzen letzten Zeit hatte Raſumichin 
das Ausſehen eines Mannes von feſtem Willen und ernſter Ent— 
ſchloſſenheit gezeigt. Awdotja glaubte beſtimmt, daß er alle ſeine 
Plaͤne durchfuͤhren werde; und ſie hatte auch allen Grund, das 


Nachwort 829 


zu glauben, denn in dieſem Menſchen ſteckte ein eiſerner Wille. 
Unter anderem hatte er wieder angefangen, Vorleſungen auf 
der Univerſitaͤt zu hoͤren, um ſeine Studien zu abſolvieren. 
Beide entwarfen fortwaͤhrend Plaͤne fuͤr die Zukunft; beide 
rechneten feſt darauf, in fuͤnf Jahren beſtimmt nach Sibirien 
uͤberzuſiedeln. Bis dahin verließen ſie ſich auf Sofjas dortige 
Wirkſamkeit. 

Pulcheria Alexandrowna hatte ihrer Tochter zu der Ehe mit 
Raſumichin freudig ihren Segen erteilt; aber nach der Hochzeit 
ſchien ſie noch trauriger und ſorgenvoller zu werden. Um ihr 
eine frohe Stunde zu bereiten, teilte ihr Raſumichin unter 
anderem auch die Geſchichte von dem Studenten und deſſen ge— 
brechlichem Vater mit, und auch wie Rodion, als er im vorigen 
Jahre zwei kleine Kinder vom Feuertode errettet habe, ſich 
Brandwunden zugezogen habe und davon ganz krank geworden 
ſei. Dieſe beiden Mitteilungen verſetzten die ohnehin ſchon geiſtig 
geftörte Pulcheria Alexandrowna faft in einen Zuſtand der Ver: 
zuͤckung. Sie redete unaufhoͤrlich davon und knuͤpfte ſogar auf 
der Straße, obwohl Awdotja ſie beſtaͤndig begleitete, mit Зе: 
gegnenden Geſpraͤche an, um es ihnen zu erzählen. In Эти 
buſſen, in Kauflaͤden, wo ſie nur einen Zuhoͤrer fand, brachte 
ſie das Geſpraͤch auf ihren Sohn, auf ſeine Abhandlung, und wie 
er einen Studenten unterſtuͤtzt und ſich bei einer Feuersbrunſt 
Brandwunden zugezogen habe, uſw. Awdotja wußte gar nicht 
mehr, wie ſie ſie davon zuruͤckhalten ſollte. Ganz abgeſehen von 
der Gefahr, die ein ſolcher krankhaft verzuͤckter Zuſtand in ſich 
barg, drohte auch inſofern ein Ungluͤck, als ſich jemand von dem 
fruͤheren Kriminalprozeſſe her an den Namen Raſkolnikow er— 
innern und davon zu reden anfangen konnte. Pulcheria Alex— 
androwna hatte ſogar die Adreſſe der Mutter der beiden aus dem 
Jeuer geretteten Kinder in Erfahrung gebracht und wollte fie 


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830 Schuld und Suͤhne 


durchaus aufſuchen. Schließlich ſtieg ihre Unruhe bis auf den 
hoͤchſten Grad. Sie fing manchmal ganz plotzlich an zu weinen, 
erkrankte haͤufig und verfiel in Fieberdelirien. Eines Morgens 
erklaͤrte ſie mit großer Beſtimmtheit, nach ihrer Berechnung 
muͤſſe nun Rodion bald zurüdfommen; fie erinnere ſich, wie er 
beim Abſchiede ſelbſt zu ihr geſagt habe, nach neun Monaten 
koͤnnten ſie ihn zuruͤckerwarten. Sie begann alles in der Wohnung 
zurechtzumachen und ſich auf ſeine Ankunft vorzubereiten, das 
für ihn beſtimmte Zimmer (ihr eigenes) einzurichten, die Möbel 
darin zu ſaͤubern, den Fußboden zu ſcheuern, neue Gardinen 
aufzuhaͤngen, uſw. Awdotja aͤngſtigte ſich Darüber, ſchwieg aber 
und war ihr ſogar behilflich, das Zimmer fuͤr den Empfang des 
Bruders inftand zu ſetzen. Nach einem unruhevollen, in Бе: 
ſtaͤndigen phantaſtiſchen Einbildungen, in frohen Hoffnungen 
und in Traͤnen verbrachten Tage erkrankte die Mutter in der 
Nacht; am Morgen lag ſie bereits in ſtarkem Fieber und redete 
irre. Das Fieber nahm an Heftigkeit zu, und zwei Wochen darauf 
ſtarb ſie. Bei ihrem Irrereden waren ihr Worte entſchluͤpft, aus 
denen man abnehmen konnte, daß ſie von dem ſchrecklichen 
Schickſale ihres Sohnes weit mehr ahnte, als man geglaubt 
hatte. 

Raſkolnikow erfuhr lange nichts vom Tode feiner Mutter, ob: 
gleich ein Briefwechſel mit Petersburg gleich vom Anfange ſeines 
Aufenthaltes in Sibirien an begonnen hatte. Dieſer Briefwechſel 
fand durch Sofjas Vermittelung ſtatt; dieſe ſchrieb puͤnktlich 
jeden Monat nach Petersburg an Raſumichins Adreſſe und 
empfing puͤnktlich jeden Monat aus Petersburg eine Antwort. 
Sofjas Briefe erſchienen Awdotja und Raſumichin anfangs etwas 
trocken und unbefriedigend; aber ſchließlich fanden ſie beide, daß 
dies die beſte uͤberhaupt moͤgliche Art zu ſchreiben war, da ſie 
aus dieſen Briefen als Schlußergebnis doch eine ſehr voll⸗ 


Nachwort 831 


ftändige und genaue Vorſtellung von dem Loſe des unglüdlichen 
Bruders und Freundes gewannen. Sofjas Briefe waren mit 
Nachrichten uͤber materielle Dinge der alltaͤglichſten Art und mit 
ſchlichten, klaren Schilderungen der Außerlichkeiten in Raſkol— 
nikows Straͤflingsleben angefuͤllt, enthielten dagegen weder Dar— 
legungen ihrer eigenen Hoffnungen, noch Vermutungen uͤber 
die Geſtaltung der Zukunft, noch Schilderungen ihrer eigenen 
Gefuͤhle. Seinen Seelenzuſtand und uͤberhaupt ſein ganzes 
Innenleben darzuſtellen, das verſuchte ſie gar nicht; ſtatt deſſen 
ſtanden da nur Tatſachen, das heißt ſeine eigenen Worte, aus— 
fuͤhrliche Mitteilungen uͤber ſeinen Geſundheitszuſtand, welche 
Wuͤnſche er dann und wann bei ihren Beſuchen ausgeſprochen, 
um was er ſie gebeten, was er ihr aufgetragen hatte, uſw. Bei 
all dieſen Mitteilungen ging ſie in die kleinſten Einzelheiten ein. 
Auf dieſe Weiſe trat ſchließlich das Bild des ungluͤcklichen Straͤf— 
lings dem Leſenden ganz von ſelbſt in genauer und deutlicher 
Zeichnung vor Augen; Irrtuͤmer waren unmoͤglich, weil alles 
Vorliegende aus zuverlaͤſſigen Tatſachen beſtand. 

Aber es war wenig Troͤſtliches, was Awdotja und ihr Mann 
aus dieſen Mitteilungen entnehmen konnten, namentlich in der 
erſten Zeit. Sofja berichtete ſtets, er ſei beſtaͤndig finſter und 
ſchweigſam und intereſſiere ſich kaum fuͤr die Nachrichten, die 
fie ihm jedesmal aus den ihr zugehenden Briefen mitteile. Manch— 
mal frage er nach der Mutter; ſie habe ihm, da ſie gemerkt haͤtte, 
daß er die Wahrheit bereits ahne, ſchließlich deren Tod mitgeteilt; 
aber zu ihrem Erſtaunen habe nicht einmal dieſe Todesnachricht 
auf ihn einen ſonderlich ſtarken Eindruck gemacht; wenigſtens ſei 
es ihr nach ſeinem aͤußeren Benehmen ſo vorgekommen. Unter 
anderem ſchrieb ſie auch, obgleich er ſich ganz in ſich zuruͤckziehe 
und ſich von allen abſchließe, habe er ſich doch in ſein neues 
Leben einfach und ſchlicht gefunden; er begreife klar ſeine Lage, 


832 Schuld und Suͤhne 


erwarte in naͤherer Zukunft keine Beſſerung derſelben, gebe ſich 
nicht leichtfertigen Hoffnungen hin, was doch in ſolcher Lage 
eine ſo haͤufige Erſcheinung ſei, und wundere ſich faſt uͤber nichts 
inmitten der neuen, ihn umgebenden Verhaͤltniſſe, obwohl ſie 
von der fruͤheren Form ſeines Daſeins ſo ſtark verſchieden ſeien. 
Weiter teilte Sofja mit, ſein Geſundheitszuſtand ſei befriedigend. 
Er gehe an ſeine Arbeit, ohne daß er ſich ihr zu entziehen ſuche, 
und ohne beſonderen Eifer an den Tag zu legen. Hinſichtlich der 
Koſt zeige er eine große Gleichguͤltigkeit; aber dieſe Koſt ſei, von 
Sonn- und Feſttagen abgeſehen, ſo ſchlecht, daß er ſchließlich 
gern von ihr, Sofja, etwas Geld angenommen habe, um ſich 
zum taͤglichen Gebrauche Tee halten zu koͤnnen. Was alles 
übrige anlange, fo habe er fie gebeten, ſich darüber nicht zu Бег 
unruhigen, und erklärt, daß alle dieſe Fürforge ihn nur ver: 
ſtimme. Ferner berichtete Sofja, er muͤſſe im Gefängnis mit 
allen zuſammenwohnen; das Innere dieſer Kaſernen habe ſie 
nicht geſehen; aber ſie muͤſſe aus allem ſchließen, daß es da eng, 
garſtig und ungeſund ſei; er ſchlafe auf einer Pritſche, uͤber die 
eine Filzdecke gebreitet ſei, und wolle keine andere Ausſtattung 
ſeines Lagers haben. Daß er aber ſo elend und aͤrmlich lebe, 
das geſchehe nicht nach irgendwelchem vorbedachten Plane oder 
in beſtimmter Abſicht, ſondern einfach aus Achtloſigkeit und 
Gleichguͤltigkeit gegen die Außerlichkeiten ſeines Schickſals. Auch 
ſchrieb Sofja ganz offen, er habe, namentlich am Anfang, uͤber 
ihre Beſuche keine Freude bekundet, ſondern ſei daruͤber beinahe 
aͤrgerlich geweſen, habe kaum mit ihr geſprochen und fie ſogar 
grob behandelt; aber ſchließlich ſeien ihm dieſe Zuſammenkuͤnfte 
doch zur Gewohnheit, ja, faſt zum Beduͤrfnis geworden, ſo daß 
er ſich ſogar nach ihr ſehne, wenn ſie einmal ein paar Tage krank 
ſei und ihn nicht beſuchen koͤnne. Sie treffe ſich mit ihm Sonn⸗ 
und Feſttags am Gefaͤngnistor oder in der Wachſtube, wohin man 


Nachwort 833 


ihn ihr auf einige Minuten rufe; an Werktagen treffe ſie ihn an 
ſeinen Arbeitsplaͤtzen, wohin ſie ſich begebe, entweder in den 
Werkſtaͤtten oder in den Ziegeleien oder in den Schuppen am 
Ufer des Irtyſch. Über ſich ſelbſt teilte Sofja mit, daß es ihr ge— 
lungen ſei, in der Stadt einige Bekanntſchaften zu machen und 
Leute zu finden, die ſich ihrer freundlich annaͤhmen. Sie erwerbe 
ſich ihren Unterhalt durch Schneidern, und da es in der Stadt 
faſt gar keine gute Schneiderin gebe, ſo ſei ſie in vielen Haͤuſern 
geradezu unentbehrlich geworden. Unerwaͤhnt ließ ſie jedoch, 
daß infolge ihrer Bemuͤhungen auch Raſkolnikow ſich einer wohl— 
wollenden Beachtung ſeitens der Gefaͤngnisbehoͤrde zu erfreuen 
hatte, daß ihm leichtere Arbeit zugewieſen wurde, uſw. Zuletzt 
aber ſandte fie die Nachricht ( Awdotja hatte ſchon vorher aus Sofjas 
letzten Briefen eine beſondere Unruhe und Aufregung heraus— 
geſpuͤrt), er halte ſich von allem Verkehr fern; die anderen Straͤf— 
linge möchten ihn nicht leiden; er ſchweige ganze Tage lang und 
bekomme eine ganz blaſſe Geſichtsfarbe. Ploͤtzlich, in ihrem letzten 
Briefe, ſchrieb Sofja, daß er ſehr ernſt erkrankt ſei und im 
Gefangenenſaale des Krankenhauſes liege. 


II 


Er war ſchon lange krank geweſen; aber nicht die Schrecken 
des Straͤflingslebens, nicht die Zwangsarbeit, nicht die Nahrung, 
nicht das Abraſieren des Kopfhaares, nicht die geringe Kleidung 
hatten ihn zugrunde gerichtet; o, was machten ihm alle dieſe 
Qualen und Martern aus! Im Gegenteil, er freute ſich ſogar 
uͤber die Arbeit; wenn er koͤrperlich durch die Arbeit abgemattet 
war, ſo erlangte er dadurch wenigſtens ein paar Stunden ruhigen 
Schlafes. Und was verſchlug ihm die Koſt, dieſe Kohlſuppe ohne 
Fleiſch, mit Schaben darin? In fruͤheren Jahren, als Student, 
hatte er oft nicht einmal das gehabt. Seine Kleidung hielt warm 
XIX. ss. 


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834 Schuld und Suͤhne 


und paßte zu ſeiner Lebensweiſe. Die Ketten fuͤhlte er gar nicht 
am Leibe. Sollte er ſich ſeines geſchorenen Kopfes und der zwei— 
farbigen Jacke ſchaͤmen? Aber vor wem? Vor Sofja? Sofja 
fuͤrchtete ſich vor ihm, und vor der ſollte er ſich ſchaͤmen? 

Und doch ſchaͤmte er ſich vor Sofja und ließ fie das dadurch ents 
gelten, daß er ſie durch ſein geringſchaͤtziges, grobes Benehmen 
peinigte. Aber er ſchaͤmte ſich nicht des geſchorenen Kopfes und 
der Ketten: ſein Stolz war ſchwer verwundet, und dieſe Ver— 
wundung ſeines Stolzes war auch die Urſache ſeiner Krankheit. 
O, wie glüdlich wäre er geweſen, wenn er ſich ſelbſt hätte eine 
Schuld beimeſſen koͤnnen! Dann haͤtte er alles gern ertragen, 
auch Schande und Schmach. Aber ſo ſtreng er auch mit ſich ins 
Gericht ging, ſo fand ſein verſtocktes Gewiſſen doch in ſeiner 
Vergangenheit keine ſo beſonders ſchreckliche Schuld, außer etwa 
einem einfachen „Fehlſchuß“, wie er einem jeden vorkommen 
konnte. Er ſchaͤmte ſich namentlich darüber, daß er, Raskolnikow, 
ſo blind, taub, unvorſichtig und dumm, gleichſam gemaͤß dem 
Spruche eines blinden Fatums, ſich zugrunde gerichtet hatte 
und ſich nun einem „abſurden“ richterlichen Urteil beugen und 
unterwerfen mußte, wenn er nur einigermaßen innerlich zur 
Ruhe kommen wollte. | 

Eine zweck⸗ und ziellofe Unruhe in der Gegenwart, und in der Zu⸗ 
kunft eine ſtete Selbſtaufopferung, durch die nichts erreicht wurde: 
das wars, was ihm auf der Welt noch bevorſtand. Und was 
hatte er davon, daß er nach den acht Jahren erſt zweiunddreißig 
alt war und noch einmal zu leben beginnen konnte? Wozu ſollte 
er dann noch leben? Was ſollte er ſich fuͤr Ziele ſetzen? Wonach 
ſtreben? Sollte er leben, nur um zu exiſtieren? Aber er war ja 
auch früher tauſendmal bereit geweſen, feine Exiſtenz für eine 
Idee, für eine Hoffnung, ja, ſogar für eine Phantaſterei hin⸗ 
zugeben. Die bloße Exiſtenz war ihm immer zu wenig geweſen; 


Nachwort 835 


er hatte ſtets etwas Groͤßeres erſtrebt. Vielleicht war dieſe Leb— 
haftigkeit feiner Wuͤnſche das einzige Moment geweſen, auf 
Grund deſſen er ſich damals für einen Menfchen gehalten hatte, 
dem mehr geſtattet ſei als anderen. 

Haͤtte doch das Schickſal ihm wenigſtens Reue eingegeben, eine 
brennende Reue, die das Herz verzehrt und den Schlaf ver— 
ſcheucht, jene Reue, deren ſchreckliche Qualen einem den Selbſt— 
mord durch den Strick oder im Waſſer verlockend erſcheinen laſſen. 
O, er haͤtte ſich uͤber eine ſolche Reue gefreut! Qualen und 
Traͤnen, das iſt doch wenigſtens Leben. Aber er bereute ſein 
Verbrechen nicht. 

Oder wenn er ſich wenigſtens uͤber ſeine Dummheit haͤtte 
ärgern koͤnnen, wie er ſich früher über feine törichten, dummen 
Handlungen geaͤrgert hatte, durch die er ins Gefaͤngnis ge— 
kommen war. Aber wenn er jetzt, wo er bereits im Gefaͤngnis 
war, „in aller Ruhe“ von neuem alle ſeine fruͤheren Handlungen 
uͤberdachte und pruͤfte, ſo fand er ſie ganz und gar nicht ſo dumm 
und toͤricht, wie fie ihm vorher, in jener verhängnisvollen Zeit, 
erſchienen waren. 

„Inwiefern,“ dachte er, „ſollte meine Idee duͤmmer ſein als 
andere Ideen und Theorien, die in der Welt, ſeit dieſe Welt Бе: 
ſteht, umherſchwirren und gegeneinanderprallen? Man betrachte 
nur die Sache unparteiiſch, vorurteilsfrei, und ohne ſich von Er— 
waͤgungen alltaͤglicher Art beeinfluſſen zu laſſen: dann erſcheint 
meine Idee ſicherlich gar nicht ſo ... fonderbar. O ihr ſchwaͤch— 
lichen Umſtuͤrzler, ihr duͤrftigen Denker, warum bleibt ihr immer 
auf halbem Wege ſtehen?“ 

„Warum erſcheint denn meine Tat den Menſchen fo ungeheuer— 
lich?“ fragte er ſich. „Deshalb, weil es eine boͤſe Tat iſt? Was 
bedeutet denn das: eine boͤſe Tat? Mein Gewiſſen iſt ruhig. 
Gewiß, ich habe ein Kriminalverbrechen begangen; gewiß, ich 


836 Schuld und Sühne 


nun wohl, nehmt fuͤr den Buchſtaben des Geſetzes meinen Kopf, 

. und die Sache iſt erledigt! Allerdings hätten dann auch 
viele Wohltaͤter der Menſchheit, die ihre Macht nicht ererbt, 
ſondern ſelbſt an ſich gebracht haben, gleich bei ihren erſten 
Schritten hingerichtet werden muͤſſen. Aber jene Maͤnner fuͤhrten 
ihre Schritte mit Kraft und Ausdauer durch, und darum waren 
ſie im Rechte; ich aber wurde dabei ſchwach, und folglich hatte 
ich kein Recht gehabt, mir dieſen Schritt zu erlauben.“ 

Nur in dieſem einen Punkte erkannte er ſein Verbrechen an: 
nur darin, daß er nicht vermocht hatte, den Schritt durchzufuͤhren, 
und ſich ſelbſt angezeigt hatte. 

Er litt auch unter dem Gedanken, warum er ſich damals nicht 
das Leben genommen habe. Warum hatte er damals, als er 
am Fluſſe ſtand, doch die Selbſtanzeige vorgezogen? Ob denn 
wirklich in dem Verlangen zu leben eine ſolche Kraft ſteckte und 
es gar ſo ſchwer war, dieſes Verlangen zu uͤberwinden? Swidri— 
gailow hatte es doch uͤberwunden, obwohl er ſich vor dem Tode 
fuͤrchtete! 

Mit dieſer Frage marterte er ſich ab, ohne zu wiſſen, daß er 
vielleicht ſchon damals, als er am Fluſſe ſtand, den tiefen Irrtum 
in ſeinem ganzen Weſen und in ſeinen Anſchauungen geahnt 
hatte. Er wußte nicht, daß dieſes Vorgefuͤhl moͤglicherweiſe der 
Vorbote einer kuͤnftigen Kriſis in ſeinem Leben, der Vorbote 
ſeiner kuͤnftigen Wiedergeburt und ſeiner kuͤnftigen neuen Lebens⸗ 
anſchauung war. 

Er neigte mehr dazu, das Unterlaſſen des Selbſtmordes auf 
die unbewußte Wirkſamkeit des Inſtinktes zuruͤckzufuͤhren, uͤber 
welche obzuſiegen und hinwegzuſchreiten er wieder einmal nicht 
die Kraft gehabt habe, — er ſei eben ein Schwaͤchling und ein 
unbedeutender Menſch! Er betrachtete ſeine Mitſtraͤflinge und 


habe den Buchſtaben des Geſetzes verletzt und Blut vergoſſen; 


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Nachwort 837 


— — — 


war erſtaunt daruͤber, wie ſehr auch ſie alle das Leben liebten, 
und wie teuer es ihnen war. Ja, er hatte den Eindruck, als ob 
man im Gefaͤngniſſe das Leben noch mehr liebe und ſchaͤtze und 
wert halte als in der Freiheit. Welche entſetzlichen Leiden und 
Qualen hatte das Leben manchen von ihnen gebracht, zum Bei— 
ſpiel den Landſtreichern; und doch hingen ſie ſo am Daſein! War 
ihnen denn wirklich ein Sonnenſtrahl ſo viel wert, oder ein dichter 
Wald, oder eine kuͤhle, tief in der Wildnis verſteckte Quelle? Da 
hatte nun vielleicht ſo ein armer Kerl ſich eine ſolche Quelle vor 
zwei, drei Jahren gemerkt, und nun malte er ſich ein Wieder— 
ſehen in ſeiner Phantaſie aus wie ein Wiederſehen mit einer 
Geliebten und traͤumte von ſeiner Quelle und von dem gruͤnen 
Graſe ringsumher und von den Voͤgelchen, die in den Buͤſchen 
ſangen! Bei laͤngerer Betrachtung fand er noch erſtaunlichere 
Beiſpiele fuͤr dieſe Liebe zum Leben. 

Vieles freilich von ſeiner geſamten Umgebung beim Gefaͤngnis— 
leben bemerkte er nicht, und er wollte es eben auch gar nicht be— 
merken; er lebte gleichſam, ohne aufzublicken; es war ihm wider: 
waͤrtig und unertraͤglich, um ſich zu ſchauen. Aber ſchließlich fiel 
ihm trotzdem manches auf, und er bemerkte nun unwillluͤrlich 
dies und jenes, was er fruͤher nicht einmal geahnt hatte. Am 
meiſten erſtaunt war er uͤber die gewaltige, unuͤberſchreitbare 
Kluft, die zwiſchen ihm und all dieſen Menſchen lag. Es war 
geradezu, als ob er und ſie verſchiedenen Nationen angehoͤrten. 
Er und fie betrachteten einander mißtrauiſch und feindſelig. Er 
kannte und verſtand die Urſachen dieſer wechſelſeitigen Abneigung 
ſehr wohl, haͤtte aber fruͤher nie geglaubt, daß ſie tatſaͤchlich ſo 
tief wurzelten und ſo kraͤftig waͤren. Im Gefaͤngniſſe befanden 
ſich auch einige verbannte Polen, politiſche Verbrecher; dieſe 
blickten auf die Leute geringeren Standes ſehr von oben herab 
und verachteten fie als ungebildeten Poͤbel. Raſkolnikow jedoch 


838 Schuld und Sühne 


konnte diefe Anſchauung nicht teilen; er ſah deutlich, daß dieſe 
Ungebildeten in vielen Stuͤcken weit verftändiger waren als eben⸗ 
dieſe Polen. Es waren auch Ruſſen da, die gleichfalls dieſes ge- 
meine Volk tief verachteten: ein ehemaliger Offizier und zwei 
Zoͤglinge geiſtlicher Seminare. Auch deren Irrtum erkannte 
Raſkolnikow mit voller Deutlichkeit. 

Ihn ſelbſt aber konnten alle nicht leiden, und alle mieden ihn. 
Dieſe Abneigung ſteigerte ſich ſchließlich zu wirklichem Haſſe. 
Warum? Das wußte er nicht. Sie verachteten ihn und machten 
ſich uͤber ihn luſtig; es machten ſich uͤber ſein Verbrechen Leute 
luſtig, die weit ſchlimmere Verbrecher waren als er. 

„Du biſt ein Herr!“ ſagten fie zu ihm. „Paßte ſich das für dich, 
mit einem Beil auf die Menſchen loszugehen? Das iſt nichts fuͤr 
einen Herrn!“ 

In der zweiten Woche der großen Faſten war er mit ſeiner 
Kaſerne an der Reihe, mehrmals die Kirche zu beſuchen als Vor⸗ 
bereitung zum Abendmahle. Er ging mit den anderen zuſammen 
in die Kirche und betete mit ihnen. Dabei kam es einmal zu 
Streit; er wußte ſelbſt nicht, warum. Alle ſtuͤrzten mit einem 
Male ergrimmt auf ihn los. 

„Du biſt ein Gottesleugner! Du glaubſt nicht an Gott!“ ſchrien 
ſie ihm zu. „Totſchlagen muͤßte man dich!“ 

Nie mals hatte er mit ihnen über Gott und über Glaubensſachen 
geſprochen, und doch wollten ſie ihn als einen Gottesleugner 
totſchlagen; er ſchwieg und widerſprach ihnen nicht. Einer von 
den Straͤflingen wollte ſchon in heller Wut uͤber ihn herfallen; 
Raſkolnikow erwartete ihn ruhig und ſchweigend, ohne mit den 
Augenbrauen zu zucken oder eine Miene zu verziehen. Der Wach⸗ 
ſoldat konnte gerade noch rechtzeitig zwiſchen ihn und den mord— 
luſtigen Angreifer treten, ſonſt waͤre es zu Blutvergießen ge⸗ 
kommen. 


Nachwort 839 


Noch eine Frage war da, auf die er keine Antwort finden konnte: 


Warum hatten fie alle Sofja fo lieb? Sie hatte ſich niemals um / 


die Gunſt der Sträflinge bemüht; dieſe bekamen Sofja über: 
haupt nur ſelten zu ſehen, nur ab und zu an den Arbeitsſtaͤtten, 
wenn ſie auf einen kurzen Augenblick kam, um ihn zu beſuchen. 
Aber trotzdem kannten ſie ſie alle bald, wußten auch, daß ſie ihm 
gefolgt ſei, wußten, wie ſie lebte, und wo ſie wohnte. Geld gab 
ſie ihnen nicht; auch erwies ſie ihnen keine beſonderen Dienſte. 
Nur einmal, zu Weihnachten, brachte ſie fuͤr das ganze Gefaͤngnis 
eine Gabe mit: Paſteten und Weißbrot. Aber ganz allmaͤhlich 
bildeten ſich zwiſchen ihnen und Sofja mancherlei naͤhere Be— 
ziehungen: ſie ſchrieb fuͤr ſie Briefe an ihre Angehoͤrigen und 
gab ſie auf die Poſt. Angehoͤrige, die nach der Stadt angereiſt 
kamen, uͤbergaben Sachen, die ſie fuͤr die Straͤflinge beſtimmt 
hatten, und ſogar Geld auf deren Wunſch an Sofja zur Weiter— 
beförderung. Die Frauen und Geliebten der Sträflinge kannten 
und beſuchten ſie. Und ſobald ſie, um Raſkolnikow zu beſuchen, 
zu einem Arbeitsplatze kam oder einem Trupp Straͤflinge be— 
gegnete, der zur Arbeit ging, ſo nahmen ſie alle die Muͤtzen ab 
und begruͤßten ſie. „Muͤtterchen Sofja Semjonowna, du unſere 
Mutter, ach, [о zart und ſchwaͤchlich!“ ſagten dieſe rohen, gebrand— 
markten Straͤflinge zu dem kleinen, mageren Weſen. Sie laͤchelte 
und erwiderte den Gruß freundlich, und alle freuten ſich, wenn 
fie ihnen zulaͤchelte. Sie liebten ſogar ihren Gang, wendeten ſich 
um, um ihr nachzuſehen, wie ſie ging, und lobten ſie; ſie lobten 
ſie ſogar dafuͤr, daß ſie ſo klein war; ſie wußten gar nicht mehr, 
was ſie alles an ihr loben ſollten. Sogar mediziniſche Ratſchlaͤge 
ließen ſie ſich von ihr geben. 

Raſkolnikow lag die ganze letzte Zeit der Faſten und die Oſter— 
woche uͤber im Krankenhauſe. Als er bereits wieder in der Ge— 
neſung begriffen war, erinnerte er ſich an die Traͤume, die er 


810 Schuld und Suͤhne 


waͤhrend des Fiebers und der Bewußtloſigkeit gehabt hatte. Es 
hatte ihm in der Krankheit geträumt, die ganze Welt ſei dazu ver: 
urteilt, einer ſchrecklichen, noch nie dageweſenen Seuche zum 
Opfer zu fallen, die aus dem inneren Aſien ihren Weg nach 
Europa nehme. Alle Menſchen ſollten umkommen außer einigen 
ganz wenigen Auserwaͤhlten. Es war eine Art von neuen Tri— 
chinen erſchienen, mikroſkopiſche Weſen, die ſich in den menſch— 
lichen Koͤrpern anſiedelten. Aber dieſe Weſen waren Geiſter, 
mit Verſtand und Willen begabt. Wer ſie in ſich aufnahm, wurde 
ſofort raſend und wahnſinnig. Aber noch niemals vorher hatten 
ſich die Menſchen fuͤr ſo klug gehalten und ſich mit ſolcher Be— 
ſtimmtheit im Beſitze der Wahrheit geglaubt, wie es dieſe п: 
geſteckten taten. Niemals hatten ſie ihre Urteilsſpruͤche, ihre 
wiſſenſchaftlichen Reſultate, ihre moraliſchen Anſchauungen und 
ihren Glauben fuͤr feſter begruͤndet gehalten. Ganze Doͤrfer, 
ganze Staͤdte und Voͤlker wurden angeſteckt und verfielen dem 
Wahnſinn. Alle waren in Aufregung und verſtanden einander 
nicht mehr; jeder glaubte im Alleinbeſitze der Wahrheit zu ſein 
und wollte verzweifeln, wenn er die anderen anſah, ſchlug ſich 
entſetzt an die Bruſt, weinte und rang die Haͤnde. Man wußte 
nicht, wen und wie man richten ſollte; man konnte ſich nicht 
daruͤber einigen, was als ſchlecht und was als gut anzuſehen ſei. 
Man wußte nicht, wen man verurteilen und wen man frei⸗ 
ſprechen ſollte. Die Menſchen toͤteten einander in einer Art von 
unſinnigem Grimme. Sie taten ſich zu ganzen Heeren zuſammen, 
um einander zu bekriegen; aber die Heere fingen ſchon auf dem 
Marſche an, ſich ſelbſt zu befehden; die Reihen loͤſten ſich auf; 
die Krieger ſtuͤrzten aufeinander los, ſtachen und hieben, biſſen 
und fraßen einander. In den Staͤdten wurde den ganzen Tag 
lang die Sturmglocke gelaͤutet; alle Einwohner wurden zu— 
ſammengerufen; wer jedoch eigentlich zuſammenrief und warum, 


2 r 


Nachwort 841 


— < 


das wußte niemand; aber alle waren in großer Aufregung. Die 
gewöhnlichen Handwerke wurden nicht mehr betrieben; denn 
jeder trug feine Ideen, feine Reformvorſchlaͤge vor, aber es kam 
zu keiner Einigung; die Bodenbeſtellung hoͤrte auf. Hier und 
da ſammelten ſich die Menſchen zu einzelnen Haufen an; ſie 
einigten ſich uͤber dies und das, ſchwuren, einander nicht zu ver— 
laffen, — aber gleich darauf begannen fie etwas ganz anderes 
zu tun als das, was ſie ſoeben ſelbſt angeregt hatten, beſchul— 
digten ſich gegenſeitig, pruͤgelten und mordeten ſich. Feuers— 
bruͤnſte wuͤteten; es brach Hungersnot aus. Alle Menſchen, alle 
Habe ging zugrunde. Die Seuche wuchs und verbreitete ſich 
immer weiter und weiter. Es entgingen dem Verderben in der 
ganzen Welt nur ſehr wenige Menſchen; dies waren die Reinen 
und Auserwaͤhlten, die dazu beſtimmt waren, ein neues Menſchen— 
geſchlecht und ein neues Leben zu begründen und die Erde zu 
erneuern und zu reinigen; aber dieſe Menſchen hatte niemand 
vorher irgendwo herauserkannt, niemand hatte ihre Worte und 
ihre Stimme beachtet. 

Es war für Raſkolnikow eine Qual, daß dieſer ſinnloſe Traum 
ſo feſt in ſeinem Gedaͤchtnis haftete und daß der Eindruck dieſer 
Fieberphantaſien fo lange nicht ſchwinden wollte. Schon war 
die zweite Woche nach Oſtern herangekommen; es waren warme, 
heitere Fruͤhlingstage; im Gefangenenſaale des Krankenhauſes 
waren die Fenſter geoͤffnet (ſie waren vergittert, und davor ging 
eine Schildwache auf und ab). Sofja hatte ihn waͤhrend ſeiner 
ganzen Krankheit nur zweimal im Krankenhauſe beſuchen koͤnnen. 
Es war dazu jedesmal erſt die Nachſuchung einer beſonderen 
Erlaubnis erforderlich, und das machte Schwierigkeiten. Aber 
ſie war oft auf den Hof des Krankenhauſes gekommen, vor die 
Fenſter, namentlich um die Abendzeit, manchmal nur um einen 
Augenblick auf dem Hofe zu ſtehen und wenigſtens von weitem 


ес № 9 


842 Schuld und Sühne 


nach den Fenſtern des Saales, wo er lag, zu blicken. Eines 
Tages gegen Abend hatte Raſkolnikow, der nun ſchon faft ganz 
wiederhergeſtellt war, ein wenig geſchlummert; als er erwachte, 
trat er zufällig an das Fenſter und erblickte plotzlich in einiger 
Entfernung am Tore des Krankenhauſes Sofja. Sie ſtand da, 
wie wenn ſie auf etwas wartete. In dieſem Augenblicke hatte 
er eine Empfindung, als ob ihm jemand das Herz mit einem 
Schwerte durchbohre; er fuhr zuſammen und trat ſchnell vom 
Fenſter zuruͤck. Am naͤchſten Tage kam Sofja nicht, auch nicht 
an dem dann folgenden; er wurde ſich bewußt, daß er mit Un— 
ruhe auf ſie wartete. Endlich wurde er als geneſen aus dem 
Krankenhauſe entlaſſen. Als er in das Gefängnis kam, erfuhr 
er von den Straͤflingen, daß Sofja Semjonowna krank ge— 
worden ſei, zu Hauſe das Bett hüten muͤſſe und nicht ausgehen 
koͤnne. 

Er beunruhigte ſich darüber ſehr und ſchickte hin, um zu er— 
fahren, wie es ihr gehe. Bald erhielt er Nachricht, daß ihre 
Krankheit nicht gefaͤhrlich ſei. Als Sofja ihrerſeits hoͤrte, daß er 
ſich ſo nach ihr ſehne und ſich um ſie ſo viel Sorge mache, ſchickte 
ſie ihm einen mit Bleiſtift geſchriebenen Zettel und teilte ihm 
mit, es gehe ihr ſchon viel beſſer; fie habe nur eine leichte Er- 
kaͤltung und werde bald, ſehr bald, ihn an ſeiner Arbeitsſtaͤtte 
beſuchen. Als er dieſen Zettel las, ſchlug ihm das Herz ſo heftig, 
daß es ihn ſchmerzte. | 

Es war wieder ein heiterer, warmer Tag. Fruͤhmorgens, um 
ſechs Uhr, ging er zu ſeiner Arbeit an das Ufer des Fluſſes, wo 
in einem Schuppen ein Ofen zum Gipsbrennen eingerichtet war 
und der Gips auch geſtampft wurde. Es hatten ſich nur drei 
Arbeiter dorthin zu begeben. Einer von ihnen war mit dem 
Wachſoldaten noch einmal nach der Feſtung zuruͤckgegangen, 
um ein Werkzeug zu holen; der andere machte Holz zurecht und 


n 


Nachwort 843 


legte es in den Ofen. Raſkolnikow ging aus dem Schuppen 
hinaus bis dicht ans Ufer, ſetzte ſich auf die dort aufgeſtapelten 
Baumſtaͤmme und blickte uͤber den breiten, oͤden Fluß hin. Von 
dem hohen Ufer aus uͤberſah man weithin die Gegend. Kaum 
vernehmbar klang von dem fernen jenſeitigen Ufer ein Lied 
heruͤber. Dort in der unabſehbaren, vom Sonnenlicht uͤber— 
fluteten Steppe hoben ſich als kaum wahrnehmbare ſchwarze 
Pünktchen die Zelte von Nomaden ab. Dort wur das Land der 
Freiheit; dort wohnten andere Menſchen, ganz unaͤhnlich denen 
auf dem diesſeitigen Ufer; dort war gleichſam die Zeit ſelbſt 
ſtehen geblieben, als waͤre das Jahrhundert Abrahams und ſeiner 
Herden noch nicht voruͤber. Raſkolnikow ſaß da und ſah in die 
Ferne, ohne ſich zu ruͤhren und ohne ſich von dem Anblicke los— 
reißen zu koͤnnen. Sein Denken wurde zum Traͤumen, zum 
bloßen Schauen; er dachte an nichts mehr; aber eine Art von 
Sehnſucht beunruhigte und quaͤlte ihn. 

Auf einmal ſtand Sofja neben ihm. Sie war faſt unhoͤrbar 
herangekommen und ſetzte ſich nun zu ihm hin. Es war noch ſehr 
fruͤh am Tage; die Morgenkaͤlte war noch nicht milder geworden. 
Sie trug ihre alte, aͤrmliche Pelerine und das gruͤne Tuch. Ihr 
Geſicht zeigte noch die Spuren der uͤberſtandenen Krankheit; es 
war recht mager, blaß und kuͤmmerlich geworden. Sie laͤchelte 
ihm mit freundlicher, froher Miene zu; aber die Hand ſtreckte 
ſie ihm wie gewoͤhnlich nur ſchuͤchtern hin. 

Dies tat ſie immer nur ſchuͤchtern und mitunter gar nicht, als 
fuͤrchte ſie eine Zuruͤckweiſung. Denn er nahm ihre Hand immer 
wie mit innerem Widerſtreben, zeigte ſich bei ſolchen Begeg— 
nungen ſtets verdroſſen und ſchwieg manchmal hartnaͤckig waͤhrend 
der ganzen Zeit, wo Sofja bei ihm war. Es kam vor, daß ſie 
vor ihm geradezu zitterte und tiefbetruͤbt fortging. Jetzt aber 
trennten ſich die Haͤnde beider nicht; er warf ihr einen ſchnellen, 


844 Schuld und Suͤhne 


haſtigen Blick zu, ſprach kein Wort und richtete ſeine Augen auf 
die Erde. Sie waren allein; niemand ſah ſie. Der inzwiſchen 
zuruͤckgekehrte Wachſoldat hatte ſich gerade umgewandt. 

Wie es zuging, wußte er ſelbſt nicht; aber ploͤtzlich war es ihm, 
als ob ihn eine unwiderſtehliche Kraft packe und zu ihren Fuͤßen 
niederwuͤrfe. Er weinte und umſchlang ihre Knie. Im erſten 
Augenblick erſchrak ſie heftig, und ihr ganzes Geſicht wurde 
totenblaß. Sie ſprang auf und ſah ihn zitternd an. Aber ſofort, 
im ſelben Augenblicke, war ihr alles klar. In ihren Augen leuch— 
tete eine grenzenloſe Gluͤckſeligkeit auf; ſie hatte ihn verſtanden, 
und es gab nun fuͤr ſie keinen Zweifel mehr, daß er ſie liebe, ſie 
grenzenlos liebe und daß der langerſehnte Augenblick endlich 
gekommen ſei. 

Sie wollten ſprechen; aber ſie konnten es nicht. Die Traͤnen 
ſtanden ihnen beiden in den Augen. Beide waren ſie blaß und 
mager; aber auf dieſen blaſſen, kranken Geſichtern ſtrahlte ſchon 
die Morgenroͤte einer neuen Zukunft, einer voͤlligen Wieder— 
geburt zu neuem Leben. Die Liebe war es, die dieſe Wieder⸗ 
geburt gewirkt hatte; dem Herzen des einen entſprudelten un= 
erſchoͤpfliche Quellen des Lebens für das Herz des anderen. 

Sie beſchloſſen, zu warten und zu dulden. Sieben Jahre hatten 
ſie noch vor ſich und innerhalb dieſer Zeit wie viel bittere Qual 
und wie viel unendliches Gluͤck! Aber er war wiedergeboren, und 
er wußte das, fuͤhlte es im tiefſten Innern ſeines erneuerten 
Weſens, und ſie, ſie lebte ja nur ſein eigenes Leben mit! 

Am Abend ebendieſes Tages, als die Kaſernen bereits ge— 
ſchloſſen waren, lag Raſkolnikow auf der Pritſche und dachte an 
ſie. An dieſem Tage hatte er ſogar die Empfindung, als ob alle 
Straͤflinge, ſeine bisherigen Feinde, ihn nunmehr anders an— 
ſaͤhen. Er knuͤpfte ſelbſt mit ihnen ein Geſpraͤch an, und ſie ant⸗ 
worteten ihm freundlich. Dieſe Wandlung fiel ihm auf; aber 


Nachwort 845 


es mußte ja wohl ſo ſein: mußte ſich etwa jetzt nicht alles, alles 
aͤndern? f 

Er dachte an ſie. Er erinnerte ſich, wie er ſie beſtaͤndig ge— 
peinigt und ihr das Herz zerriſſen hatte; er erinnerte ſich ihres 
blaſſen, mageren Geſichtchens; aber dieſe Erinnerungen hatten 
jetzt für ihn faſt nichts Quaͤlendes: er wußte, mit wie grenzen: 
loſer Liebe er ihr jetzt alle ihre Leiden vergelten werde. 

Und was wollten auch alle, alle dieſe Qualen der Vergangen— 
heit beſagen! Alles, ſelbſt ſein Verbrechen, ſelbſt die Verurteilung 
und die Verſchickung zur Zwangsarbeit erſchien ihm jetzt in der 
erſten Glut der Empfindung nur wie ein aͤußerliches, ſeltſames 
Ereignis, ja, wie etwas, das gar nicht ihm ſelbſt zugeſtoßen ſei. 
Indeſſen war er an dieſem Abende nicht imſtande, lange und 
dauernd an etwas zu denken und ſeine Gedanken auf einen be— 
ſtimmten Gegenſtand zu konzentrieren; auch hätte er jetzt keine 
Denkaufgabe löfen koͤnnen; er konnte nur fühlen. An die Stelle 
des theoretiſchen Denkens war das wirkliche Leben getreten, und 
ganz neue Triebe begannen ſich in ſeiner Seele hindurchzu— 
arbeiten. 

Unter ſeinem Kopfkiſſen lag ein Neues Teſtament. Mechaniſch 
griff er danach. Dieſes Buch gehoͤrte ihr; es war das naͤmliche, 
aus dem ſie ihm uͤber die Auferweckung des Lazarus vorgeleſen 
hatte. Zu Beginn feines Straͤflingslebens hatte er gedacht, fie 
wuͤrde ihn beſtaͤndig mit der Religion quaͤlen, immer vom Evan— 
gelium zu reden anfangen und ihm Buͤcher aufdraͤngen. Aber 
zu ſeinem groͤßten Erſtaunen hatte ſie auch nicht ein einziges 
Mal davon geſprochen und ihm auch niemals das Neue Teſta— 
ment ange boten. Er ſelbſt hatte kurz vor ſeiner Krankheit ſie 
um dieſes Buch gebeten, und ſie hatte es ihm gebracht und 
ſchweigend gegeben. Bisher hatte er es uͤberhaupt noch nicht 


aufgeſchlagen. 


846 Schuld und Sühne 


Auch jetzt ſchlug er es nicht auf; aber es kam ihm ploͤtzlich der 
Gedanke: „Müffen ihre Überzeugungen jetzt nicht auch die тет 
gen fein? Wenigſtens ihre Empfindungen, ihre Beſtrebungen ...“ 

Auch ſie befand ſich dieſen ganzen Tag uͤber in großer Auf— 
regung; in der Nacht wurde ſie ſogar wieder krank. Aber ſie 
war fo glüdlich, und fie war es [о wider alles Erwarten geworden, 
daß ſie uͤber ihr Gluͤck ganz erſchrocken war. Sieben Jahre noch, 
nur noch ſieben Jahre! In der erſten Zeit ihres Gluͤckes dachten 
ſie beide in manchen Augenblicken an dieſe ſieben Jahre nur ſo, 
als ob es ſieben Tage waͤren. Er uͤberlegte nicht einmal, daß das 
neue Leben ihm doch nicht ganz umſonſt werde zuteil werden, 
daß er vielmehr einen hohen Preis dafuͤr entrichten, es mit einer 
großen zukuͤnftigen Tat werde bezahlen muͤſſen ... 

Aber hier beginnt bereits eine neue Geſchichte, die Geſchichte 
der allmaͤhlichen Erneuerung eines Menſchen, die Geſchichte 
feiner allmählichen Sinneswandlung, des allmaͤhlichen Über— 
ganges aus einer Welt in eine andere, des Bekanntwerdens mit 
einer neuen, ihm bis dahin voͤllig unbekannten Wirklichkeit. Das 
koͤnnte den Stoff zu einer neuen Erzaͤhlung liefern; — aber 
unſere jetzige Erzaͤhlung iſt zu Ende. 


— 


Übertragen von H. Roͤhl. 
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31.— 35. Tauſend. 
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Druck der Piererſchen Hof— 
buchdruckerei, Altenburg. 


Im Inſel⸗Verlag zu Leipzig 
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F. M. Doſtojewſki 


Saͤmtliche Romane und Novellen 
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Eingeleitet von Stefan Zweig 


Mit einem Portraͤt und einem Fakſimile 
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In Halbleinen und Halbpergament gebunden 


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